Enlightenment
Is my tomorrow
It has no planes
Of sorrow
Sun Ra
Kaum hat der junge Herkules das Studium der Wissenschaften hinter sich gelassen, steht er am Scheideweg des Lebens. Eine bildschöne Frau, etwas stark geschminkt, aber wohlgenährt und von schwellender Fülle verspricht ihm die Befriedigung der geheimsten Wünsche, die größte Lust und den höchsten Genuss. Eine Nebenbuhlerin, tugendhaft gekleidet und mit ihren Reizen sittsam geizend, stellt ihm Mühe, Arbeit und Entbehrung, aber als Belohnung eine heldenhafte Karriere sowie den möglichen Eingang in den olympischen Götterhimmel in Aussicht. Herkules befragt das delphische Orakel und entscheidet sich für das endlose Genießen, für das ewige Leben und das unendliche Glück: er geht den Weg der Tugend. Um dies zu erreichen, schwört er allen verlockenden Liederlichkeiten ab und verpflichtet sich demütig König Eurystheus zu dienen, der ihm mehrere Aufgaben überträgt. Die zehnte Mission führt ihn Richtung Westen, wo er auf Gibraltar die Rinder des dreileibigen Riesen Geryoneus erbeutet. Als Zeichen seiner weitesten Reise errichtet er dort die nach ihm benannten Säulen, die das Ende der antiken Welt markieren. Nach Vollendung der abenteuerlichen Pflichten lässt sich Herkules mit seiner zweiten Frau Deianeira in Trachis nieder, wo durch ungewolltes Verschulden seiner Gemahlin eine verhängnisvolle Affäre ihren Ausgang nimmt. Aus Eifersucht hatte Herkules den Zentauren Nessos mit einem Giftpfeil niedergestreckt, der vor seinem Tod Deianeira ein Vermächtnis in Form seines aus der Wunde tretenden Blutes mitgab: Sie solle den roten Saft sammeln und bei passender Gelegenheit damit das Unterkleid ihres Geliebten färben. Dieser würde außer ihr niemals ein anderes Weib mehr lieben können. Als Herkules zu einem Feldzug aufbricht, nimmt das Unglück seinen Lauf. Unbemerkt bestreicht Deianeira das Unterkleid mit dem Blut, das sich während eines Stieropfers durch die Wolle frisst und die Genitalien des Herkules verätzt. Der Möglichkeit der sexuellen Reproduktion und des irdischen Lebens beraubt, beschließt Herkules den Qualen durch Selbstverbrennung zu entkommen. Blitze schlagen in den Scheiterhaufen und eine Wolke hebt ihn in den Olymp. Von Athene in den Kreis der Götter eingeführt, endet der Mythos mit der Ehelichung von Hebe, der Göttin der ewigen Jugend, die ihm unsterbliche Kinder gebiert.
Das mythische Adventure-Game, das Vorbild für den puritanischen Lebensstil beziehungsweise für den aufopfernden und unbedingten Willen zum höchsten Hedonismus im Jenseits sein könnte, beinhaltet ein zentrales Moment, das für die Erzählung der Moderne1 und das Projekt des Westens epochentypisch ist: Das Motiv der Potenz. Herkules strotzt vor Energie, Talenten und Leistungen, die sich von der hybriden Mischung aus Gott und Mensch ableiten. Hätte Herkules nichts weiter getan als zu schwängern, zu plündern, zu morden und die Menschheit von mythischen Genmutationen zu befreien, hätte er sich von sterblichen Helden nicht unterschieden. Sein eigentliches Vermögen liegt in der operativen Einheit von Dienen und Herrschen, die ihm die Apotheose seiner selbst durch die Transformation des physisch Körperlichen in das ätherisch Göttliche offenbart. Erst nach der unglücklichen Kastration wird die Energie für die Sublimierung frei und das Orakel erfüllt sich. Seine Potenz zeigt sich nicht in willkürlicher Macht- und Kraftdemonstration – etwa wenn er cholerisch seinen Lehrer und seine Kinder tötet oder in einer Nacht die 50 Töchter des Königs Thespios schwängert –, sondern in der Konstanz der Entschlossenheit, die Möglichkeit in Notwendigkeit überzuführen. Als früher Konquistador einer Expansions- und Eroberungskultur ist Herkules nicht an einer reinen, philosophischen Potenz, am Universum der Möglichkeiten an sich interessiert. Er leidet nicht am Bartleby-Syndrom, ist kein Monsieur Teste oder Johan Nagel. Herkules arbeitet manisch an seiner eschatologischen Potenz. Er ist ekstatischer Stratege des Projektes Unsterblichkeit und Gottwerdung.
Im herkulischen Sinne heißt modern sein, eine Schlacht gegen die Natur, den Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik, gegen die Unordnung, das Chaos, das Altern und den Tod zu schlagen. Die Wahrscheinlichkeit der Natur steht der Unwahrscheinlichkeit der Kultur gegenüber, die es gilt, strategisch zu verteidigen, auszubauen und der Entropie zu entreißen. Natur gegen die Natur in Marsch zu setzen, um Zivilisation zu erobern, ist Wille und Ziel der herkulisch-technologischen Omnipotenz. Die Moderne erweist sich in ihrer Geschichte als akribische Explikation des Feindes Natur, als Zähmung und Nachbau ihrer Gesetze in Systemen, Programmen und Maschinen. Und wie es sich für ehrbare Feindschaft gebührt, steht der moderne Geist mit großem Interesse und Leidenschaft dem Natürlichen und so genannten Realen gegenüber. Natur und Kultur verbindet in der modernen Genese ein Bruderzwist, der heute in den „realsten“ und natürlichsten Kulturtechnologien – etwa der Gen-, Biotechnologie oder Teilchenphysik – zu einer inzestuösen Komplizenschaft auswächst. Diese Omnipotenz der ultimativen Macht über die Natur ist uns seit Hiroshima und Nagasaki als Furcht eingebrannt. An diesem Punkt stößt die Moderne an die herkulischen Säulen, die plus ultra, noch weiter, immer weiter und darüber hinaus verschoben und überschritten werden oder an denen – non plus ultra – über eine Umkehr entschieden wird.
Wer die Säulen des Herkules überschreitet und das Tabu der Abschreckung non plus ultra (nicht weiter) ignoriert, riskiert eine infelix transmigratio und begibt sich nach Huldebert von Lavardin in das „ferne Land der Unähnlichkeit mit Gott“. Gegen Westen zu segeln und das mare tenebrosum (Meer der Finsternis) zu befahren, hieß bis zu den Aufbrüchen der Neuzeit, Terrain des Teufels zu betreten und zu sterben. Atlantische Seefahrten waren in Antike und Mittelalter Buß- und Irrfahrten, wie das Schicksal des heiligen Brendan mahnt oder wie Dante im achten Höllenkreis berichtet, wo Odysseus im Bann der curiositas (Neugierde) die Säulen durchschifft. Die Säulen verkörperten das Urmotiv des Faustischen, denn nur wer die Grenze respektiert, die Neugierde zügelt und nicht nach dem Unbekannten schielt, dem ist das Seelenheil garantiert; allen anderen droht Verderben. Sie fungierten als Disziplinierungsmaßnahme und markierten eine drohende Exklusion, bei deren Überschreitung man Namen und Identität der alten Kultur verlor, zur Persona non grata wurde und Schutz, Erfahrung und Tradition zusammen mit der Seele gleichsam als Zoll zu entrichten hatte. Den Bann zu durchbrechen, war die Herausforderung für Teufelskerle, die alle Hoffnung fahren gelassen und nichts zu verlieren hatten. Jenseits der Säulen wartete das Phantastische und Utopische, wie die Wahre Geschichte des spätgriechischen Klassikers Lukian von Samosata (2. Jh. n. Chr.) schildert. Sie beginnt mit der Einschiffung bei den Säulen und setzt sich nach achtzigtägiger Irrfahrt auf sturmgepeitschter See in den Weiten des Weltraums mit interplanetarischen Schlachten fort. Bis heute stellen die Säulen das archetypische Element für moderne Weltraumutopien und Science-Fiction-Abenteuer dar, in denen sie sich als Stargates und schwarze Löcher aktualisieren.
Erst in der Neuzeit und frühen Globalisierungsmoderne vollzieht sich der radikale Wandel des warnenden Verbotes non plus ultra in den programmatischen Aufruf plus ultra. Das Tabu wird zur Herausforderung für die Futurisierung von Geschichte und Gegenwart und übersetzt sich in der konsequenten Überführung des Imaginären und Neuen in Realpolitik. Bei Karl V. wird plus ultra zu einer imperialen Herrschaftsgeste und veranschaulicht ein verändertes Selbstverständnis, mit dem der moderne Habitus in See sticht und seinen Siegeszug antritt.2 plus ultra steht in der Phase seiner dynastischen Bedeutung für eine Raum- und Expansionspolitik, die sich über nautische Routinen, Landnahmen und verbesserte Techniken der Kartographierung neue Operationsfelder erschließt. Georg Simmels „räumliches Apriori jeder Vergesellschaftung“, Oswald Spenglers „Raum als Ursymbol der Kultur“ oder Michel Foucaults Zeitalter der „Raumphilosophie“ akkumulieren sich in dieser kurzen Phrase plus ultra. Ein neuer Weltgeist setzt sich in Szene, der alle Produktivkräfte auf ein unbeirrbares Vorwärts, eine unumkehrbare Expansion und ein endloses Wachstum einschwört. Politik, Ökonomie, Wissenschaft und Technologie werden zu Medien für das Übertreffen selbstgesteckter Ziele, um dem imperialen Expansionstopos zu dienen, der alles seinen Wertvorstellungen unterwirft. Was darin keinen Platz findet, wird zu einem „primitiven“ Rest marginalisiert und heute als „clash of civilizations“ diskutiert.3 Mit plus ultra startet das eigentliche Projekt des Westens, das mit der Ausdehnung und Überschreitung gegebener Grenzen die Futurisierung des staatlichen, unternehmerischen und epistemischen Handelns vorantreibt und eine universelle Risikokultur etabliert, die über archaische Wagnisse weit hinausgeht. Die Abenteuer beschränken sich nicht auf Expeditionen an fremde Orte, Eroberungen und Kolonialisierungen, sondern beziehen vor allem Kapitalreisen und die spekulative Leidenschaft eines telepekuniären Dabeiseins ohne dabei zu sein mit ein. Das plus ultra der Ökonomie baute Karl V. auf flämische, Augsburger und Genueser Bankhäuser auf, mit deren Krediten er sein überseeisches Imperium finanzierte. Mit der neuzeitlichen Expansion laufen Schiffe als schwimmende Kredite aus und kehren mit Zinsen beladen in die Heimathäfen zurück: Money makes the world go around. Seefahrt ist ein riskantes Geschäft, das mit hohen Gewinnen lockt und mit der das Zeitalter der Global Players beginnt. Risikobereitschaft und Kreditwilligkeit bereiten das Spielfeld für ein Monopoly, das mit der Not wachsender Schuldenstände immer mehr und immer noch mehr erfinderisch und unternehmerisch macht.4 Dem neuen Raumparadigma folgt ein neues Wirtschaftsparadigma samt neuem Unternehmertyp, der auf Derivate setzt, indem er in das Neue und Unbekannte investiert, ohne genau zu wissen, welche Ressourcen oder Waren zu erbeuten sind. Der Zinsdruck wiederum bedingt einen Innovationsdruck, wodurch sich zum plus ultra der Expansionspolitik – mehr Land! – und dem plus ultra des Risikoinvestments – mehr Kapital! – das plus ultra der Wissenschaft – mehr Erkenntnis! – gesellt.
