Bis zirka Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. hatte der Herrscher eines Reiches oft auch den Status eines Gottes. Der steile Aufstieg der Verwaltungsbeamten in Ägypten beispielsweise führte aber allmählich zu einer Machtumschichtung, wobei der Pharao vom einstigen Gottkönig zum Vertreter Gottes auf Erden wurde. Die Konnotation bleibt auch weiter aufrecht, wenn wir Gott in einem radikal/neu-konstruktivistischen Verständnis als den in der Innenwelt der Gesellschaft konstituierten, d.h. von da in eine Außenwelt projizierten „äußeren Beobachter“ definieren. Eine Instanz also, die alles überblicken kann und selbst unsichtbar bleibt. Die entsprechende Form einer gesellschaftlichen Praxis ist dafür das „panoptische Schema“, wie es Michel Foucault in seinem Buch Überwachen und Strafen als einen bestimmten Typ der Anordnung von Machtzentren und -kanälen zur Perfektionierung der Machtausübung analysiert hat.
Gott ist schlichtweg das Synonym für Macht und in dieser Bedeutung steht er auch am Anfang der Weltgesellschaft. Zumindest eine Person, die als höchste Vertretungsinstanz Gottes auch heute noch Geltung hat – der Papst. Am 3. Mai 1493, Christoph Kolumbus ist erst seit zirka drei Wochen von seiner ersten Entdeckungsfahrt nach Spanien zurückgekehrt, spricht Papst Alexander VI. in seiner Bulle „Inter cetera“ den Spaniern das Herrschaftsrecht über die neuentdeckte Welt im Westen zu. Der Papst ist ein Borgia, eine Familie also, von der nicht gerade Uneigennützigkeit überliefert ist. Dieser Disposition verdanken möglicherweise auch die Portugiesen das Herrschaftsrecht über Teile dieser Gebiete im Westen. Denn schon am nächsten Tag wird eine veränderte zweite „Inter cetera“ erlassen, in der auch die Ansprüche Portugals berücksichtigt sind. Es ist das erste überlieferte Papier, in dem sich Weiße vom quasi grünen Tisch aus Herrschaftsrechte über fremde Länder aushandeln. Nirgendwo findet sich das leiseste Anzeichen für Selbstzweifel, ob es nicht etwa ein Frevel an der Schöpfung Gottes sein könnte, über fremde Länder und Menschen verfügen zu wollen.
Das Schiedwerk des Papstes Alexander VI. begründete im Namen Gottes eine Tradition, die bis in unser 21. Jahrhundert weiter anhält. Im Laufe der Expansion der europäisch-antlantischen Gesellschaft – auch andere Staaten Europas erhoben in der Folge Ansprüche auf die Neuen Welten, egal ob im Westen, Süden oder Osten –, also im Zuge der überseeischen Kolonialisierung entbrannte ein Kampf aller gegen alle. In zahlreichen Kriegen entstanden Kolonialreiche, wurden Grenzziehungen vorgenommen, ohne die Lebensräume der dort lebenden Gemeinschaften im Hinblick auf ihre soziale, historische oder ethnische Zugehörigkeit zu berücksichtigen. Kurzum, „jahrhundertelang gehörte den Weißen fast die ganze Welt, den Farbigen so gut wie nichts“ (Paczensky 1979: 10). Die so genannten großen Probleme der Welt und das Weltwirtschaftssystem der heutigen Netzwerkgesellschaft mit all ihren Implikationen, all das ist nicht nur untrennbar mit Kolonialismus und Imperialismus verbunden, vielmehr laufen strukturelle Prozesse dieser Art unter neoliberalen Vorzeichen und mit entsprechenden Mitteln ungebremst weiter. Schon der Beginn der Expansion der europäisch-antlantischen Gesellschaft, also der Zeitraum von 1450 bis 1640, ist durch Eroberung, Ausbeutung und Genozid geprägt und wäre ohne Vernetzungsstrategien von Ressourcen nicht möglich gewesen.
Das Gold, das die Indianer im damaligen Mexiko lediglich zur Herstellung von Schmuck und Zierat verwendeten, bedeutete für die Konquistadoren nicht einfach Reichtum, vielmehr ging es ihnen um die Bedeutung des Goldes für Macht (vgl. Salentiny, 1980). „Die Leute, die so ungeheure Gefahren und Strapazen der langen Seereise überstanden hatten“, so ein Chronist, „wollten die große Chance ihres Lebens voll ausnutzen und möglichst viel Gold an sich raffen“ (vgl. Paczensky 1979: 89). Die Greuel, die sie dabei anrichteten, wurden schon sehr früh etwa durch den Dominikanerpater Bartholomäus de las Casas (1474 –1566) belegt.
