Manfred Faßler
Smart Populations*

The wisdom of the crowd

Mit Smart Populations beschreibe ich Menschengruppierungen, die sich zusammenfinden, um ein bestimmtes Vorhaben im Bereich von Kunst, Politik oder Ökonomie mit einer gewissen Intelligenz und Effektivität zu fördern und umzusetzen. Smart Populations setzen sich aus Innovatoren, Bedeutungskonstrukteuren und Institutionalisierern zusammen. Sie bilden Strukturen, die sich auf Kulturierungsprozesse, Transnationalisierung, Migrationsgeschehen, Weltmarkt und Globalisierung beziehen, sich aber nach Abschluss eines Projektes wieder auflösen. Im Gegensatz zum Konzept der Smart mops von Howard Rheingold, gehe ich nicht von unstrukturierten Zufallsprozessen aus, die Menschen beliebig zueinander führen und konfuse Anhäufungen entstehen lassen. Smart Populations produzieren Intelligenz und Kreativität im Sinne von „the wisdom of the crowd“; eine Intelligenz, die durch Assoziation und Kooperation entsteht. Smart Populations sind daher nicht frei von Herrschafts- und Machtgefügen und sie implizieren Entschiedenheiten und Absichten innerhalb der beteiligten Gruppen. Dies unterscheidet sie von Schwarm-Intelligenzen, bei denen von einem Kollektivorgan des Denkens ausgegangen wird und Intelligenz durch Kooperation von einzelnen Zellen auftaucht. Bei Schwarm-Intelligenzen - derartige Modelle finden sich in der Biologie, Politik oder im Militärischen - weiß die einzelne Zelle nichts und ist ignorante Materie. Smart Populations bauen, bezogen auf gegenwärtige Strukturen, dagegen auf eine Vernunfttradition, die modern, europäisch und aufgeklärt ist. Kulturengeschichtlich sind Smart Populations immer die Quellen der Ordnungsverläufe zwischen Erfindung, Erhaltung und Weitergabe gewesen. Sie enthalten allerdings keine großen Versprechungen und Erzählungen, sondern sind temporäre Vorhaben und Zustandsveränderungen, die für einen bestimmten zeitlichen Moment entstehen und von Menschen koordiniert, erfunden, erdacht und umgesetzt werden, die wissen was sie tun. Dies schließt nicht aus, dass ihre Ergebnisse ideologisch funktionalisiert, symbolisch übersteigert werden. Insofern beschreibt der Begriff Smart Populations Projektzusammenhänge, die über Absicht, Zielsetzung und Umsetzungskompetenz eine operationale Pragmatik verfolgen. In der Kombinatorik von Innovatoren, Bedeutungskonstrukteuren und Institutionalisierern handelt es sich um einen politischen Begriff, da Rahmenbedingungen verhandelt werden und entschieden wird, welche Regelsysteme, Verabredungen und Konventionalisierungen innerhalb eines kulturellen Systems aufrecht erhalten werden, um den nächsten Zyklus von Veränderung, Innovation, Anwendung und Umsetzung zu definieren beziehungsweise welche bewusst vermieden werden. Diesbezüglich stehen Smart Populations der klassischen Idee der griechischen Polis nahe. Ihre Teile verhalten sich verantwortlich zu den Dingen im Sinne eines Zusammenhangs von Egoismus und Altruismus. Das ist beinahe eine spieltheoretische Konstruktion.

Smart Populations der Kunst

Im Moment kann ich mir schlecht vorstellen, dass Kunst für sich selbst stehen kann. Die komplexen Systeme, mit denen wir es heute zu tun haben, bestehen aus vernetzten Smart Populations und diese spielen für KünstlerInnen eine Rolle, die Kooperationen suchen und sich auf Komplexitäten einlassen. Wenn KünstlerInnen in dieses Vernetzungsgeschehen bewusst eintreten, dann haben sie eine gute Chance innerhalb des Veränderungsgeschehens nicht nur am Katzentisch der Designer oder Architekten Platz zu nehmen, sondern sich klar im Feld der Formgebung des Künstlichen zu positionieren und zu sagen, wir haben genau dieselben Stärken und Schwächen wie Wissenschaft oder Politik. Das ist die Voraussetzung, um das Künstliche des Menschen, also die Erfindungs- und Unterscheidungsgabe des Menschen, auszudrücken und darüber wieder neue Unterscheidungsgewinne zu erzeugen, die für Veränderung und Entwicklung einer Art unverzichtbar - sozusagen die Lebensmittel - sind.