Die Vorstellung über, die Säulen des Herkules hinauszusegeln, versinnbildlicht für die seefahrenden Konquistadoren und aufklärerischen Philosophen der Neuzeit den Aufbruch in neue Welten, exotische Kolonien und unbekannte Wissensräume. Mit der Erweiterung politischer und ökonomischer Machtverhältnisse wird Wissen zur begehrten Ressource. Nautische und geographische Erkenntnisse in Form von See- und Landkarten wurden wie Staatsgeheimnisse behütet und ihr Verrat wurde etwa von der portugiesischen Krone mit dem Tod bestraft. Für den englischen Philosophen und Paradeaufklärer Francis Bacon, der die Säulen des Herkules als Titelkupfer seinen Büchern voranstellte,5 symbolisierten die mit Gütern und Informationen aller Art heimkehrenden Schiffe in der heutigen Bedeutung von Wissens-Agenten eine neue Epoche oder besser ein neues Wissenschaftsparadigma, das durch einen unzähmbaren Fortschritts- und Erkenntnistrieb, durch eine emphatische Technologie- und Zukunftsgläubigkeit geprägt war. Die Durchschiffung der Grenzen der alten Welt und die Reisen nach Übersee gingen mit einer Ausweitung des Fundus an Daten einher, der die neuzeitlichen Forscher in die Lage versetzte, die alte Ordnung zu übertreffen. Seinem 1620 erschienenen Novum Organum, dem zentralen Hauptwerk der unvollendeten Instauratio Magna, der großen Erneuerung der Wissenschaften, setzte Bacon in dem erwähnten Titelkupfer den Sinnspruch „multi pertransibunt & augebitur scientia“ voran. Die Doppeldeutigkeit des Mottos ist Programm, denn im Sinne von „viele werden sie (die Grenze) überschreiten und die Wissenschaft wird dabei wachsen, befruchtet, verherrlicht werden“ bezieht sich die Inschrift auf die Säulen; im Sinne von „viele werden es durcharbeiten und die Wissenschaft wird groß sein“ verweist sie auf die dickbäuchigen Koggen, die neues Wissen importieren. Den Ekstasen der Politik und Landnahmen und den Ekstasen der Ökonomie und des Kapitals lässt Bacon nun die Ekstasen der Empirie und Epistemologie folgen. Damit wird eine Symmetrie der Eroberung und Weltnahme in Form des in die Welt aufbrechenden Konquistadoren, Entdeckers oder Missionars einerseits und des zu Hause bleibenden Börsianers und Laboranten andererseits bestimmt.6 Liegt für die zu Hause bleibenden Telearbeiter in der Rückkunft die Zukunft, zählt für die Ersten nur die Überwindung des Ursprungs, wie eine Anekdote über Vasco da Gama illustriert: Während einer aufkommenden Meuterei vor der ostafrikanischen Küste wirft da Gama die Kompasse, Karten und Messgeräte ins Meer, um alle Gedanken an Umkehr zu zerstreuen. Im Unterschied zum Touristen reist der Entdecker in die Fremde, um dort anzukommen und nicht, um aus der Ferne erholt heimzukehren. Darin liegt der Unterschied zwischen dem Entdecker James Cook und dem Touristiker Thomas Cook.
Im Zuge der Seefahrt stand das Neue hoch im Kurs und unterzog Traditionen und alte Dogmen einer Prüfung und Korrektur. Während des 15. und 16. Jahrhunderts verlor das Neue seinen negativen Beigeschmack und wurde zu einer Art Empfehlung oder Etikette, die sich in Buchtiteln wie Johannes Keplers Astronomia nova oder Amerigo Vespuccis Begriffsbildung novus mundus ebenso findet wie heute als Qualitäts- und Kaufargument auf Produkten und Waren aller Art. Das Recht auf Befriedigung wissenschaftlicher curiositas sollte die Freiheit der Forschung und Lehre durch ungehemmte Stillung des Erkenntnistriebes garantieren und eine permanente Skepsis gegenüber erreichten Erkenntniszielen einleiten, womit Wissenschaft zur kulturellen Form der stetigen Kritik ihrer Resultate wurde. Seitdem orientiert sich die Kultur des Westens nicht an Überlieferungen, sondern desorientiert oder okzidentiert sich an Unbekanntem und Neuem. War das Denken die Jahrhunderte zuvor an den Errungenschaften etablierten und tradierten Wissens gebunden, nimmt mit dem Aufbruch in die Neue Welt eine Kritik gegenüber allem Alten und ein Interesse für alles Neue seinen Ausgang. Die Gier nach Neuem schafft eine Phobie des Gestern, weshalb sich in der Neuzeit die Ruhelosigkeit der Weltneugierde von einer Untugend zum maßgeblichen Wert wandelt.7 Es entstand ein weltanschaulicher Relativismus, den Bacon mit dem Satz „die Wahrheit ist eine Tochter der Zeit“ auf den Punkt brachte. Da nach Bacon der göttliche Weltcode von Grund auf gut ist, darf der Mensch alles, auch die Schöpfung manipulieren, wodurch die „Relegion“, das Lesen, Scannen und Recodieren zur neuen Religion wurde. Die Vernunft rangierte erstmals vor der Tradition und das Recht auf Religionsfreiheit bedeutete ab nun auch eine Freiheit von Religion. Das göttliche Buch der Natur wurde enttabuisiert und den Gesetzen der Ratio unterstellt. Das Aufschlagen neuer und das Lektorat alter Seiten erfuhr seine Legitimierung, was heute in der Gen- und Nanotechnologie, der Kern- und Quantenphysik seine Umsetzung erfährt.
Der Blick in den Westen endete nicht mehr an den Säulen des Herkules, stattdessen wurde ein neuer Herkules-Mythos projektiert. Der Mythos wurde technisch und ließ den transzendenten Blick aus der Vertikalen des himmlischen Jenseits in die Horizontale der Analyse und Immanenz kippen. Mit dem Westkurs begann die Emanzipation des Abendlandes gegenüber der metaphysischen Orientierung und diese „Desorientierung“ als Wende zur Verwestlichung unterzog die Welt einer neuen geistigen Ordnung und Kartographie. plus ultra wurde zur Perspektive der Wissenschaft auf der Suche nach den probaten Mitteln zur Überwindung aller entropischen Übel mit dem begehrlichen Finale eines paradiesischen Jenseits im Diesseits.
In der utopischen Erzählung Nova Atlantis entwirft Bacon an der Grenze zwischen Literatur und Philosophie ein neues Modell einer Wissensgesellschaft. Wie das versunkene Atlantis, das nach Platon (Timaios, 24e – 25d) vor den Säulen des Herkules lag, befindet sich Bacons Neu-Atlantis beziehungsweise die von ihren Einwohnern Bensalem genannte Insel irgendwo abseits des Seeweges von Peru nach China und Japan. Ein europäisches Schiff verschlägt es auf das Eiland, wo eine Gesellschafts- und Kulturform existiert, die im Sinne der aufklärerischen Neuzeit die Vision einer planbaren und durch wissenschaftlichen Fortschritt verbesserbaren Welt vertritt. Aus Wissenschaft, Technik und Politik resultiert ein kooperatives Unternehmen, das sich der Optimierung von Zukunft verschrieben hat. Im Zentrum von Neu-Atlantis steht ein Institut, das „Haus Salomons“, mit so genannten „Lichthändlern“ (Beobachtern, Experimentatoren, Verfassern, Dolmetschern etc.), die das von den „Lichtkäufern“ mitgebrachte Wissen auswerten und verwalten. Den Wissenschaften obliegt es dabei, die für die Gesellschaft besten Zielsetzungen zu selektieren und technisch zu realisieren.8 Fortschritt impliziert hier, neue Zustände gegenüber bestehenden zu fiktionalisieren und simulativ zu prüfen, wodurch Science-Fiction bei Bacon bereits zu einer gesellschaftspolitischen Kategorie geworden ist, die über die Entwicklung von Kultur entscheidet. Genau in diesem Zusammenhang sieht Bacon die scientia nova als Abgleich von Ist-Zuständen mit möglichen Soll-Zuständen. Zukunft wird kontingent und die Aufgabe der Wissenschaft ist es, aus der Kontingenz die bestmögliche Variante zu schälen. Der Mensch wird in ein operatives Verhältnis zur Geschichte der Zukunft gesetzt und der Fortschrittsgedanke, dass die Menschen Geschichte selbst in die Hand nehmen und letztendlich auch über ihr „natürliches“ Schicksal entscheiden und autoevolutiv werden können, ist geboren. Wissenschaft übernimmt die Aufgabe, Kategorien des Zukünftigen zu avancieren und läutet die Geburtsstunde der naturwissenschaftlichen Avantgarden ein, indem sich die Aufmerksamkeit nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft richtet und eine Unaktualität des Seins hervorbringt.
Auf Nova Atlantis vollzieht sich die „Gesellschaft der Werke der sechs Tage“. Menschen werden exemplarisch in die Lage versetzt, an ihrem Schicksal konstruktiv zu arbeiten und über Wissenschaft und Technologie einen Fortschritt zum Besseren und letztendlich zum Goldenen Zeitalter voranzutreiben. Auch wenn Bacon, um sich nicht dem Vorwurf der Hybris und Blasphemie auszusetzen, die Lehre von der doppelten Wahrheit – die Trennung religiöser und wissenschaftlicher Angelegenheiten – vertrat, wird ein paradiesisches Endschicksal der Menschen in der technologischen Wissensgesellschaft der Zukunft visioniert. Im 93. Aphorismus des Novum Organum fallen die göttliche Herkunft und das göttliche Ende der Wissenschaften mit der Entwicklung des Menschengeschlechts zusammen. Das Ende der Zeit wird mit der Perfektion der Wissenschaften erreicht, wodurch den Menschen ein göttlicher Status zu Teil wird: „Auch die Prophezeiung Daniels über die letzten Zeiten der Welt ist nicht zu überhören: ‚Viele werden vorübergehen, und von vielerlei Art wird die Wissenschaft sein.’ Sie deutet klar an und weist darauf hin, es sei von der Vorsehung beschlossen, daß die Durchwanderung der Welt, die nach so vielen langen Seereisen so gut wie erreicht oder wenigstens schon nahe bevorzustehen scheint, und die Vertiefung der Wissenschaften in dasselbe Zeitalter fallen.“9 Die zentrale Aussage der Stelle für den gesamten baconschen Entwurf unterstreicht das vorangestellte Titelkupfer, wo die Prophezeiung des Daniel zur Weissagung der Neuzeit wird.10 Religion und Wissenschaft hybridisieren sich und gründen ein einziges „sektiererisches“ Projekt: die Moderne. Die Eschatologie der Moderne heißt demnach, mittels technischer Medien den göttlichen Zustand der messianischen Endzeit zu erlangen oder herkulisch gesprochen, eine szientifische Apotheose in den Olymp der ewigen Jugend und des ewigen Lebens herbeizuführen.
Doch gibt es so etwas wie eine Eschatologie der Moderne? Glaubt die Moderne nicht vielmehr an den sukzessiven Fortschritt, an das endlose Wachstum, an die Entwicklung von Erkenntnis und Gesellschaft ohne Finale? Scheint die säkularisierte Moderne nicht ihre Entelechie zu nähren, indem sie jedes Telos immer weiter und noch weiter verschiebt? Verweigert sie nicht jede Exegese der Schöpfung, Geschichte oder Tradition, indem sie die Zukunft produktiv zu machen versucht? Oder ist sie zu weit gegangen, sodass sich die Zeit invertiert und nun als letzte Hoffnung die Jugend im Alter, das Zeitlose im Zeitlichen und der Anfang im Ende warten?
In jedem Fall stellt die baconsche Zukunft die Gegenwart des Westens dar. Das Ende der Geschichte, wie es von den Postmodernen ausführlich thematisiert wurde, ist jene Zeit, in der mehr Wissenschafter als in allen Epochen der Menschheitsgeschichte zusammen ihrer Arbeit nachgehen. Die salomonische Wissensgesellschaft schafft das Kapital des Weltwirtschaftshaushaltes, in dem Information zur ultimativen Rohstoffressource geworden ist. Vergleichbar mit Bacons Titelkupfer navigieren Cybernauten (griech. kyberne´tes = Steuermann) und „knowledge navigators“ durch Datenozeane und Informationsfluten. Internetgeographen und Genkartographen feiern ihre Konjunktur, um unbekannte Gebiete zu erkunden, zu kolonialisieren und markttechnisch produktiv zu machen. Das neu-atlantische Bensalem ist heute nicht mehr Utopie, sondern Atopie der westlichen Wertegemeinschaft. Christlicher Glaube, puritanische Arbeitsmoral, Eigenverantwortung, Kapitalismus, Vernunft und Technologie bilden bis heute den Baconismus des Westens, vor allem des Wilden Westens US-Amerikas.