Obwohl die Spanier zwischen 1503 und 1660 aus dem gesamten Kontinent 185 000 Kilogramm Gold und 16 Millionen Kilogramm Silber nach Europa brachten (vgl. Galeano 1981: 33), war der Eroberung der Neuen Welt für die spanische Krone kein nachhaltiger Erfolg beschieden. Die Patrone im fernen Land nahmen es mit der Zahlung der Steuern nicht so genau und waren mehr daran interessiert, dass die Abgaben etwa der Kleinbauern zuallererst in ihre Taschen flossen. Der Erlass „Encomienda“ der spanischen Königin Isabella aus dem Jahre 1542 – „Diese Encomienda (Empfehlung) war der erste Schritt kolonialer Ausbeutung und galt der Rekrutierung von Zwangsarbeitern“ (Weber 1982: 158) –, wurde 1784 vom spanischen Hof wieder aufgehoben und die Kirche wurde für die Steuereintreibung eingesetzt; mit verheerenden Folgen: die Machtposition der Kirche wuchs enorm und sie wurde zum größten Sklavenhalter und Großgrundbesitzer. Die spanische Krone dagegen war bald hoch verschuldet. Spanien wie auch Portugal wurden immer mehr zu Zwischenhändlern degradiert. Schon 1543 mussten 65% der gesamten königlichen Einnahmen zur Schuldenzahlung verwendet werden. Ende des 17. Jahrhunderts hat Spanien nur mehr 5% des Handels mit dem amerikanischen Kontinent betrieben. Etwa ein Drittel des Gesamtvolumens unterstand den Franzosen, gefolgt von den Holländern und Flamen mit einem Viertel, die Genuesen überwachten mehr als 20%, die Engländer 10% und der Rest blieb den Deutschen (Galeano 1981: 34f.). Bilanz des spanischen Kolonialgeschäfts: Da Spanien wie auch Portugal nicht zeitgleich mit den anderen europäischen Nationen den Anschluss an die industrielle Revolution schaffte, blieb die Bevölkerung arm. Einzig das Militär, die Aristokratie und die Kirche waren die Gewinner dieser Expansion.
„Die Hierarchie, die Aristokratie basiert darauf, der erste zu sein. Wie in den meisten Aristokratien wird Macht in Landbesitz gemessen. Der Handel selbst spielt keine Rolle. Es ging darum, wer über die Ressourcen verfügt, Anspruch auf die wertvollsten Grundstücke zu erheben – durch die Besetzung von Raum mittels Markenzeichen, den Aufbau eines allseits bekannten Namens, die Schaffung einer Identität.“ Das Zitat stammt von Michael Wolff aus seinem Buch Vom Überleben in der wilden Welt des Internet-Business, erschienen 2000. Und Wolff weiß aus eigener Erfahrung, wovon er berichtet. Er war einer der ersten Unternehmer im Netz. Seine von 1994 bis 1997 in New York ansässige Firma avancierte alsbald zu einem führenden Content-Provider, was enorm Risikokapital anzog. Seine „Burn Rate“ war beachtlich. Pro Monat wurden so eine halbe Million Dollar „verbrannt“. „Wir Leute aus der Internetindustrie“, so Wolff, „wollen, dass man das Beste von uns denkt. Optimismus ist unser Konto, Phantasie ist unser Produkt, Presseerklärungen sind unser guter Name.“ Wolff folgte der These von Louis Rosetto, dem Gründer von Wired, die da lautete, dass Technologie eine transparente und billige Ware werden würde. Durch Werbung, Marketing-Partnerschaften, Direktverkäufe und durch die Vervielfältigung von Inhalten, also Content, würden Umsätze erzielt werden. Dem entgegen standen aber zum Beispiel die Ansprüche der Wired-Fangemeinde, die die Freiheit des Zugangs zu Informationen forderte. Was immer, die Konsumenten waren nicht zu überzeugen, für Content zu bezahlen. Die Risikokapitalisten winkten schließlich ab und ließen Wolffs New Media LLC fallen. Fast zeitgleich mit dem Ende seiner Unternehmung wurde auch das Wired-Magazin an einen Verlagsgiganten verkauft. David Kuo bringt es auf den Punkt, wenn er in seinem Buch mit dem Titel Dot.bomb bekennt: „Wir sollten die Internetmasche durchziehen: Reingehen, die Welt verändern, reich werden und wieder rausgehen.“
Geert Lovink schreibt dazu in seinem Mega-Essay „Nach dem Dotcom-Crash: Der Internethype und die Kunst der Geldvernichtung“: „Die Dotcoms fielen ihrer eigenen Geschwindigkeitsreligion zum Opfer … Das Dogma des Hyperwachstums und der Trieb, die Herrschaft über den gerade erst entstehenden E-Commerce-Sektor zu erlangen, drängten die einfachsten Grundsätze ökonomischen Handelns in den Hintergrund … Die Dominanz des Risikokapitals über die Geschäftsmodelle der Dotcoms ist eine Wahrheit, die noch nicht widerlegt worden ist. Dotcoms waren von den Kapitalmärkten abhängig, nicht von ihrer Kundschaft“ (Lovink 2002: 49).
Alan M. Turing ist nicht nur der englische Mathematiker im Dienste des britischen Geheimdienstes, der zusammen mit seinen Mitarbeitern mit Hilfe einer elekromechanischen Maschine den Verschlüsselungscode der deutschen Wehrmacht geknackt hatte, er gilt auch als Vater der modernen Computerhardware. Seine Turing-Maschine (Turing, 1936) ist ein logisch-operationales Modell, das mehr als eine rein mathematisch-formalistische eine mechanische Berechnungsmethode darstellt. Die Turing-Maschine ist eine abstrakte Maschine, die nur in der Theorie existiert. Die Abfolge der internen Zustände bezieht sich nicht auf die Bewegung einer Apparatur, sondern lediglich auf Zeichenkonfigurationen. Mit dem Modell der Turing-Maschine ist die Stoffwechselmaschine als Übertragungsmechanismus zu einer Bewegung ohne Stoff geworden; denken Sie an die Schlüsseltechnik im späten 18. und 19. Jahrhundert zuvor – die Dampfmaschine. Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik, also der entropische Verlauf zum chaotischen Kollaps (Ende, Tod), hat mit der Turing-Maschine seinen Schrecken verloren. Im kommunikationstheoretischen Modell der Maschine wird das Problem des Wärmeverlusts zum „Rauschen“, das nachrichtentechnisch kalkulierbar wird.
Die Turing-Maschine nimmt als Voraussetzung der Kybernetik eine besondere Stellung ein. Die publizistische Grundsteinlegung der Kybernetik erfolgte im Sommer 1947 durch Norbert Wiener, der die neubegründete Disziplin als eine „Theorie der Kommunikation und der Steuerungs- und Regelungsvorgänge bei Maschinen und lebenden Organismen“ definierte (vgl. Wiener, 1992). Das kommunikationstheoretische Modell der Maschine von Wiener ist zwar wie das wärmetheoretische als geschlossenes rückgekoppeltes Regelsystem konzipiert, beruht aber nicht auf der Bewegung als Umwandlung der Wärme, sondern auf der Bewegung als Steuerung und Umwandlung von Zeichen. Schon im kybernetischen Maschinenmodell von Wiener kündigt sich soziale Wirklichkeitsproduktion via Informationsübertragung an. Hier findet sich bereits der Grundstein der heutigen Informationsindustrie. Denken Sie dabei nicht nur an die globalen Massenmediensysteme, sondern auch an Berechnungen etwa von Populations- und Umweltdaten, an Berechnungen im Zusammenhang von spieltheoretischen Modellen zur Prognose von allem nur möglichen, etwa von Börsenkursen oder an die heute virtualisierte und automatisierte Ökonomie insgesamt. Der Anspruch von Norbert Wiener, die Ingenieurs- und Humanwissenschaften in der Kybernetik zu vereinen, markiert – und das ist heute evident – eine technische wie philosphische Neuorientierung. Wiener und anderen Mitstreiter/innen dieser Forschungsrichtung ging es darum, nachrichtentechnische, psychologische, biologische und, wie das Aufkommen der Biowissenschaften in der Folge zeigt, auch medizinische Forschungsvorhaben zu vereinen.