Die postmoderne Philosophie, die mit der modernistischen Emsigkeit der Erneuerung, des Fortschritts und der unaufhaltsam sich verwirklichenden Rationalisierung bricht und von Agonie und Stillstand spricht, erzählt vom baconschen Paradies, das zur Hölle wird. War Bacons Moderne auf Neu-Atlantis die „Gesellschaft der Werke der sechs Tage“, datiert die Postmoderne den siebten Tag, um den achten nicht heraufdämmern zu lassen. Brach die Moderne mit der Vergangenheit, negiert die Postmoderne die Zukunft. Die Moderne wird seit der Postmoderne vermehrt als ein grenzverwindender Übertritt aus der Geschichte in die Nachgeschichte, als ein Übergang in eine Endzeit ohne Ende beschrieben. Das Motiv der Potenz wird zur Impotenz, denn Postmodernität wird zur Erfahrung moderner Kastration phallischer Linearität, bei der die Avantgarden ihrer Flucht nach vorn – fuite en avant – Einhalt gebieten und diese in eine neue Dimension umlenken müssen. Das Verhältnis zwischen Modernität und Postmodernität stellt sich als topologischer Wandel dar, bei der das Narrativ wechselt. Am auffälligsten wird dies am Beispiel der Umstellung von Subjekt auf System, von Nationalstaat auf global gouvernance, von Ordnung auf Komplexität, von Politik auf selbstregulierende Märkte. Diese fortschreitenden Transformationen sämtlicher Gesellschaftssysteme streben dem Klimax ihrer Autopoietisierung entgegen, wo alles in einer Naturalisierung der Kultur und einer Kulturalisierung der Natur mündet. Es ist keine neue Einsicht, dass sich die Moderne nicht zu Ende, sondern nur weiter und immer weiter erzählen lässt. Nun entsteht aber über die Befindlichkeit der individuellen Erzähler der Eindruck, dass sich die Geschichte scheinbar selbst erzählt und dies signalisiert aus deren Sicht einen erschreckend vormodernen, mythischen Zustand. Am Ende des Herkulesprojektes der Moderne und ihren entgleisten Antagonismen aus Reinigungs- und Resyntheseaktionen wartet der Scheiterhaufen, der entweder – die endgültige Demontage des Subjekts durch die liberalisierte Ökonomie und entfesselte Technologie inkludierend – einen Emergenzsprung in den (luhmannschen) Götterolymp oder einen Rückfall ins Irrationale, Archaische, Oligarchische beziehungsweise in all das typisch Unmoderne in Aussicht stellt. Zum Herkules werden bedeutet, das Menschliche abzustreifen und der ehemals göttlichen, jetzt systemischen Präzision überzuführen.
Was bleibt ist ein Leben ohne geschichtlichen und räumlichen Kontext, ohne Zeit und Ort, in dem Geschichten und Geschichte durch Nachrichten und „News“ ersetzt werden. Dieser Zustand des endlosen Online-Momentes bildet den Stream medialer Erinnerung, den Proust oder Musil, lange bevor er zur „massen-individuellen“ Befindlichkeit geworden ist, literarisch auf jeweils ihre Art antizipierten. Der Globus als Dynamo des Fortschritts dreht sich zwar immer schneller, aber das plus ultra von Raum und Zeit verwindet sich im Non plus ultra. Das Narrativ der Moderne, das im Sinne Bacons im Nonplusultra der messianischen Endzeit mündet und das Narrativ der (philosophischen) Postmoderne, das – non plus ultra – nicht weiter und immer weiter den Fortschritt erzählen will, bilden die zwei Seiten „des Groschens, der gefallen ist“: Sie teilen ein sy´mbolon. Am Ende steht das Menschliche auf dem Spiel, das sich entweder – vom Humanismus zum Homunkulus – in die Maschine verabschiedet oder zum Tier wird.
Wenn Giorgio Agamben in seinen Überlegungen zur tierischen Endzeit von einer Darstellung des eschatologischen Banketts ausgeht, das die auserwählten Gerechten mit Tierköpfen zeigt, so impliziert „die Vollendung der Geschichte notwendigerweise das Ende des Menschen und die Verwandlung des Gelehrtenantlitzes in ein animalisches Gesicht, das zum Ende der Zeit mit Genugtuung diesem Ende zuschaut“.12 Agamben fragt nach dem Hiatus zwischen dem Animalischen und dem Menschlichen, um aus der eschatologisch-endzeitlichen Leere des Posthistorischen – was bleibt nach der Geschichte, nach der Sprache, der Wissenschaft und Philosophie vom Menschen? – eine radikale Kontingenz zu schälen, die jenseits von Moderne und Postmoderne angesiedelt ist. Den Hegelianer (und Stalinisten) Alexandre Kojève zitierend führt Agamben aus, dass „der American way of life die der posthistorischen Periode eigene Lebensweise (ist und daß) die gegenwärtige Präsenz der Vereinigten Staaten in der Welt die künftige ‚ewige Gegenwart’ der ganzen Humanität symbolisiert“. „Die Rückkehr des Menschen zur Animalität erscheint so nicht mehr als eine künftige Möglichkeit, sondern als eine schon gegenwärtige Gewißheit.“13 Diese Gewissheit der späten 1940er Jahre hat sich mit dem Fall der Mauer, dem Zusammenbruch des Kommunismus und dem Sieg des Liberalismus, Kapitalismus und der westlichen Demokratien vorerst bestätigt.
Doch fühlen wir uns am Ende der ideologischen Evolution demokratisch geborgen und suhlen wir uns schwerelos im Konsumismus? Trifft die Parole „glamour is the grammar“ ein globales Lebensgefühl im „Beautopia“14 oder versteckt sich dahinter nur eine euphemistische Ordnung kapitaler Ungerechtigkeit? Stehen nicht die im Jahr des Mauerfalls abgehaltenen ersten Konferenzen in Paris, London und Amsterdam über den globalen Zustand des Planeten symptomatisch für den Beginn einer neuen, wesentlich gewaltigeren Krise?
Endzeiten in einem sozial-utopistischen, ideologischen oder politischen Sinne finden entweder nicht statt oder werden auf irgendwann verschoben. Wie die Utopie ist das Ende ein Plan, die Geschichte zu unterbrechen oder ihr Finale zu besiegeln. In der utopischen und in der endzeitlichen Gesellschaft gibt es keinen Wandel, nur endlose Glückseligkeit oder endgültige Apokalypse. Der reitende Weltgeist Napoleon erklärte die politische Geschichte, der schreibende Weltgeist Hegel die Geistesgeschichte für beendet; Lyotard sprach vom Ende der großen Erzählungen, Fukuyama vom Ende der Ideologie, O’Brien vom Ende der Geographie usw. Das Ende ist eine endlose Geschichte mit vielen Namen im Nachspann, doch irgendwann ist der Film zu Ende und der Mensch braucht ein neues Medium des Überlebens; eine neue Geschichte mit einem neuen Anfang, welche die Identität rettet, aus der flutenden Kontingenz befreit und das Reale erträglich gestaltet.
Das endlose Ende ist der älteste Trick, das Trauma des Realen zu verdrängen. In ihm spiegelt sich nicht nur das Phantasma des plus ultra, welches das Non plus ultra unentwegt verschiebt, sondern vor allem die narzisstische Kränkung des eigenen Todes, das Non plus ultra der Existenz. Die Erkenntnis des eigenen Endes unterscheidet den Menschen vom Tier, weshalb sämtliche Symboltechniken auf die transzendentale Überwindung oder die mediale Substitution setzen: „Das animal symbolicum beherrscht die ihm genuin tödliche Wirklichkeit, indem es sie vertreten läßt; es sieht weg von dem, was ihm unheimlich ist, auf das, was ihm vertraut ist.“15 Der Einbruch des Realen in Form des Todes verlangt nach Ablenkung und Zerstreuung oder nach einem Alibi: Ich bin nicht tot, ich bin in einem anderen Film. Damit wären die Funktionen der Unterhaltungsmedien vom Hollywoodkino über TV-Soaps bis zu Computergames charakterisiert: Sie fungieren als psychosoziale Simulakren, als Rehabilitationszentren amputierter Idyllen oder als Trainingslager des Unheimlichen und Schrecklichen.
Ohne Jenseits der Medien und der Religion erscheint die Endlichkeit des Lebens ohne Sinn. Wenn an der Schwelle des Todes keine herkulischen Säulen als Tor zu einer besseren Welt warten, wird Sterben zum sinnlosen Ärgernis. Wer an das eschatologische Nonplusultra nicht glauben kann und an das ultimative Finale des Non plus ultra nicht glauben will, sucht es im Konservieren des plus ultra. Darin liegt das spezifisch Paradoxe des momentanen Aggregatzustandes der Moderne, in dem Materialisierungs- und Immaterialisierungsprozesse einer antagonistischen Logik folgen. Virtual Reality, Wellness oder das Streben der Biotechnologien nach Lebensverlängerung dürfen nicht ambivalent betrachtet werden, sondern müssen symmetrisch gefasst werden. Das Ersetzen und das Konservieren arbeiten sich gleichermaßen an der Endlichkeit ab, um ein plus ultra des Körpers und der Lebenszeit zu projektieren. Körperkult, Kosmetik, Fitness, Schönheitschirurgie, Gentechnik, die Sorge um die Gesundheit, Sport und digitale Allmachtsträume eines „uploading the mind“ werden im Zeitalter des unendlich vielfältigen Sinns, wo alles kontingent sinnlos erscheint, zum Religionsersatz. Sie vereint der Kampf gegen die eigene Endlichkeit, um den Körper zu überlisten und zu optimieren. Der Körper als Transportvehikel des Subjekts soll zur Konserve umgestaltet werden, der möglichst lange den Geist in der Dose frisch und agil hält. Und aus dieser Büchse der Pandora entspringen die Hoffnungen und Monster des Post- und Transhumanen, welche die geriatrische Industrie der Zukunft vorzeichnen. Während sich die physischen Anstrengungen im Alltag und in der Arbeitswelt marginalisieren, transformieren Sport und Medizin den Körper zum ontologischen Garanten des hybermediatisierten Seins in der herkulischen Kultur. Der Körper wird zum Einzigen und Letzten, das Sinn macht, zum existentiellen plus ultra im Zustand des Nonplusultra.
Mit der Eroberung Amerikas translozierten die herkulischen Säulen über den Atlantik Richtung Westen, wo das plus ultra zum trail west und frontier spirit wurde. Pioniere und Siedler führten in der neuen Welt die Suche nach den geryoneusschen Rindern fort, die nicht nur in den Cowboys der Prärie, den Spacecowboys des Kosmos und den Cybercowboys der elektronischen Räume weiterlebt, sondern, wie es die gemeinsame Etymologie von cattle (Rinder) und capital (Kapital) nahe legt, in der Hausse der Märkte zum Ausdruck gelangt, die in Form des schnaubenden Bullen vor der Börse in der Wallstreet symbolisiert wird. Viele erhoffen bis heute das Goldene Zeitalter, aber nur wenigen gelingt es, in die spirituelle und wirtschaftliche Ökumene der neuen Heimat einzugehen. Für das System ist dies irrelevant, denn schon beim Goldrausch wurden wenige durch Nuggets belohnt und wenig hat dieser Reichtum unmittelbar zum gesellschaftlichen Wohlstand beigetragen. Entscheidender war der ausgelöste Boom, der zu einer Infrastruktur führte: Es wurden vergleichbar mit der heißen Phase des NASDAQ in den 1990er Jahren, wo Computer, Glasfaserkabel und Satelliten zur Organisation und Konsolidierung einer neuen Ökonomie beitrugen, Eisenbahnschienen verlegt, Petroleumlampen und Werkzeuge verkauft.
Nach Westen bewegt sich der Fortschritt der Menschheit, wie Thoreau gegen den Sonnenuntergang spazierend notierte, um sich „beseelt von Unternehmungsgeist und Abenteuerlust, gleichsam in die Zukunft zu begeben“. Der Atlantik entspricht dabei dem Fluss Lethe, denn „während seiner Überquerung haben wir Gelegenheit, die Alte Welt und ihre Institutionen zu vergessen“. Sich blind dem Schicksal anzuvertrauen, kennzeichnet für Thoreau die Westbewegung, für die er die goldenen Früchte der Hesperiden, auf deren Suche sich schon Herkules begab, und Columbus zitiert: „Atlantis und der Garten der Hesperiden, eine Art irdischen Paradieses, scheinen der Große Westen der alten Griechen gewesen zu sein (…).“ Und diesen „Drang nach Westen und die Konfrontation mit der Begrenzung durch den Atlantik“, die den „Handel und Wandel der modernen Zeit“ hervorbrachten, hat Columbus „stärker empfunden als irgendein anderer zuvor“.16
Die amerikanischen Siedler des 17. und 18. Jahrhunderts, die protestantische Werte und Moralvorstellungen in das unbekannte Land importierten, wollten allerdings nur bedingt und selektiv vergessen. Amerika war für sie eine tabula rasa, von der Ureinwohner oder Büffelherden gelöscht wurden, um die alte Idee des gelobten Landes umzusetzen. Amerikas Schicksal wurde, wie Tocqueville vermerkte, von Puritanern geprägt, die das Evangelium des Reichtums und das Gebot des Erfolges predigten. Individualismus und Privateigentum ermöglichten eine doppelte Freiheitserfahrung, indem die europäischen Restriktionen und Klassenideologien zurückgelassen wurden und jeder zum Eigentümer werden konnte, da es Land im Überfluss gab. Das auserwählte Volk Amerikas brauchte keine Ideologie, um sich zu einer Nation zu formen, es war und ist Ideologie. Auf Basis einer uneingeschränkten Naturbeherrschung sollte die Kultur des religiösen Neu-Kanaans entstehen und bis heute liegt das Charakteristische der USA in dieser Verbindung von Natur und Kultur durch Religion. Die Politik der Dinge und der Menschen sind dem großen Regime des Göttlichen unterstellt geblieben, wodurch das Plus ultra des Imperialen, Ökonomischen und Technischen ungebrochen dem ultimativen Ziel des Paradiesischen entgegenfiebern kann.