Um zu Einsichten über unsere aktuelle Lebenswelt zu kommen, ist es unumgänglich, auch die Kategorien jenes Denkens bzw. jener Denkmodelle zu verstehen, die wesentlich – wenn auch nicht einzig – unsere heutige Welt mitgestaltet haben. Bei der Frage nach den aktuellen Denkmodellen müssen diese mindestens bis zur Kybernetik zurückverfolgt und ihre interdisziplinäre Weiterentwicklung in den Fokus gerückt werden, in der Ansätze aus der Regeltechnik, Mathematik, Neurobiologie, Biophysik, Psychologie und Soziologie integriert sind und in der Folge – so seit den frühen 60er-Jahren – in den Kognitionswissenschaften zusammengefasst wurden. Die diesen Disziplinen zugrunde liegenden Denkfiguren haben nicht nur unsere traditionellen Vorstellungen von Subjekt und Welt tiefgreifend erschüttert, sondern – und das möchte ich gegen jedwede pauschale Verurteilung hervorheben – auch Optionen mit dem Versprechen freigesetzt, den Entwicklungen der modernen, das heißt zugleich, der immer komplexer werdenden Gesellschaft in dem Maße zu begegnen, um ihre Probleme bewältigen zu können.
Turing war sein Leben lang davon besessen, Grenzen zu sprengen, das „Ver-rückte“ war sein Maß. Grenzen waren für ihn Teile, die nicht im Ganzen aufgehen wollen. Diesen Widerständen wollte er eine intelligente Maschine entgegensetzen. Vorrangig interessierten ihn dabei „verrückte Probleme“, wie etwa das Gödel-Theorem, das diese Maschine – so sein Traum – lösen würde. „Interplanetarische Reise“ nannte er die Theorie der embryonalen Zellteilung, an der er auch arbeitete. Für seinen Freitod im Juni 1954 gibt es eine Reihe von Gründen. Einer davon ist, dass nach einem Prozess 1952 seine Homosexualität aktenkundig wurde und er seitdem mit dem Stigma „emotional labil und erpressbar“ behaftet war. Als Geheimnisträger der britischen Regierung war er somit nicht weiter tragbar. Turing ist demnach auch ein Opfer des Kalten Krieges zwischen den Machtblöcken USA und UdSSR.
Auch ein anderer Heroe der Technik- und Wissenschaftsgeschichte, Norbert Wiener, hatte Zugang zu geheimen Informationen im militärisch-geheimdienstlichen Bereich. Er löste das Problem der Grenze mit dem Begriff der Koppelung. Wiener hat den Begriff 1948 mit seiner publizistischen Grundsteinlegung der Kybernetik eingeführt. Er ist ein Formalismus, der es möglich macht, bislang unvereinbare Ordnungen zu verbinden. Dieser Begriff hat seitdem mit der Kybernetik 2. Ordnung, der allgemeinen Systemtheorie oder dem Radikalen/Neuen Konstruktivismus enorm an Bedeutung dazugewonnen.
Ein anderer Mann, ein Ingenieur der US-amerikanischen Volkszählungsbehörde mit dem Namen Herman Hollerith, konstruierte eine Lochkartenmaschine, mit der der Zensus von 1890 innerhalb von zweieinhalb Jahren – anstatt der vorher notwendigen sieben bis acht Jahre – ausgezählt werden konnte. Diese neue Geschwindigkeit für Identifizierungsstrategien ist zugleich der Beginn für die Rationalisierung von Regierungstechniken. Hollerith gründete in der Folge seine eigene Firma, die 1924 in „International Business Machines“, also IBM, umbenannt wurde. Die darauf folgende Informatisierungsexpansion ist zugleich die Überleitung von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft. Die „Formen permanenter Kontrolle im offenen Milieu“, wie es Gilles Deleuze formulierte, wurden auch zur Errungenschaft der so genannten neoliberalen Revolution.
„Der Mathematiker Emil Post verband in den 30er-Jahren die Methode des Algorithmus mit der fordistischen Fließbandarbeit. Der Ausführende seines Algorithmus war nicht wie bei Alan Turing die Maschine, sondern ein Arbeiter. (…) Der Post’sche Arbeiter verrichtet dieselben Operationen wie Alan Turings Maschinenkopf. (…) Das Maschinenprogramm der Arbeit des Mathematikers Post ist der Maschinentraum von der Lückenlosigkeit von Befehl und Ausführung. Der Maschinentraum von einem Arbeitsautomaten, der die technokratische Lösung der Klassenfrage verspricht.“ (Reichert 1996: 141)
Beginnend mit Reaganomics und Thatcherismus wurden und werden mit den strategischen Instrumenten neoliberaler Wirtschaftspolitik unter der Losung „Freiheitskampf für das Kapital“ seit mehr als zwei Jahrzehnten die strukturellen Konfigurationen der Hegemonie weltweit neu formiert. Und das fraglos mit Gewaltanwendung. Eine herausragende Rolle spielen dabei die internationalen Wirtschaftsorganisationen: die Weltbank, der Internationale Währungsfond (IWF) und die Welthandelsorganisation (WTO). Die neue Internationale des Kapitals nimmt ganze Staaten in Geiselhaft. Sie droht etwa mit Kapitalflucht, um drastische Steuerabschläge sowie Unsummen von Subventionen zu erpressen oder erzwingt damit die kostenlose Nutzung der Infrastruktur. Gleichzeitig wird das Lohnniveau ihrer steuerzahlenden Beschäftigten kontinuierlich nach unten gedrückt. Über das Für und Wider eines Staates als Wirtschaftsstandort bestimmt auch die neue Internationale des Kapitals, etwa wenn sie Gewinne nur noch in Ländern mit niedrigem Steuersatz ausweist. Zur Finanzierung staatlicher Aufgaben fehlt dann dort zwar das Geld, aber da gibt es ohnehin das Allheilmittel der Privatisierung mit der verrückten Tendenz, sogar die Daseinsvorsorge der Menschen den Profitinteressen von Privaten auszusetzen.
Durch die Kontrolle über Kapital, Währung, Kredit, Banken und durch das Verschuldungsprinzip werden die Entwicklungsländer weiterhin in ständiger Abhängigkeit gehalten. Wenn ein Staat im Übermaß verschuldet ist, kommen die Finanzpolizisten des IWF und der Weltbank und verordnen ihm bestimmte Maßnahmen, wie rigorose Einsparungen, Löhne einfrieren, mehr Privatisierung, günstige Bedingungen für ausländische Investoren, Landeswährung abwerten usw. Ohne Einhaltung der Verordnungen bekommt das Land keine Kredite mehr. Aus der Netzwerkweltgesellschaft gibt es kein Entkommen. Alle Geschäfte laufen über die westlichen Währungen und es gilt nur das Recht derer, die die Macht über das Kapital und die Währung besitzen. Diese Übermacht des Kapitals ist ein gemeinsames Produkt von Kolonialismus und Industrialisierung, nämlich die Abänderung der Warenaustauschbedingungen von Ware gegen Ware über Ware-Geld-Ware zu Geld-Ware-Geld. Letzteres wird durch die Virtualisierung der Ökonomie noch gesteigert. Die Produktionsfaktoren Arbeitskraft, Kapital und Rohstoffe – die Trias, die lange Zeit als Garant für Kapitalvermehrung stand – hat ihre Verbindlichkeit längst verloren. Ein ungebremster Anarcho-Kapitalismus zwischen Off-shore und Derivatengeschäften macht es heute den superreichen Investmentfonds und Weltkonzernen möglich, ganze Nationalstaaten ökonomisch schachmatt zu setzen. Wir erleben jetzt die größten Kapitalkonzentrationen in der Geschichte der Menschheit. Schon heute verfügen die fünf reichsten Banken der Welt über mehr Vermögen als die Regierungsreserven der USA, Japans und Deutschlands zusammen (vgl. Martin, Schuhmann 1997). Nicht zuletzt informatische Maschinen-Netzwerke spielen dabei eine basal gewichtige Rolle. Die politischen Steuerungsmodelle der Wirtschaft in der Ära eines in gewisser Weise demokratisch gezähmten Kapitalismus, Modelle, wie sie sich etwa in Europa bis in die 70er-Jahre bewährt haben, also der Keynesianismus und der Monetarismus, wurden nicht zuletzt durch das digitale Kapital unterlaufen und sind unter den aktuellen Umständen tatsächlich unbrauchbar geworden. Nach den Reformen des sozialdemokratischen Jahrhunderts gibt es jetzt einen Backlash von historischer Dimension. Grenzen sind nur noch Teile, die nicht im Ganzen aufgehen wollen. Das Sprengen von Grenzen und die Koppelung hat bis heute einst ungeahnte Ausmaße erlangt.
Die Gotteskrieger der El Kaida führen keinen Freiheitskampf gegen Unterdrückung, sondern unisono mit den Gotteskriegern politisch rechter Denkungsart im Westen einen „Freiheitskampf für das Kapital“. Neoliberale Gotteskrieger verkörpern individuelle Flexibilisierung und Varianten von Terroristen, etwa als Börsenguerilla, als dot.com-Umstürzler oder als neoliberale Revolutionsgardisten, sprich: Politiker gegen Sozialstaat und Bürgerrechte. Alles, was Existenz beansprucht, ist strukturell gekoppelt an Markt und einen verdrehten Revolutionsbegriff. Das heißt dann beispielsweise neoliberale Revolution, digitale Revolution, die Biotech Revolution oder Revolution Business Marketing. Genau besehen ist das alles ein Pasticcio von Revolution. Es gibt dabei viele Vektoren einer einzigen Bewegung, beschleunigend und retardierend zugleich.