Dem Protestantismus und Baconismus entsprechend befinden sich Religion und Rationalismus in keinem Widerspruch. Ökonomie, Technologie und Religion verschmelzen zu einem plus ultra der Moral, Arbeit und Leistung. Das plus ultra als einfacher Trieb, der vergleichbar einem Virus sämtliche Medien und Produktivkräfte infiziert, hatte und hat es im Fieberzustand des American Dream leicht, sich beliebig zu reproduzieren. Wenn alles gleichzeitig universalistisch, ökonomisch und moralistisch ist, gibt es kein Immunsystem, das die pandemische Ausbreitung unterbinden könnte. Alleine könnte das plus ultra nicht existieren, es braucht Zellen und Körper und vor allem das Neue, um sich zu vermehren und zu mutieren. Das Plus-ultra-Virus schreibt sich in die Meme des Gesellschaftskörpers ein und wird zum Risikogen der westlichen Kultur, die ihren Schatten tilgt, indem sie ihm den Rücken kehrt.
Begann das plus ultra der Expansion und Unterwerfung mit der Annektierung, Ausbeutung und Kolonialisierung der Fremde, wurde im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts der Mensch selbst zum Fremden. Das Subjekt wurde zum Objekt der Wissenschaften und Ökonomie, das gemäß seiner Etymologie (subicere = unterwerfen) den neuen Maßstäben der quantifizierenden Vermessung unterzogen wurde. Die Seelen-, Körper- und Gengeographen dringen in den Menschen, in seine Psyche und seine Zellen vor. Die Säulen des Herkules werden zur Doppelhelix der DNS, deren Code kein nec plus ultra zu versperren vermag. War die Psychoanalyse das Werkzeug, „welches dem Ich die fortschreitende Eroberung des Es ermöglichen soll“,17 geht die Gentechnik darüber hinaus, indem das zur Information geronnene Es jedes Ich zu formen verspricht.
Das plus ultra macht beim Menschen, seinem Körper und seiner Psyche nicht halt. Die Säulen des Herkules können sich territorial nach der Globalisierung des Erdballs, der Tilgung aller weißen Flecken nirgendwohin verschieben, außer in den Mikrokosmos, in den Weltraum, in das Übernatürliche, in den Wahnsinn oder in den Cyberspace. Auch wenn die Annahmen zahlreicher vorkolumbianischer Amerikaentdeckungen – von den Wikingern Bjarne Herjulfson und Leif Erikson über friesische Schiffe und ihren Fahrten zu den neufundländischen Sandbänken, den venezianischen Brüdern Nicolo und Antonio Zeno bis zu den Seereisen der Basken, Japaner und Inder – berechtigt erscheinen, muss als das eigentliche Zeitalter des Globalisierungsprozesses die Epoche von 1492 bis 1945 verstanden werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Mondialität gegebenes Faktum einer postnationalen und gegenwärtig supranationalen Weltform. Das Darüber-Hinaus und Immer-Weiter kommt damit aber nicht zum Stillstand. Es nimmt lediglich neue Eigenschaften an und verlagert sich auf andere Ebenen. Das Herkulesprojekt öffnet bislang unbekannte Dimensionen und startet gleichsam auf einem höheren „game level“. Der Zug der amerikanischen Siedler, der an die Grenzen des Pazifiks gestoßen war und dort die Illusion des endlosen Raumes aufgeben musste, hat sich am kalifornischen „cutting edge“ zum Umzug in andere Weiten formiert. Nach 1945 schwindet der Unterschied zwischen Amerika und dem Rest der Welt. Amerika hat triumphiert und die siegreiche Welle umspült als American Way of Life den Globus. Der Expansionsdrang befindet sich seitdem im postglobalen Stadium, in dem neue Schiffe in virtuelle und kosmische Räume aufbrechen, die über ihre Namen Navigator und Explorer, Discovery und Columbia Geschichte beschwören. Aber die Reisen führen zu Sternen jenseits europäischer Transzendenz, nicht zu Gott oder Subjekt, sondern zur Maschinentechnik und zum Kapitalismus, die zusammen als letzte große Erzählung der Menschheit leuchten.
Die Verbindung von Natur und Kultur durch Religion scheint an diesem Punkt aufgehoben und säkularisiert. Moral wird zur nostalgischen Kategorie einer vergessenen Welt. Die Menschen sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich und wollen sie weiterhin Götter, müssen sie – non ora plus labora – weniger beten und mehr arbeiten. Was es nicht gibt, muss der Mensch erschaffen und dies trifft auf Götter insbesondere zu, die – deus ex machina – entweder im Labor gezüchtet werden oder für immer tote Bilder bleiben. Die Fragen, ob Technologien und Medien dem Menschen und seiner kulturellen Evolution dienen oder ob der Mensch als Zwischenwirt des Maschinischen fungiert, das heißt, ob er gegenüber der Maschine „antiquiert“ und regrediert (Günther Anders) und zum „Baukasten der Biophysik“ (Martin Heidegger) wird, spielen keine Rolle. Die dialektischen Bedingungen der Aufklärung weichen einer Menschen abgewandten Logik und mit ihr alle legitimen Fragen, die durch illegitime ersetzt werden, welche viel zu amoralisch sind, als dass sie von Menschen beantwortet werden könnten. Gäbe es ein Ende, hätte der Mythos seines erlangt.
Spätestens hier ist die Politik der Menschen erledigt. Die Deprivation durch die Übermacht der Systeme ist vollzogen, aber ein moralisches Veto ruft nach Unterbrechung der technokratischen Ordnung. Säkulare Ideologien und Institutionen können das Bedürfnis nach Glauben und Gemeinschaft nicht befriedigen, denn die Autopoiesis der Maschinen und Systeme ist ein schlechter Ersatz für die (moralische) Poesie der Menschen.
Globalisierung wurde und wird in der postmodernen Ära als Mediatisierung, Systemwerdung und Vernetzung erlebt, welche die Produktion des Gemeinsamen unterläuft und tendenziell die Ausdifferenzierungen und hierarchischen Spaltungen forciert. Die seit den 1960er Jahren eingeleiteten Pluralisierungen und Relativierungen der Moralvorstellungen und Grundwerte provozierten unübersichtliche Welthaltigkeiten, die den Hunger nach Sinn und Religion ab den 1980er Jahren wieder erstarken ließen. Die postmodernen Existenzweisen schufen keine Solidargemeinschaften, sondern Solitärgemeinschaften, deren verhängnisvoll-fruchtbarer Plural einen sozialen und psychischen Teilungsprozess einleitete.18 Was derzeit symptomatisch mit Parallelgesellschaft in Bezug auf islamische Lebensformen in Europa stellvertretend für ein viel grundlegenderes Phänomen diskutiert wird, ist nur ein Indiz für den Riss der Kulturen innerhalb der Kulturen.19 Den „clash of civilizations“, kulturell, rassisch, religiös oder geographisch zu beschreiben, versagt, da der Konflikt quer durch die zertrümmerten Identitäten multipler Monaden verläuft. Wenn Politiker Sätze prägen wie „fünfzig Jahre Komplexität sind genug“, sie ein Ende postmoderner Beliebigkeit und die absolute Wahrheit beschwören, rekurrieren sie auf eindimensionale Zuschreibungskonzepte mit dualistischen Denkmustern. Die „Krise der Demokratie“ liegt dieser Logik folgend in einem Zuviel an Demokratie, das die Souveränität des Staates gefährdet.20 Zusammen mit jenen sich ab den 1970er Jahren etablierenden postfordistisch- informationellen Produktionsverhältnissen, welche die rasante Zunahme an Mobilität, Flexibilisierung, Immaterialisierung, Wissen/Nichtwissen förderten, entstand eine demokratische Unruhe, der man einerseits mit neoliberalen und andererseits mit überkommenen nationalistischen Politiken entgegenzusteuern versucht. Beide vereinen sich in einer paradoxen Allianz, die nach außen supranational und nach innen nationalistisch agiert. Obgleich unter globalisierten Bedingungen herkömmliche Produktionsfaktoren wie etwa Land, Arbeit und Kapital radikal an Bedeutung verlieren und eine molekulare Vorstellung von Recht und Normsetzung Platz greift, wird die Krise des Nationalstaats, wie er sich im 19. Jahrhundert als territoriale Organisationsform gebildet hat, bei den Regierenden ausgeblendet. „Wir müssen erkennen, dass die gegenwärtige Geopolitik auf der Krise ihrer traditionellen Begriffe basiert“21, doch „die Krisis des Regierens ist bei den Regierenden noch nicht angekommen“.22 Der paradoxen Ordnung nach besteht zwischen Nationalstaat und Globalisierung kein Widerspruch, da die Entnationalisierung mit dem Ziel voranschreitet, an den globalen Machtstrukturen zu partizipieren, ohne innerstaatliche Interessen der Machterhaltung aufzugeben.23 Während öffentliche Belange wie Energie- und Trinkwasserversorgung oder der Zugang zu Wissen privatisiert werden, werden private Freiheitsrechte unter dem Vorzeichen der Sicherheitspolitik „veröffentlicht“. Demokratie als unvollendetes Projekt der Moderne gerät hier in einen postmodernen Ausnahmezustand, in dem vernetzte Formen globaler Gouvernanz ins Hintertreffen geraten gegenüber einer Politik, die auf Moral und dislozierten Krieg setzt.
Überwiegte bis Anfang der 1990er Jahre in den USA noch die Sorge um die Wirtschaft, beginnt das 21. Jahrhundert als Zeitalter der Religion. Anhänger religiöser Gruppen formieren sich zu fundamentalen Kräften, um Schlüsselstellungen im öffentlichen Leben einzunehmen. Moral und Religion werden zum Programm gegen den Verfall von Werten und setzen säkulare politische Modelle unter Druck. Symptomatisch dafür ist die Verwendung theologisch-dualistischer Begriffe, die bei Reagan „Reich des Bösen“, bei Bush „Achse des Bösen“ heißen und erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg in der US-Politik zum Einsatz kommen. Diese moralische Generalmobilmachung wird genutzt, um Demokratie abzubauen und Politik in eine Mischung aus Psychologie und biblischer Unterweisung zu transformieren. Die Einschwörung auf neue Feindbilder nach Ende des Kalten Krieges fährt nun eine zynische Ernte ein, die über Jahrzehnte hinweg in Form von Stellvertreterkriegen und in aller Welt unterstützten und ausgebildeten Terroristen bestellt wurde.24 Zusammen mit den Defiziten einer entglittenen neoliberalen Ökonomie ergibt sich ein Cocktail, der Menschen an göttliche Steuerungsregime appellieren lässt. Fundamentalismus stellt sich als Kampf zwischen Moderne und Postmoderne dar, an deren Reibungsflächen vergleichbar dem Glauben an das Übernatürliche „übermoderne“ Spannungen entstehen. Erklärungsmodelle, die für das wachsende Bedürfnis nach Moral und Religion alleine die Sehnsucht nach Respiritualisierung und Mystifikation innerhalb einer übersäkularisierten Gesellschaft heranziehen, vergessen auf die allerorten zu erfahrenden Effekte unbewältigter Kontingenz, sozialdarwinistischer Konkurrenz und sozialer Ungerechtigkeit. Da es an alternativen Identitäts- und Lebenskonzepten innerhalb der herrschenden Politik mangelt, sowohl republikanische als auch sozialistische Utopien ausgeträumt scheinen, werden Moral und Religion zum Allheilmittel.
Aber in welchem Jenseits liegt die Zukunft der Menschheit? Die herkulischen Säulen, die sich von Gibraltar nach Amerika verschoben haben, markieren den Aufbruch der Produktivkräfte weiter und immer weiter in jenseitige Dimensionen der Neuen Welt. Sie flankieren die Eingänge zu Laboren, medialen, politischen und wirtschaftlichen Kommandozentralen und neuerdings auch wieder zu Kirchen. Der „Streit um Werte“ ist ein Richtungsstreit, bei dem Navigationsrouten als Irrwege oder Heilswege auf dem Spiel stehen und immer öfter zwischen noch weiter oder nicht mehr weiter entschieden werden muss. Das „Plus“ und „Pro“ (das Profane, Progressive, der Probalismus, die Prodigalität usw.) stehen dem „Minus“ und „Re“ (der Respiritualisierung, Regression, dem Reduktionismus, Recycling, den Retrospielen usw.) gegenüber. An den Säulen des Herkules tobt der Kampf zwischen plus ultra und non plus ultra, der mitunter die Säulen selbst als Symbole des Westens und seines weltweiten Siegeszuges im Visier hat.