Ein frühmoderner Netzwerker, wie beispielsweise Baron von Schimmelmann, war nicht nur dänischer Schatzmeister, Minister und Plantagenbesitzer, sondern auch Fabrikant von Zucker, Kaffee, Schnaps und Gewehren; er war preußischer Heereslieferant (vgl. Datta 1985: 28f.). Darüber hinaus war er Großaktionär der Handelsgesellschaften. Seine Leistung bestand darin, durch Vernetzung dieser Ebenen den größtmöglichen Gewinn für sich zu verbuchen. Er transportierte Gewehre, Schnaps und Stoffe nach Afrika, kaufte mit dem Erlös Sklaven, die er nach Amerika verschiffte und verkaufte, und erstand mit diesem Geld wiederum Waren wie Zucker, Rum und Baumwolle, die er nach Europa brachte. Vorrangig durch seine gesellschaftliche Stellung konnte der Baron seine Finanzgeschäfte sehr gewinnbringend betreiben. Genannter Baron ist so gesehen ein früher Prototyp aller nachkommenden multinationalen Konzerne.
In knapp 19 Jahren seiner Kolonialgeschäfte, Schimmelmann verstarb 1782, wurden 15 Millionen schwarze Menschen als Sklaven in die USA verschifft. Zu der Frage, wie viele Menschen Afrika insgesamt durch den Sklavenhandel verloren hat, finden sich in der Fachliteratur Schätzungen zwischen 40 und 200 Millionen (vgl. Paczensky 1979: 165). Der afrikanische Kontinent verlor damit einen Großteil seiner arbeitsfähigen Menschen und damit seine Existenzgrundlage. Das Sklavengeschäft als Dreieckshandel zwischen Europa, Afrika und Amerika ist allerdings keine Erfindung des genannten Barons. Es war nur die Fortsetzung dessen, was „die spanischen und portugiesischen Kolonialherrn begonnen hatten (und) von den anderen europäischen Kolonialmächten … übernommen, verfeinert, systematisiert und sogar zum Prinzip erhoben“ wurde (Datta 1985: 22). Dieser Dreieckshandel hatte mit dem herkömmlichen Verständnis von Handel nichts mehr zu tun, weil er dem Diktat der europäischen Kolonialmächte unterlag. Nicht zuletzt wurde die Expansion der europäisch-antlantischen Gesellschaft auch durch die neuen Technologien im Schiffsbau ermöglicht, indem zum Beispiel die Vormachtstellung der arabischen Geschäftsleute auf den alten Handelsrouten zwischen Europa und dem Orient gebrochen wurde. Und die Entwicklung in der Waffentechnik tat ihr Weiteres – anstatt Geschäfte mit den fernen Ländern zu machen, wurden sie erobert.
Mit dem Dreiecksgeschäft entstand eine systematisierte Gewinnmaschine, wie sie zuvor in dieser Effizienz noch nie existiert hatte, und sie ist zugleich der Grundstein für die „Errungenschaft“ des heutigen Weltwirtschaftssystems. „Der Aufstieg des europäischen Kapitalismus führte daher … zur ungleichen Entwicklung und zu einer immer schärfer werdenden Zweiteilung der Welt, nämlich in entwickelte und unterentwickelte Länder …, in ausbeutende und ausgebeutete. Der Triumph des Kapitalismus gegen Ende des 18. Jahrhunderts besiegelte diese Entwicklung“ (Hobsbawm 1978: 221). Die bewusste De-Industrialisierung der Kolonien führte diese Politik konsequent weiter fort.
Genau besehen ist der Begriff Netzwerk ein Kind der modernen Weltgesellschaft. Im Rückblick auf das sogenannte „lange 16. Jh.“ treffen sich Historiker mit Soziologen, Kulturwissenschaftlern und anderen Personen, die auf eine kommunikationstheoretische Fundierung der Gesellschaftstheorie abstellen. Der Beginn der Weltgesellschaft ist demnach in der Epoche von 1450 bis 1640 anzusetzen, in der eines der Gesellschaftssysteme nicht mehr akzeptieren wollte, dass es neben ihm noch andere gibt und Kraft seiner Instrumente und Ressourcen „diese Nichtakzeptation in strukturelle Realität“ umformte (Stichweh 2000: 249). In diesem Zeitabschnitt bildete sich der beginnende Prozess der Expansion der europäisch-antlantischen Gesellschaft aus, der durch die Eroberung der Länder, teils vormalige Handelspartner wie etwa in Asien, durch Kolonialisierung, Ausbeutung und Genozid geprägt ist. Für die Weltgesellschaft ist also keineswegs der Wunsch Pate gestanden, dass Menschen über alle Barrieren hinweg im gegenseitigen Respekt zueinander finden mögen.
Unter einem systemtheoretischen Aspekt ist das so genannte ‚lange 16. Jh.‘ als Beginn der Weltgesellschaft ebenso schlüssig, weil da – knapp formuliert – Gesellschaft auf funktionale Differenzierung als das bestimmende Prinzip der Gesamtordnung umstellt. Und weltweit gibt es nichts, was sich außerhalb davon dauerhaft halten kann. Die funktionale Differenzierung ist die Primärdifferenzierung der Weltgesellschaft, die in jedem einzelnen Fall – Politik, Recht, Wirtschaft, Religion, Wissenschaft – ein Funktionssystem hervorbringt, das einen zugleich spezifischen und globalen Kommunikationszusammenhang realisiert.
Nicht zufällig steht am Beginn der Expansion des europäisch-antlantischen Gesellschaftssystems auch die Erfindung des Buchdrucks um 1445. Vier Jahrhunderte lang danach gab es ja keine kommunikationstechnische Erfindung von vergleichbarer Relevanz – erst wieder im 19. Jh. mit der Telegrafie und weiter mit dem Telefon bis zu computervermittelter Kommunikation im 20. Jahrhundert. Und es ist auch nicht weiter überraschend, wenn der Literaturwissenschaftler und versierte Theoretiker der frühneuzeitlichen Medienrevolution, Michael Giesecke, in seiner zuletzt erschienenen Publikation eine Fülle von Belegen erbringt, dass der gegenwärtige kulturelle Wandel, der in den neuen elektronischen Medien zum Ausdruck kommt, Prozesse technischer und kultureller Innovation wiederholt, wie sie zur Zeit Gutenbergs schon einmal stattgefunden haben (vgl. Giesecke, 2002). In die quasi selbe Kerbe schlägt auch Paulina Borsook, Autorin des Buches Cyberselfish, in dem sie Aufstieg und Fall von Silicon Valley beschreibt. Bei einer 2002 in Wien stattgefundenen Konferenz von Public Netbase (www.t0.or.at) zog sie sogar Parallelen zwischen unserer und der frühbyzantinischen Zeit, einem wahrlich dunklen Kapitel in der Geschichte: Altes Wissen ging verloren und wenig neues wurde geschaffen; überregional agierende Kleptokraten bereicherten sich; während die Reichen sehr viel reicher und die Armen immer ärmer wurden, plünderten Warlords und ihre Horden die Reste der Zivilisation. Borsook verglich die räuberischen Clans der byzantinischen Zeit mit dem transnationalen Business der Gegenwart. Microsoft, so meinte sie, entspricht der damaligen Einführung des Christentums als Staatsreligion. Sie sieht das Aufkommen einer beginnenden Post-Dotcom-Crash/ Post-9/11-Ära, eine fortschreitende Kolonialisierung der Infosphäre, nicht zuletzt im Internet durch die neue Internationale des Kapitals.
Von den Prozessen der Globalisierung profitieren heute aber nicht mehr nur multinationale Unternehmen (MNUs), sondern auch Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und andere zivilgesellschaftlich orientierte Gruppierungen, die gegen die Strategien des hegemonischen Machterhalts und -ausbaus eine kritische Öffentlichkeit mobilisieren. In diesem Sinne agieren auch diverse Usergemeinschaften, etwa medienkompetente Nutzergruppen, so genannte „nicht-vermachtete Akteure“ (vgl. Schmid 1997) – Stichwort: Netzkultur –, die soziotechnische Ensembles assoziierter heterogener Elemente bilden und erst als Netzwerkeffekte ihre Handlungsfähigkeit ausspielen. Protagonisten der Netzkultur, die aus der Blütezeit der Tactical Media der 90er-Jahre hervorgegangen sind, fordern, der Globalisierung „von oben“ eine Form der Globalisierung „von unten“ entgegenzusetzen.