Als die „Säulen“ des World Trade Center, die für viele eine moderne Allegorie des Kapitals verbildlichten, attackiert wurden, stand ein imperialer Herkules und seine wirtschaftliche Hegemonie über die restliche Welt zur Disposition. Nach den Anschlägen verbinden wir 911 nicht länger mit einem Sportwagen, nicht mit Geschwindigkeit und Lifestyle, sondern mit 9/11, mit Wehmut und Schrecken. Die Stimmung ist auf null gesunken und Ground Zero ist zum Synonym für die Identitätskrise und „Nulltoleranz“ der westlichen Zivilisation geworden. Die Katastrophe bildet die Zäsur für den Kater der Neuen Ökonomie samt ihren gescheiterten Hoffnungen auf unbegrenztes Wachstum und schnellen Reichtum. In Medien und Politik, aber auch in Philosophie und Kunst feiert die alte Sehnsucht nach dem Realen, Notwendigen, nach Dogmen und Dualismen und damit verbunden die Forderung nach Abgrenzung und Sicherheit ihre Wiederauferstehung. Politiker, Manager und Künstler üben sich in Betroffenheit und fordern die Erstarkung von Moral in Form einer neuen ethischen Front. Das Ende der Spaßgesellschaft wird proklamiert, indem egoistische Selbstverwirklichung und hedonistische Vergnügungssucht einer neuen Genügsamkeit und Verantwortung zu weichen haben. Doch ist dieser Wunsch nicht Teil der Logik des Systems und affirmiert die hegemoniale Ordnung nicht dankbar jede Ablenkung und Störung, um die eigene Macht zu stabilisieren?
Selbstmordattentate sind verzweifelte Waffen innerhalb asymmetrischer Konflikte, die keine Trennung zwischen Bote und Botschaft kennen. Der brennende Körper ist das terroristische Äquivalent zu Fitnesskult und Schönheitschirurgie, der seinem Medium des Fleisches die Botschaft einbrennt: Die allmächtige Potenz des Souveräns ist begrenzt! Durch die Negation des Lebens soll die Macht über Leben und Tod der fremden Einflusssphäre entrissen werden. Der terroristische Körper ist ein zerfetztes sy´mbolon, dessen diabolische Splitter den Staatskörper septisch zu vergiften suchen. In Zeiten, in denen kein Staat mehr zu machen ist, sind dies die letzten flammenden Glaubensbekenntnisse an eine souveräne Staatlichkeit. Insofern verbindet Staat und Terrorismus eine politische Romantik sich wechselseitig bedingender intimer Konstituenten. Das Postmoderne dieser Kämpfe liegt allerdings in ihrer Atopie, denn die Politik gleicht sich unter globalen Bedingungen immer mehr der Ökologie an. Politische Einflussnahmen sind nicht lokal begrenzbar und gehorchen keiner mechanischen Kausalität. War das historische plus ultra der Motor einer geopolitischen Expansion des alten begrenzten Europas – einer finis terrae, die ihrer Enge entfliehen musste, indem sie die Grenzen verschob und in die Weite exportierte –, ist die geopolitische Gegenwart von einer Verflüssigung und Flexibilisierung der Grenzen geprägt. Die Frage, wo hört der Westen auf, ist falsch gestellt, denn er hat keine Außengrenze. Amerika ist die Welt und wie der globale Handel zum Binnenhandel der USA werden soll, werden gleichsam als Kollateralschäden globale Spannungen zu dislozierten Konflikten. Bereits im kolonialen England des 17. und 18. Jahrhunderts wurden die meuterischen Aufstände der Matrosen und Sklaven mit der vielköpfigen Hydra verglichen, gegen die Herkules anzukämpfen hatte. Während der souveräne imperiale Staat – der herkulische Leviathan – einen mächtigen Kopf hat, haben die Verzweifelten viele, die unentwegt nachwachsen. Wie die Grenzen haben sich die Widerstandsformen verflüssigt und nehmen vor einem gemeinsamen Hintergrund verschiedene Gestalt an, um unterschiedliche Ziele zu verfolgen. Al Quaida greift den imperialen Herkules an, um religiöse und moralische Autorität zu erlangen, wohingegen Globalisierungskritiker ihn in Frage stellen, um für eine demokratische Welt einzutreten. Die Bewegungen von Seattle, Genua und anderen nordamerikanischen und europäischen Städten sowie das Aufbegehren etwa in Argentinien, der Türkei oder Nigeria als Reaktion gegen die Politik des Internationalen Währungsfonds und der WTO haben mit Terrorismus nichts zu tun. Gemeinsam ist ihnen aber, dass die Peripherien in mediale und politische Zentren vordringen, um sich Gehör für ihre Anliegen zu verschaffen. So different ihre Taktiken, Geschichten und Ziele sind, so gemeinsam sind ihnen die modernen und postmodernen Narrative, die sich konfliktreich mischen und sich zum Symptom einer globalen Krise verdichten.
Doch welche Erzählweisen berichten welche Geschichten? Handelte es sich am 11. September 2001 um einen „clash of civilizations“ oder um eine entgleiste, hausgemachte Söldnerrevolte? Waren die Anschläge ein antimoderner, archaischer Akt oder ein fundamentalistischer Aufschrei der Moral, der nach einer neuen politischen und ökonomischen Kartographierung globaler Konditionen verlangte? Wurde damit das endgültige Scheitern von Aufklärung und Humanismus besiegelt? Hatte der apokalyptische Gedanke begonnen, den utopischen zu ersetzen? Oder war alles nur eine willkommene Abkühlung überhitzter Märkte, um mit neuem Elan kulturelle Fronten, ökonomische Einflusssphären und globale Strategien zu stärken?
All diese Mutmaßungen entspringen Narrativen, die Geschichten über Kulturen und Identitäten erzählen. Obgleich die Klärung von harten Fakten gegenüber weichen Fiktionen für jede Rechtsordnung und insbesondere für die Opfer unabdingbar ist, unterliegen kulturelle Sprech- und Erzählformen Unschärfen und Unbestimmtheiten, die auf komplexe Weisen hervorgebracht werden. Beschreibt man die Modernen als Narrative, die Gesellschaften und ihre Bedingungen des Zusammenlebens produzieren, wird Politik ebenfalls zu einer angewandten Erzähltechnik, die wiederum Mikronarrative sämtlicher Lebensbereiche zum Inhalt hat. Modernisten und Postmodernisten sind sich einig, dass mit den Geschichten, die wir erzählen, die soziale Kohäsion am Spiel steht. Während es für die einen nur die Alternative zwischen Souveränität und Anarchie gibt und sie auf Familie, Kirche und Vaterland setzen, projektieren die anderen einen interdependenten Subjekt- und Gesellschaftsbegriff, der mit hierarchischen Zuschreibungs- und Repräsentationskonzepten bricht. Deutlich wird dies unabhängig von den Inhalten anhand der Erzählformen und nicht zuletzt in der Haltung gegenüber Narrativen an sich, die bekanntlich in Moderne und Postmoderne fundamental differiert. Geschichten, die wir erzählen – von Kulturgeschichten über Medien- und Nachrichtengeschichten bis Lebens- und Sinngeschichten –, sind oft davon gekennzeichnet, dass wir andere Möglichkeiten, dieselbe Geschichte zu erzählen, ausblenden. Auch wenn die Einteilung in inkludierende und exkludierende Geschichten selbst eine vereinfachende Geschichte schildert, begreifen sich erstere als temporär, prozessual, vernetzend und gegenüber Widersprüchen affirmativ und adaptiv. Sie sind sich ihrer Modalität von Erzählung bewusst, beharren nicht auf Ewigkeit oder Wahrheit und erweisen sich gegenüber den Komplexitäten globalisierter Dynamiken offen. Sie entsprechen einem postmodernen Lebensstil und operieren viabel. Exkludierende Geschichten behaupten sich dagegen durch den monopolistischen Anspruch auf Wahrheit. Sie definieren sich über Einzigartigkeit bzw. mittels einer dualen Differenz gegenüber anderen Geschichten, besonders jenen, die im Widerspruch zu ihnen stehen. Sie fürchten Vermischungen und das Fremde, was als Bedrohung und Desaster empfunden wird. Sie setzen auf Verdrängung und bedürfen totalitärer Notfallprogramme, um das System der Geschichte vor dem Absturz zu bewahren. Im Gegensatz zu inkludierenden weichen Geschichten müssen sich exkludierende harte Geschichten gegen ein Außen wappnen und stets ein Disaster Recovery ihres Systems bereithalten. Diese Geschichten funktionieren auf Basis eines blinden Flecks, einer selektiven Verdrängung und operieren als Kontingenz reduzierende und stabilisierende Kulturprogramme. Sie dienen dem Zweck, jene über ihre Geschichte künstlich gestiftete Identität zu sichern und simplifizierende Orientierungshilfen bereitzustellen, wobei der Umstand des Erzählens der Geschichte unbewusst bleibt.25 In der Medizin gibt es hierfür den Begriff der Konfabulation, der bei der Krankheit Anosognosie (Uneinsichtigkeit) zur Anwendung kommt. Patienten blenden neuronale Schäden aus ihrem Bewusstsein aus, indem sie ihre Gebrechen (z. B. Lähmungen) aktiv verdrängen und darauf hin angesprochen eine Geschichte bzw. Konfabulation bereithalten, die dies scheinbar logisch und ohne willentliche Lüge erklärt. Da es neurowissenschaftlich nahe liegt, dass auch „gesunde“ Gehirne verdrängen, um über Konfabulationen ein Ich und eine Identität zu organisieren sowie ein homogenes Weltbild künstlich zu generieren, darf vielleicht auch der spekulative Analogieschluss auf die Makrostrukturen des Gesellschaftlichen gewagt werden. Die Uneinsichtigkeit harter Narrative, wie dualistische Ideologien und fundamentalistische Dogmen, die über die Moral oder die Vorstellung des Bösen operieren, nutzen Konfabulationen, um die Einheit gegenüber der Vielheit zu retten. Die Produktion des Gemeinsamen ist damit unterbunden und Politik pervertiert sich zur moralischen Mission der „Nulltoleranz“. Die Gefahr, die in harten Narrativen schlummert, liegt in der panischen Obsession, die gesellschaftliche Kontingenz, das heißt die Möglichkeit oder die Potenz einer offenen und frei gestaltbaren Zukunft in Geiselhaft nehmen zu wollen und sie zur Realisierung einer einzigen unausweichlichen Notwendigkeit zu zwingen. Das Netzwerk des Möglichen, Vorstellbaren und Offenen wird zerschlagen, um die Hierarchie der Werte zu festigen und eine Identität zu stärken.
In Zeiten, in denen sich statistisch alle fünf Jahre Daten und Informationen verdoppeln, vergrößert sich nicht nur Wissen, sondern auch Nichtwissen. Zukunft wird zum Risiko und mit der Zunahme der Unbestimmtheiten wachsen die künstlichen Ungeheuer des Technischen, Ökonomischen und Sozialen oder allgemein gesprochen des Biopolitischen. Wenn Zukunft immer schwerer berechenbar, quantifizierbar, formalisierbar oder prognostizierbar ist, potenzieren anosognostische Narrative ihre Gefahren. Statt Prophetie, Eschatologie und Apokalypse braucht es biopolitische Kontingenzforschung, damit die zum Rest marginalisierte Mehrheit nicht zum Kollateralschaden verblendeter Politik wird.
Mittlerweile dürfte klar geworden sein, dass es sich bei der Terrorkatastrophe im September 2001 weniger um einen Einbruch des Realen in unsere Bilderwelten als um ein zum Symbol gewordenes Symptom handelte. Die Türme des globalen Schachs wurden zwar matt gesetzt, indem König und Dame durch einen rigorosen Regelverstoß zu Fall gebracht wurden, aber der Kampf der Bauern auf den Straßen geht weiter. Politik als die Produktion des Gemeinsamen steckt in der Krise und was dabei auf dem Spiel steht, ist nichts Geringeres als Freiheit und Demokratie. Der viel zitierte „clash of civilizations“ erweist sich als Kampf zwischen Moderne und Postmoderne, bei dem sich das plus ultra und das Non plus ultra gegenüber stehen.