Systemtheoretisch gesehen, werden Globalisierungsprozesse unterschieden in „globale Diffusion institutioneller Muster“ – nach Stichweh eine Fernwirkungstheorie, weil bei den Beobachtungs- und Vergleichsbeziehungen ein direkter Kontakt zwischen den einander Beobachtenden nicht erforderlich ist – und andererseits in „globale Interrelation“ oder auch ‚globale Vernetzung‘ – nach Stichweh eine Nahwirkungstheorie mit Korrespondenzen zu Netzwerktheorien, Systemtheorie aber auch zur Globalisierungstheorie von Anthony Gidden. In den Formen „globaler Interrelation/Vernetzung“ gewinnen die einzelnen kommunikativen Akte an Relevanz, indem sie als Netzwerk-tie, eingebettet in andere Netzwerk-ties verstanden werden. Globalität vollzieht sich hier lokal „durch die Vernetzung kommunikativer Ereignisse oder die Vernetzung von ties …, die eine lokale Fortpflanzung global wirksam werdender Wirkungen postuliert“ (Stichweh 2000: 257). „Eine small world“, meint Stichweh, „funktioniert vielleicht gerade deshalb als die effektive Infrastruktur globaler Interrelation, weil sie unter keinen Umständen in ein globales Interaktionssystem transformiert werden könnte“ (Stichweh 2000: 258). Unter Interaktionssystem wird hier Wechselseitigkeit der Wahrnehmung, „response presence“, verstanden (vgl. Goffmann, 1983; Luhmann, 1975). Und genau da liegen die Potentiale für eine Globalisierung ‚von unten‘, hier eröffnen sich Horizonte für „Digital Multitudes“, wie es Lovink und Schneider in Anspielung auf Empire von Negri und Hardt nennen.
Der Netzwerkbegriff steht für eine bestimmte Form der Strukturbildung in der Weltgesellschaft, in der Kommunikation aus Bedingungen räumlicher Nähe und interaktioneller Kopräsenz herausgelöst wird. Netzwerk ist heute demnach ein Dekontextualisierungsbegriff, der herkömmliche Begriffe für Phänomene mittlerer Reichweite, wie Gruppe oder Community, unter den veränderten Bedingungen der Virtualisierung des Sozialen ablöst.
*Erstabdruck in: Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Frankfurt a. Main 2005, S. 193- 202.
Literatur:
• Datta, Asit (1985): Welthandel und Welthunger, München.
• Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/Main.
• Galeano, Eduardo (1981): Die offenen Adern Lateinamerikas. Die Geschichte eines Kontinents von der Entdeckung bis zur Gegenwart, 9. Aufl., Wuppertal.
• Hobsbawm, Eric J. (1978): „Vom Feudalismus zum Kapitalismus“, in: P. Sweezy, M. Dobb, K. Takahashi, R. Hilton u.a., ders. Titel, Frankfurt/Main.
• Kuo, David (2001): Dot.Bomb. My Days and Nights at an Internet Goliath, London.
• Lovink, Geert (2002): „Nach dem Dotcom-Crash“, in: Lettre International, Heft 57, II/2002.
• Martin, Hans-Peter; Schuhmann, Harald (1997): Die Globalisierungsfalle, Reinbek bei Hamburg.
• Paczensky, Gert von (1979): Weiße Herrschaft. Eine Geschichte des Kolonialismus, Frankfurt/Main.
• Reichert, Ramón M. (1996): „Die Arbeitsmaschine. Dokumente zu Sozialtechnologie und Rationalisierung“, in: Brigitte Felderer (Hg.), Wunschmaschine – Welterfindung, Wien; Katalogbuch zur gleichnamigen Ausstellung.
• Salentiny, Ferdinand (1980): Santiago. Die Zerstörung Altamerikas, Frankfurt/Main.
• Schmid, Ulrich (1997): „Medien – Innovation – Demokratie: Zu den Entwicklungs- und Institutionalisierungsprozessen neuer Medien-Kulturen“, in: Barbara Becker/Michael Paetau (Hg.), Virtualisierung des Sozialen, Frankfurt/M, New York.
• Stichweh, Rudolf (2000): Die Weltgesellschaft. Soziologische Analysen, Frankfurt/Main.
• Weber, Hartwig (1982): Die Opfer des Kolumbus: 500 Jahre Gewalt und Hoffnung, Reinbek.
• Wiener, Norbert (1992, OA 1948, erweiterte Ausgabe 1961): Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien/New York/Moskau.
• Wolff, Michael (2000): Vom Überleben in der wilden Welt des Internet-Business, München.