Wurde einst die Geburt der (architektonischen) Postmoderne von Charles Jencks mit der Sprengung der Prinzipien der Moderne in Form der Hochhaussiedlung Pruitt Igoe Anfang der 1970er Jahre in St. Lous eingeläutet, deutet momentan einiges darauf hin, dass 9/11 als Zäsurpunkt für das Ende derselben in die Geschichte eingehen könnte. Der Einteilung von Geschichte und Gegenwart in Epochen und historische Paradigmen fällt gewöhnlich die Aufgabe von Ordnung und Weltbild zu und wenn diese gestört oder zerstört sind, entsteht das Bedürfnis, Phänomene neu zu fassen. Die historische Gliederung kann dabei katastrophisch oder kontinuierlich erfolgen, wobei sowohl die Sprengung von Pruitt Igoe als auch des World Trade Centers unter symbolischer Katastrophe subsumierbar sind, welche die Kontinuität perpetuieren. Lyotard konstatierte, dass die Moderne konstitutiv mit ihrer Postmoderne schwanger geht und „diesbezüglich lässt sich beobachten, dass die Periodisierung der Geschichte von einer für die Moderne charakteristischen Obsession herrührt“.26 In Bezug auf die (philosophische) Postmoderne sprach er von einem Redigieren der Moderne, denn das „Post“ ist ein „Re“, das weniger „die Zeiger der Uhr auf Null zurückzustellen, reinen Tisch zu machen und auf einen Schlag eine neue Ära und eine neue Periodisierung einzuführen“ versucht, als vielmehr etwas Analytisches in Angriff nimmt, was Freud „Durcharbeitung“ nannte, das heißt „eine Arbeit, die das bedenkt, was uns vom Ereignis und seinem Sinn konstitutiv verborgen ist, und zwar nicht durch das vergangene Vorurteil, sondern auch durch Dimensionen der Zukunft“.27
Zweifellos wurden in Zeiten der Postmoderne mehr Versprechungen der Moderne, zumindest naturwissenschaftlicher Art, eingelöst als in der gesamten Neuzeit zuvor. Modernisierung als Futurisierung, Artifizialisierung und Globalisierung beschleunigte sich in unbekanntem Ausmaß und es entstand ein potenzierter Zustand der Moderne, der die in ihr verborgenen Konstituenten einer Metastasierung und Hypertrophierung unterzog. Das Projekt der Moderne unterlag von der Gegenreformation über die Romantik bis zur Postmoderne fluktuierenden Krisen und Repressionen, doch jede Kritik und jeder Abgesang revitalisierten die Moderne von neuem und transformierten sie in einen anderen Aggregatzustand. Insofern mag die Moderne ein in die Jahre gekommenes Projekt sein, es nährt sich aber, da es akkumulativ und irreversibel operiert, von seiner eigenen Geschichte und antizipiert seine Zukünfte, indem es die Gegenwart in eine futuristische Dimension überführt. Modern sein bedeutet ein Leben in Science-Fiction, wobei die aktuelle Utopie eine Atopie des Irgendwo und der Jederzeit ist, die in Form der Globalisierung auf eine Homogenisierung und Synchronisierung der Kulturen abzielt. Globalisierung als zentraler neuzeitlicher Effekt kulminiert heute in einem medien- und finanztechnischen Konvergenzmodell zur Etablierung einer supranationalen Kompatibilität und Komparabilität aller Wettbewerbsparameter wie u.a. Zeit, Raum, Währung und Produktion. Diese wirtschaftliche und mediale Synchronwelt, welche die Situation von Postkolonialität definiert, strebt bekanntlich nach einer globalen Matrix der „Echtzeit“ zur universellen Konvertierung aller Informationen, Güter und Kulturen. Da Konvertierungen aber nicht ohne Verluste ablaufen, gibt es mit dem expansiven Fortschreiten dieses Projekts immer mehr Verlierer, welche die globale Formatierung als System der Ungleichheit und Ungerechtigkeit erleben.
Was sich in den letzten Jahrzehnten einschlich und das Unternehmen der Postmoderne letztendlich in Misskredit brachte, war ein verschämter Rückzug aus Fragen der Politik und des Sozialen sowie eine zögerliche Beschäftigung mit Technologien, Medien, Wirtschaft und Ökologie unter biopolitischen Aspekten. Aus dem Gefühl der Selbststeuerung abgekoppelter Systeme und automatisierter Prozesse, der Idealisierung einer neoliberalen Ideologie zum Naturgesetz oder dem Eindruck der Ohnmacht gegenüber Massenmedien, Werbe- und Imageindustrie resultierte ein Verlust subjektiver Handlungsräume bei gleichzeitiger Zunahme von Unübersichtlichkeit, Komplexität und Welthaltigkeit. Die Postmoderne wurde Opfer ihres eigenen Erfolges, indem sie zum Synonym der von ihr beschriebenen Phänomene wurde. Die hohen Ansprüche des Redigierens konnten mit den beschleunigten Transformationen von Lebenswelten und den nachhaltigen Veränderungen psychischer und sozialer Befindlichkeiten nicht Schritt halten, wodurch die Symptome den Namen des Arztes bekamen. Postmoderne steht seitdem für eine geschwätzige, regellose und beliebige Moderne, für ein Ende der Geschichte oder eine statische Leere, bei der sich das Freiheitsversprechen eines „anything goes“ im Empfinden, dass nichts mehr geht, erschöpft. Die Krise steckt also in einem Mangel an Krisis (griech. Entscheidung). Aus diesem Umstand rekrutierte ab den 1980er Jahren die Neue Rechte ihren Aufschwung und bildete sich der Konsens der Neuen Mitte. Die Sehnsucht nach einem einfachen Komplexitätsmanagement, das jede Form von Kontingenz ausblendet und die Notwendigkeit dualen Handelns propagiert, entstand und infizierte die westliche Welt mit Arroganz und Rassismus.
In einer Zeit, in der alles Ökonomie geworden ist und Kapitalismus keine Außengrenze kennt, können Revolutionen nicht mehr ausgerufen werden, weil wir mit der alltäglichen, permanent fließenden zu sehr beschäftigt sind. Gegenkulturen und Widerstandsformen scheinen ins Leere zu laufen, da das Subversive in der Amoralität der Normalität liegt. Das utopische Projekt der direkten Demokratie ist Realität geworden, indem Konsumenten an den Kassen monetär ihre Stimme abgeben. Was anhält, ist aber das Gefühl, dass man sprachlos zurückbleibt.
Für eine postmoderne Generation, die mit Globalisierungseffekten, systemisch vernetzten Technologien und entfesseltem Kapitalismus aufgewachsen ist, verheißt dies weder Himmel noch Hölle, sondern lediglich, dass der Aufklärung die Abklärung folgt. Und wer abklärerisch über die Postmoderne hinauswächst und weder an Maschinen, Götter, das Subjekt oder dessen Tod glaubt, wird sich bewusst, dass er nie modern gewesen ist.28 Was sich daraus ableitet, ist eine Spaltung der Subjekte vom souverän verwalteten Gesellschaftskörper, die sich ab nun als wildes Fleisch begreifen. Das Subjekt ist keine statische Zelle im Leviathan, es bildet vielmehr, wie Hardt und Negri sagen, innerhalb des Fleisches eine Singularität aus, die das Gemeinsame temporär und prozessual erzeugen muss.29 Abgeklärte Singularitäten glauben nicht an die Gnade des Staates oder des Konzerns. Sie vertrauen nicht darauf, dass im Sinne des Trickle-down-Modells30 Einkommens- und Wachstumseffekte nach unten durchsickern, Ungleichheiten wirtschaftliche Entwicklung fördern und Kapitalakkumulationen den Schlüssel zum Wachstum darstellen. Abhängigkeitsverhältnisse als unausweichliche, natürliche und ontologische Notwendigkeiten hinzunehmen, fällt ihnen genauso schwer, wie das Wesen des Kapitalismus als grundsätzlich demokratisch zu akzeptieren. Dass die Globalisierung des Kapitals automatisch eine Globalwerdung der Demokratie bedeute, erscheint ihnen naiv.
Mit Höhe der Kollateralschäden wächst die Zahl der Singularitäten gegenüber den unterworfenen und integrierten Subjekten und es entstehen Bedürfnisse nach neuen „Trickle-up-Modellen“, wobei dieses von unten nach oben keiner Richtung gehorcht und im Atopischen genauso ein von außen nach innen oder von allen Seiten bedeuten kann. Derartige Modelle, die mit Multitude einen möglichen Namen gefunden haben, suchen keinen personalisierten Teufel – auch wenn sich zuweilen Regierende viel Mühe geben –, sondern bemühen sich um ein Redigieren des Regierens. Wenn alles vernetzt und global verwoben ist, können, vereinfacht gesprochen, Netzwerke eine hierarchische Gleichschaltung und Kontrolle organisieren oder über diese Verstricktheit eine gemeinsame Kompetenz emergieren. Die Fragen nach den Interaktionsmöglichkeiten zwischen den Singularitäten innerhalb des Netzes sowie der Singularitäten mit dem Netz wecken den Bedarf einer dissipativen Politik sowie einer neuen Wissenschaft zur Hervorbringung des Gemeinsamen im Biopolitischen. Je mehr Knoten und synaptische Verbindungen eine Singularität im Netz des Gesellschaftlichen knüpft, desto größer ist seine Macht. Während souveräne Instanzen alle Subjekte an einen zentralen Knoten zu binden und möglichst viele Interaktionen über diesen zu leiten versuchen, bauen Singularitätsmodelle auf dezentralisierte Verknotungen, kollektive Intelligenz und verteilte Steuerung. Ein außerhalb oder non plus ultra des Netzes existiert nicht; im Gegenteil, jede Singularität ist verpflichtet, plus ultra ihr eigenes Netz zu schaffen oder wie Negri sagt: „Weil ich selbst eine Multitude bin, kann ich die Gemeinsamkeit der Menge außerhalb meiner selbst finden.“31
So unterschiedlich die Konzeptionen und Verteilungen von Macht sind, so einheitlich ist die Akzeptanz „supraleitender“ Netzwerke, in denen Informationen und Kommandos überall und jederzeit abrufbar und übermittelbar sind. Aussteigerschicksale von Henry Thoreau bis Ted Kaczynski wirken wie melancholische Reminiszenzen an eine verlorene Welt, in der es noch Offline-Alternativen und Möglichkeiten für unbeobachtbare Beobachter gab. Heute scheint keine Negation des Netzes mehr zu glücken, denn jedes alternative Außen produziert statt Singularitäten lediglich Solipsismen. Das supraleitende Prinzip, egal ob es für Supranationalität oder Suprematie steht, besitzt universelle Gültigkeit. Daraus resultiert das Paradigma der Ultramoderne, dass sich weiter und immer weiter alles mit allem vernetzt. Aufklärung verliert unter der Kondition supra- und ultramoderner Netze den philosophischen Anspruch moderner Weltverbesserung und wird zu einem Terminus technicus, der sich auf den Fortschritt globaler Verkabelung, das militärische Spähen oder die Gesundheits- und Sicherheitspolitik bezieht.
Die Ultramoderne verweigert sich traditionellen Kategorisierungen in Transzendenz und Immanenz, denn Netze entwerfen ihre eigene Topologie. In den Versuchen, die ultramoderne Gesellschaft als neuronales Netz, soziales Gehirn, kollektive Intelligenz usw. zu beschreiben, drückt sich das Unfassbare und Unvorstellbare aus. Neurowissenschaftliche, biologische, physikalische oder esoterische Metaphern und Narrationen zur Erklärung der vernetzten Ökosphäre suchen nach Bildern und Vergleichen, um Fragen transdiziplinär zu formulieren, weil die Sprachen und Modelle der einzelnen Disziplinen nicht ausreichen.
Braucht eine globale Sozietät eine einheitliche Identität, wie das menschliche Gehirn ein Ich konstruiert; d.h. braucht der vernetzte Leviathan einen souveränen Kopf oder eignen sich herumschweifende, anarchische Singularitäten besser, um auf chaotische Prozesse, Kontingenz und Unordnung zu reagieren? Sind Singularitäten mit biologischen Schwärmen vergleichbar, die ohne Anführer ein gemeinschaftliches Handeln organisieren? Oder gleicht der Zustand der Ultramoderne doch eher dem Bose-Einstein-Kondensat, jenem extremen Aggregatzustand, der die Teilchen eines Systems ununterscheidbar macht, da sich alle im quantenmechanischen Grundzustand befinden? D.h. geben atomare Singularitäten ihre Individualität auf und verhalten sie sich wie ein einziges Superatom? Versetzen die Siegersprachen des Westens – der digitale Code, der Dollar, die Brandmarks der Weltkonzerne, der Kapitalismus, die abstrakte Kunst, Hollywood und Englisch – alle Subjekte in einen gleichphasigen Spin? Verdeutlicht das Bose-Einstein-Kondensat, das nur nahe am absoluten Nullpunkt die Teilchen zur Aufgabe ihrer Eigenständigkeit zwingen kann, die soziale Kälte für das von Hardt und Negri beschriebene Empire32? Und vermag bereits eine geringe Zufuhr von Energie das System zu destabilisieren, um die Multitude wie eine Brownsche Bewegung über das gleichgeschaltete Kondensat hereinbrechen zu lassen?
Singularitäten widersetzen sich dem Souverän, entziehen sich der Repräsentation, haben keine Identität, sind heimatlos, gewissenlos, sinnlos und ohne Moral. Sie sind entweder kopflos oder bilden wie die Hydra eine Menge mit sich selbst. Sie sind keine unteilbaren Individuen, die sich zu konformistischen Sinnkondensaten im Namen des Vaters, der Nation oder einer anderen Körperschaft verbrüdern, sondern „Kondividuen“, die am Plural ihrer selbst arbeiten, um das Gemeinsame zu erfinden. Als Vielheiten der Selbsterfindung und Selbstreproduktion verbinden sich in ihnen autopoietische Prozesse mit kommunikativem Handeln. Sie sind Luxusgeschöpfe des Überflusses an Verantwortung, denn verantwortlich zu sein bedeutet, wie Marcus Steinweg sagt, sich selbst zu überfordern. „Es gibt Verantwortung nur als überschüssiges Ereignis und als Exzess. (…) Sie überschreitet Gott und das Gewissen, die Moral und die Theologie, um nur sich selbst gegenüber verantwortlich zu sein.“33 Darin liegt das Hyperbolische der Singularitäten, die aus einem Zuviel an Selbst selbstlos werden und ihre Verantwortung statt auf Besitz und Eigentum auf das Gemeinsame beziehen. Die neuzeitliche Ekstase des ego- und eurozentrischen Plus ultra, die auf mehr Land, mehr Kapital und mehr Wissen zielte, wandelt sich in ein plus ultra, welches das Eigene überschreitet, indem das Aus-sich-heraus-Treten in und für das Gemeinsame eintritt. Vergleichbar Platons Idee der synusia oder der Ethik der Open-Source-Bewegung sorgt sich die Selbstverantwortung um ein gemeinsames Handeln mit freiem Wissensaustausch. Singularitäten vereinen sich zu Schwärmen, die in der Antike Akademie und heute Multitude heißen, weil sie sich für etwas Gemeinsames begeistern und dafür sprichwörtlich schwärmen. Auch wenn sie in Bezug auf Besitztum arm sind, sind sie es nicht in Bezug auf Möglichkeiten. Sie akzeptieren Armut als die Grundsituation menschlicher Existenz, denn ohne Bedürfnis nach Unterwerfung und Machtexpansion liegt die Quelle ihres Reichtums in der Potenz der Kontingenz. Möglichkeiten verweigern sich genauso wie Wissen der Privatisierung, da beide auf komplexe Weise hervorgebracht werden, Unbestimmtheiten entspringen und sich Eigentumslogiken entziehen. Nur der Umstand, dass Wissen schwärmerisch in vernetzten Kommunen generiert, getauscht und vermehrt wird, garantiert verantwortungsvolles Wachstum.
Singularitäten formieren sich dort, wo es nichts gibt. Ohne Avantgarde sein zu wollen und einem teleologischen plus ultra zu folgen, das im ehrgeizigen Übertreffen selbst gesteckter Ziele blind über das Ziel hinausschießt, finden sie sich an den Grenzen des Notwendigen ein, um ins Unbekannte des Möglichen aufzubrechen. Aus dem Nichts entsteht eine Doppelbewegung, die einerseits das Bestehende ins Mögliche überzuführen und andererseits die Möglichkeit vor der Realisierung im vermeintlich Notwendigen zu retten versucht. plus ultra und Non plus ultra werden zum Bestandteil einer diskursiven Praxis, die im oszillierenden Hin- und Herspringen die Freiheit den Singularitäten einräumt. Das Bewusstsein der Singularitäten fordert, dass alles einschließlich ihrer selbst auch ganz anders sein könnte und aus diesem Kontingenzbewusstsein entstehen der Diskurs und das Interesse für eine gemeinsame Zukunft.
Da Interessen und Diskurse Medien brauchen, die ihnen Asyl gewähren, bietet die Kunst ein Feld des Möglichen. Kunst ist ein Ort des Nichts, eine Leerstelle im Notwendigen, die Raum für das Mögliche schafft. Im Grunde verfügt die Kunst über keine Macht und keinen Besitz; ihre Potenz und ihr Reichtum bestehen in der Radikalität des Möglichen, das Notwendige zu suspendieren. In einem traditionellen Sinn ist die Kunst – selbst wenn sie faktisch und logozentrisch operiert – auf Fiktionen oder die Modalität des Als-ob verwiesen. Sie steht im Dienst des Symbolischen und geht sie einen Schritt darüber hinaus, um eine Verletzung der Ordnung durch einen Einbruch des so genannten Realen zu provozieren, übernimmt sie spielerisch die „Qualität“ der Macht oder gar des Terrors. Doch dieses Begehren, einen Tatort zu finden und sich dort mit allen Konsequenzen zu realisieren, mündet wiederum im Symbolischen. Wie bei einem Terrorakt steht im Gegensatz zu einer Naturkatastrophe das Symbolische und nicht das Reale auf dem Spiel. Das Als-ob, das folglich sowohl ein Privileg in Bezug auf den Umgang mit Kontingenz als auch einen schlichten Realitätsmangel darstellt, dringt in das Reale nur über das Symbolische ein. In einer Kultur, die in symbolische Watte gebauscht ihre Macht im Virtuellen und Deterritorialen entfaltet, kann die bestehende Ordnung aber ohnehin nur im Modus des Als-ob torpediert werden. Die Kunst doubelt daher nicht die Realität, sie erzeugt im Sinne von Artaud ihre eigene grausame Realität.
In Das Theater und die Pest berichtet Artaud vom sardischen Vizekönig Saint-Rémys. In einem finsteren Traum erfährt jener das Wüten der Pest in aller Grausamkeit an seinem eigenen Leib. Nach Erwachen sieht er in der Ankunft eines aus Beirut kommenden Schiffes den Pestboten und setzt sich über alle Konventionen hinweg. Auf Befehl des Fürsten muss die Grand-Saint-Antoine, die 1720 Cagliari anlaufen wollte, abdrehen und ihre Fahrt nach Marseille fortsetzen. Die Order, die seinen Landsleuten völlig absurd erscheint, wird erst verstanden, als bekannt wird, dass in Marseille die Pest ausgebrochen ist. Für Artaud stellt die Kunst wie der Pesttraum die Verbindung her „zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, zwischen der dem Möglichen innewohnenden Kraft und dem, was in der verwirklichten Natur existiert“. Eine Kunst, die bei ihm Theater heißt, „kann es nur von dem Augenblick an geben, in dem tatsächlich das Unmögliche beginnt und in dem die Poesie, die sich auf der Bühne ereignet, verwirklichte Symbole speist und überhitzt.“ Ziel der Kunst ist eine „virtuelle Revolte“, „die übrigens nur dann ihren ganzen Preis wert sein kann, wenn sie virtuell bleibt“.34
Das Non plus ultra des Schiffes resultiert aus dem simulativen plus ultra des virtuellen Traumes, der „alle perversen Möglichkeiten des Geistes“ lokalisiert. Die Kunst wird zu einem Laboratorium, in dem das Mögliche als Notwendiges und umgekehrt verhandelt wird. Dass dies nicht nur übersinnlich und mystisch gedacht werden muss, belegt die gegenwärtige Konjunktur von Simulationstechnologien und Risikomodellen, welche jene mit der Zunahme an Künstlichkeiten sich vergrößernden Gefahren berechnen sollen. Die phantasmatischen Ungeheuer der Moderne, die in den Rang kommen, das Reale virös zu infizieren, brauchen immer notwendiger theatralische und traumatische Orte des Möglichen als Forschungsstätten der Kontingenz.
Die manischen Differenzleistungen der Moderne, die Natur und Kultur symmetrisch in zwei Sektoren trennten, haben nicht verhindern können, dass sich Ungeheuer, Monstren und Hybriden bilden, die sich gegenwärtig immer weiter und noch weiter kreuzen. Hierin besteht das veränderte plus ultra der Gegenwart, das nicht mehr linear ins Nirgendwo läuft, sondern sich im Irgendwo onkologisch und metastasierend verfilzt und vernetzt. Nicht die weiße Zelle, die Reinheit des Denkens, sondern der schmutzige Attraktor, der unentwegt mischt – die Disziplinen, die Arten, Symbole mit Materie und alles durcheinander –, diktiert das neue „fiat“ der dritten Schöpfung. Trennen und mischen, sezieren und samplen lautet der methodische Antagonismus der Moderne,35 der nun neue Qualitäten erreicht, die Risiko, Nichtwissen und Komplexität heißen.
Mit der Zusammenführung von Natur und Kultur sind das Schisma zwischen Natur- und Geisteswissenschaften sowie all die mühevoll geleisteten gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen gefordert, heterogene Arrangements des Gegenseitigen zu treffen. Das Gebot der Moderne, das über Jahrhunderte hinweg eine Dualisierung von Natur und Kultur anstrebte und die Tilgung des Hybriden forderte, überließ die Homogenisierung den Spezialisten oder Moralisten, die nur Monster gebaren. Die Separation der eigenen Kultur von den anderen, die Zerschlagung in Subjektivität und Objektivität oder die Trennung in Körper und Geist errichteten hierarchische Gebäude mit tiefen dunklen Kellern.
Eine Wissenschaft, die sich alleine mit der Natur und eine Politik, die sich alleine mit der Ökonomie beschäftigt, riskiert Abnabelung und Entnetzung, deren Kosten sich wiederum für gekaufte Propaganda oder heuchlerische Moral zu Buche schlagen. Wenn Kunst und Wissenschaft den fruchtbaren Plural der Komplexität entdecken, bedarf es keiner Metawissenschaft und abgehobener Exteriorität, sondern eines vernetzten Vorgehens, das sich in alles involviert. Das Laboratorium dringt nicht zum Zwecke der Partikularisierung in alle Ritzen vor, sondern um die großen Erzählungen zu vermehren und zu verbinden. Der Damm zwischen der Wissenschaft der Dinge und der Politik der Gesellschaft scheint damit geborsten und die Dichotomie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften löst sich in einer „dritten Kultur“ auf.36
Die Mischungen und Hybridisierungen von Kunst mit Leben, Politik, Wissenschaft, Ökonomie etc. setzen genau hier an und proben den viel zitierten Einbruch des Realen ins Symbolische beziehungsweise vice versa den Ausbruch des Symbolischen ins Reale. Kunst wird zum Schauplatz von Fiktionalisierungen und konzeptuellen Narrationen, um die Konfabulationen der kulturellen Narrative zu dekonstruieren. Der künstlerische Akt bedeutet folglich eine Arbeit am Simulationsmodus beziehungsweise am Als-ob, damit die Kunst nicht zum vereinbarten und legitimierten Kontext der Konvention und des Gehorsams wird. Jenseits stilistischer Kontrollen wollen Erwartungshorizonte und Rezeptionsstandards gestört werden, um die artaudsche Grausamkeit zu erzeugen. Erst wenn die Kunst zum „als“ wird, ist sie in der Lage, die Kräfte des Möglichen mit der Realität zu vernetzen und für ein Ereignis des Unmöglichen einzustehen.
Was es dazu von Seiten der Kunst benötigt, sind keine bloßen Akkumulationen von Werken und Oeuvres, sondern performative Prozesse, die auf gesellschaftliche Wirkung abzielen. Im Gegensatz zur Macht, die auf eine Zerschlagung des Möglichen und eine Verfestigung des Notwendigen aus ist, ist Kunst höchst unnotwendig und reine Potenz. In der Kunst, in der es um die Konstruktion der Erfahrung des Möglichen als solche geht, steht das „als“ im Vordergrund, das weder identitätsstiftend ontologisch (als solches) noch mimetisch phänomenologisch (als wie) uns in den Zustand der Relation zum Anderen als das Mögliche der Zukunft eines Nicht-Gewesenen versetzt. Und folglich ist diese Kunst eine schmutzige Para-Kunst, eine Kunst als Wissenschaft, als Philosophie, als Soziologie, als Politik etc., die außerkünstlerische Kräfte infiltriert, um fremde (Immun-)Systeme zu unterlaufen. Diese Art von Kunst ist eine Möglichkeitsform, die gleichzeitig (!) Kunst sein, etwas anderes und Kunst sein oder auch nicht Kunst sein kann. Das heißt, es ist keine legislative Kunst, die Stile, Gebote, Gesetze abschafft und neue erlässt – wie es etwa die Avantgarden versucht haben – und es ist auch keine Kunst, welche die Welt von irgendetwas messianisch erlöst. Es ist eine katalytische oder enzymatische Kunst, die etwas auslöst und eine Handlung vorantreibt, vergleichbar etwa mit Lacans „Objekt a“ oder Hitchcocks MacGuffin.
*Erstabdruck in: Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Frankfurt 2005, S. 139 - 166.
1 In welchem Jahr und aus welchem Grund die westliche Kultur spezifisch modern wurde, ist eine akademische Methodenfrage. Moderne wird hier als ein neuzeitlicher Habitus der Globalisierung gefasst, der im Lauf der historischen Prozesse seinen Aggregatzustand wechselt und sich bis heute transformiert. Mit Modernität kann das philosophisch-kulturelle, mit Modernisierung das ökonomisch-technische und mit Modernismus das ästhetisch-künstlerische – sowohl avantgardistisch als auch reflexiv – Projekt der Moderne begrifflich gefasst werden.
2 Vgl. Markus Neuwirths Abhandlung über die Imprese Karls V. in diesem Band.
3 Der von Bernard Lewis 1990 eingeführte Topos „clash of civilizations“ wurde von Samuel Huntington aufgegriffen und weltweit popularisiert. Die Begriffe Zivilisation und Kultur orientieren sich bei Huntington an Oswald Spengler und werden vorwiegend rassisch und religiös verwendet. Vgl. Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen. The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien 1996.
4 „Die Europäer von 1500 sind nicht gieriger, grausamer oder phallischer als irgendein Geschlecht vor ihnen, sondern risikobereiter – das heißt im Blick auf Gläubiger kreditwilliger und in bezug auf Schuldner kreditabhängiger, wie es dem Wechsel des ökonomischen Paradigmas von antiker und mittelalterlicher Ressourcenausbeutung zu neuzeitlichem investierendem Wirtschaften entspricht.“ Peter Sloterdijk, Sphären II. Globen, Frankfurt a. Main 1999, S.862.
5 Als Frontispiz finden sich die Säulen des Herkules in Francis Bacons Instauratio Magna (1620) und Sylva Sylvarum (1627).
6 In The Advancement of Learning zitiert Bacon ein ähnliches Bild und teilt die Gelehrten in „grabende“ Pioniere und „verfeinernde“ Schmiede. Die Ursachenforschung (inquisition of causes) wird der Wirkungserzeugung (production of effects) gegenübergestellt.
7 Es entsteht ein für das Projekt der Moderne prägender Innovationszwang, der alle Bereiche erfasst und zum universellen Prinzip wird, bis er in den Avantgarden als oszillierender Prozess der fluktuierenden Moden in sich erliegt und in der Postmoderne ein grundsätzlicher Zweifel an der Möglichkeit von geschichtlich Neuem Platz greift. Exploratives Verhalten und das Neue an sich wurden von Psychologie über Kulturwissenschaft bis Genetik zum Ausgangspunkt von Untersuchungen und Theoriebildungen. Vgl. u.a. Hans-Georg Voss, Heidi Keller (Hg.), Neugierforschung. Grundlagen-Theorien-Anwendungen, Basel 1981 und Boris Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München/Wien 1992.
8 Bacon, dem Korruption und Machtmissbrauch nicht fremd waren, reflektiert in Nova Atlantis die Folgelasten einer hypertechnologisierten Risikogesellschaft. Das an Platon orientierte Staatsideal sieht ein Wissenschaftsregime vor, das über die Zumutbarkeit von Wissen und Technologie für Politik und Gesellschaft entscheidet. Bereits am Beginn der Wissensgesellschaft taucht das „Prinzip Verantwortung“ oder ein „Wille zum Tabu“ im Sinne von Hans Jonas auf.
9 Francis Bacon, Neues Organon. Teilband 1, Hamburg 1999, S. 207.
10 Der Spruch „Multi pertransibunt et multiplex erit scienta (Daniel 12,4) wird im Forntispiz zu „Multi pertransibunt & augebitur scientia“. Zu den erwähnten Interpretationen des Durchschiffens der Säulen drängt sich hier eine weitere auf, die vermutlich der eigentlichen Absicht Bacons am nächsten kommt. Hinter den Säulen wartet das endzeitliche eschatologische Reich der Wissenden. Der Leser wird am Anfang des Textes simulativ an den paradiesischen Ort der Auserwählten gestellt und eingeladen, eine intellektuelle Reise zu unternehmen, die ihn diesem Zustand näher bringen soll.
11 Nonplusultra, das Unübertreffbare, Unvergleichliche; non plus ultra, nicht weiter.
12 Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. Main 2003, S. 16.
13 Zit. n. Giorgio Agamben, Das Offene. Der Mensch und das Tier, Frankfurt a. Main 2003, S.19. Im Original: Alexandre Kojève, Introduction à la lecture de Hegel. Lecons sur la phénoménologie de l’esprit. Réunies et publiées par Raymond Queneau, Paris 1979, S. 437.
14 Die Konjunktur des Schönen und des Glamours fasst die Trendforscherin Suzi Chauvel mit dem Begriff „Beautopia“.
15 Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1986, S. 16.
16 Henry David Thoreau, Vom Spazieren, Zürich 2001, S. 31ff.
17 Sigmund Freud, Das Ich und das Es, in: Gesammelte Werke Band XIII, Frankfurt 1969, S. 286.
18 „Was sich abzeichnet ist eine (noch zu definierende) Gruppe von heterogenen Räumen, ein großes patchwork aus lauter minoritären Singularitäten. (…) Diese Bewegung der Zersplitterung betrifft nicht nur die Nationen, sondern auch die Gesellschaften: wichtige neue Gruppierungen treten auf, die in den offiziellen Registern bisher nicht geführt wurden: Frauen, Homosexuelle, Geschiedene, Prostituierte, Enteignete, Gastarbeiter …; je stärker sich die Kategorien vermehren, desto komplizierter und schwerfälliger wird deren zentralisierte Verwaltung; dann wächst die Tendenz, seine Geschäfte selbst in die Hand zu nehmen, ohne all die Vermittlungen des ZENTRUMS zu passieren, oder sie zynisch kurzzuschließen – wie im Fall von Geiselnahmen.“ Jean-Francois Lyotard, Das Patchwork der Minderheiten. Für eine herrenlose Politik, Berlin 1976, S. 37ff.
19 Islamistischen Extremismus als prämodernen Fundamentalismus zu simplifizieren, erzeugt einen blinden Fleck in der westlichen Kultur. Der Islamismus muss als integraler Bestandteil der Moderne und des Westens selbst verstanden werden und steht einem RAF-Terror näher als irgendwelchen Vorstellungen von Kreuzzügen. „Der islamische Fundamentalismus ist jedoch – und das ist entscheidend – keine traditionalistische Bewegung. (…) Daher wird die islamische Identität von den Fundamentalisten in Frontstellung zum Kapitalismus, zum Sozialismus und zum Nationalismus, sei er nun arabisch oder andersartig, (re)konstruiert. Alles dies sind in ihren Augen gescheiterte Ideologien der postkolonialen Ordnung.“ Manuel Castells, Die Macht der Identität. Teil 2 der Trilogie Das Informationszeitalter, Opladen 2002, S. 19f.
20 Die aktive Partizipation unterschiedlichster Gruppen und Interessen am politischen Leben führt zu einer Überhitzung der Demokratie, die – eine physikalische Metapher gebrauchend – aufgrund der thermischen Energie und brownschen Bewegung auseinanderzubrechen droht. Die These einer notwendigen Abkühlung von Demokratie entstand vor dem Hintergrund der Studenten-, Frauen-, Antiapartheids-, Friedens-, Hippie- und Minderheitenbewegungen in den 1960/70er Jahren und wurde von Samuel Huntington im Auftrag der Trilateralen Kommission als Diagnose und warnende Empfehlung für die US-Regierung zu Papier gebracht. Vgl. Michel Crozier, Samuel P. Huntington, Joji Watanuki, The Crisis of Democracy, New York 1975. Vgl. weiters Samuel P. Huntington, Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004.
21 Michael Hardt, Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. Main 2004, S. 347.
22 Helmut Willke, „Selbststilisierung und Selbstkonsternierung der Politik in der Wissensgesellschaft. Zur Metabolik des Nichtwissens in der Politik“, in: G.J. Lischka, Peter Weibel (Hg.), ACT! Handlungsformen in Kunst und Politik, Bern 2004, S. 188.
23 Vgl. Saskia Sassen, „The State and Globalization“, in: Rodney Hall, Thomas Biersteker (Hg.), The Emergence of Private Authority in Global Governance, Cambridge 2002.
24 Vgl. Mahmood Mamdani, Good Muslim, Bad Muslim: America, the Cold War, and the Roots of Terror, New York 2004.
25 „Ich möchte eher zu einem strengeren formalen Schluß drängen, nämlich, daß gerade das Zurückweisen und die Verwerfung des Erzählens eine Art narrativer Wiederkehr des Verdrängten hervorruft und unwillkürlich dazu neigt, dessen anti-narrative Position auf dem Weg über noch ein anderes Narrativ zu rechtfertigen, das die Behauptung unter allen Umständen dezent verbergen möchte. Doch würde ich, statt zu versuchen, diesem Prinzip eine ontologische Formulierung zu geben, es lieber in eine methodologische Form, die Empfehlung, verwandeln, die verheimlichten, ideologischen Narrative, die in allen anscheinend nicht-narrativen Konzepten wirken, herauszusuchen, besonders, wenn sie gegen die Narrative selbst gerichtet sind.“ Fredric Jameson, Mythen der Moderne, Berlin 2004, S. 12.
26 Jean-Francois Lyotard, Die Moderne redigieren, Bern 1988, S. 6.
27 Ebenda S. 9.
28 Vgl. Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt a. Main 1998.
29 Michael Hardt, Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. Main 2004.
30 Die Trickle-down-Theorie geht auf den Nobelpreisträger Arthur Lewis zurück. Ungleichheit ist demnach der Motor für Prosperität, da Reiche mehr sparen als Arme und nur so eine ökonomische Fluktuation von Arbeit, Gütern und Kapital möglich sei. Als dieses Modell bereits in der Reagan-Ära versagte, geriet es in Vergessenheit. Für die Ära Bush ist es wiederum, wie ein anderer Nobelpreisträger, Joseph Stieglitz, kritisiert, ein Glaubensartikel. Vgl. Joseph Stieglitz, Die Schatten der Globalisierung, München 2004, S. 111ff.
31 Antonio Negri, Rückkehr, Frankfurt a. Main/New York 2003, S. 140.
32 Michael Hardt, Antonio Negri, Empire, Cambridge, London, 2000.
33 Marcus Steinweg, Subjektsingularitäten, Berlin 2004, S. 73.
34 Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, München 1996, S. 30.
35 Der Antagonismus zwischen schneiden und samplen, partikularisieren und hybridisieren bildet das spezifisch Moderne der Moderne. Für Francis Bacon, der in Neu-Atlantis Bio- und Gentechnologien antizipiert, ist er integraler Bestandteil der neuen Wissenschaften: „In Parks und Gehegen halten wir alle möglichen Tiere und Vögel, und zwar weniger wegen ihrer Merkwürdigkeit oder Seltenheit, als vielmehr zu Sektionen und anatomischen Untersuchungen, um dadurch so weit wie möglich Aufklärung über den menschlichen Körper zu erlangen. Wir erzielen dabei zahlreiche wunderbare Wirkungen, wie die Erhaltung des Lebens trotz des Verlustes oder Entfernung verschiedener von euch als lebenswichtig angesehener Organe, die Wiederbelebung Scheintoter und ähnliches. (…) Auf künstlichem Wege machen wir manche Tiere größer und schlanker, als sie es ihrer Natur nach sind, während wir andere in Zwergformen umwandeln und ihnen eine von der früheren verschiedene Gestalt geben. (…) Auch in bezug auf Farbe, Körperform und Aktivität können wir sie auf verschiedene Weise verändern. Wir sind auch imstande, Kreuzungen und Paarungen verschiedener Tierarten zu erzielen, um so neue Arten hervorzubringen …“ Francis Bacon, Neu-Atlantis, Stuttgart 1982, S. 46f.
36 „Die dritte Kultur – das sind Wissenschafter und andere Denker in der Welt der Empirie, die mit ihrer Arbeit und ihren schriftlichen Darlegungen den Platz der traditionellen Intellektuellen einnehmen, indem sie die tiefere Bedeutung unseres Lebens sichtbar machen und neu definieren, wer und was wir sind.“ John Brockmann, Die dritte Kultur. Das Weltbild der modernen Naturwissenschaft, München 1996, S. 15.
Wenn Brockman gegen Intellektuelle, Geisteswissenschafter und Philosophen polemisiert, sei in aller Kürze Heideggers Befürchtung in Erinnerung gerufen, dass Wissenschafter nicht denken können, da sie die Wirkung ihrer Innovationen nicht bedenken können. Eine Entdualisierung von Natur und Kultur über eine Hierarchisierung von Empirie und Theorie tappt hier in die Falle, indem lediglich ein „Narrativ“ gegen ein anderes ausgetauscht wird. Viablere Konzepte für eine dritte Kultur, die einer Dualisierung von Natur und Kultur entgegenwirken, finden sich u.a. bei Bruno Latour. Vgl. Bruno Latour, Das Parlament der Dinge. Für eine politische Ökologie, Frankfurt a. Main 2001.