Für mich war in den letzten Jahren interessant zu beobachten, dass sich Versuche und realisierte Ansätze entwickelten, das Innovationsfeld Kunst zu institutionalisieren, Hochschulen zu bilden usw. und in diesen auf Ebene technologisch versierter Ausbildung einen Freiraum für die Entwicklung von KünstlerInnen zu schaffen. Wenn ich die Idee und Forderung habe, Kunst solle sich innerhalb des Strukturmusters von Smart Populations bewegen, dann muss ich akzeptieren, dass es Institutionalisierungsebenen gibt. Es braucht Möglichkeiten der Ausbildung und Chancen für die Positionierung der Kunst in Form des Marktes, der Galerie oder der Hochschule. Die alte Institutionalisierungsebene der Meisterklasse, die im Denken immer noch präsent ist, hat allerdings ausgedient. Innerhalb des Konzepts der Smart Populations hat der Meister keinen Platz.

Transdisziplinarität

Das Transdisziplinäre ist von der Disziplin ausgehend formuliert. Auf Universitäten oder allgemein in Gesellschaft und Kultur kommt es zu abgrenzenden Spezialisierungen, die als Disziplinen, also strikte, enggeführte Themenfelder und Gedankenbildungen verfestigt werden. Der Begriff Disziplin impliziert eine Unterscheidung, die disziplinäre Befolgung, Folgebereitschaft, Weisungszusammenhänge einschließt. Das heißt, ich kann mich innerhalb eines formalen Gefüges bewegen, aber ich darf die Befehlsordnung nicht verlassen. Zwar gibt es seit langem Versuche mit Interdisziplinarität, aber die sind weitgehend gescheitert. Damit wird klar, dass es Konzepte der Mischung braucht, um neue Möglichkeiten, Gedankenfelder und Formierungsprozesse aufeinander zu beziehen, die aus unterschiedlichen Disziplinen kommen.

Das Transdisziplinäre geht in diese Richtung, entkommt aber nicht dem grundsätzlichen Dilemma. Da es die Prinzipien der einzelnen Disziplinen akzeptiert, funktioniert es nur projektspezifisch, indem unterschiedliche Gruppierungen und Disziplinen an einem speziellen Projekt partizipieren. Es müssen folglich eigens Projekte formuliert werden, womit sich dieselben Probleme wie bei der Interdisziplinarität einstellen: Man kann endlos über Transdisziplinarität an sich reden, aber wenn ich kein konkretes Projekt habe, an dem ich dies umsetzen kann, bleibt es Gerede; vielleicht spannendes Gerede, über das man sogar Bücher finanzieren kann, aber im Konstruktions- und Formentscheidungsgeschehen ist es nicht präsent. Transdisziplinarität müsste weitergehen und zu einer neuen Assoziation von intellektuellem Kapital führen. Es müsste nicht unbedingt eine neue Metadisziplin, aber ein neues Feld daraus erwachsen. Man müsste Projekte und Zusammenhänge formulieren, in denen sich Transdisziplinarität als belastbar, kreativ und unterscheidungsreich darstellen lässt. Wenn überhaupt gelingt dies vielleicht in Entwurfsprozessen, bei Firmen, Unternehmen, eventuell noch im öffentlichen Bereich, aber dort ist es eher durch das Planungsgeschehen reguliert. Transdisziplinarität ist als Idee und Konzept gut, aber das Dilemma liegt darin, dass die Projektebene verfehlt wird. Aus meiner Sicht sind Konzepte erforderlich, die auf Communities of Projects setzen, auf ergebnisorientierte Zusammenschlüsse von Menschen unterschiedlicher Kompetenzen aber einer zeitlich befristeten Produktverpflichtung.

Kunst des Übermorgens

Kunst ist eine Möglichkeit, das Unterscheidungsgeschehen einer Kultur zu prägen. Das klingt abstrakt, aber die meisten Unterscheidungen, die wir in unserer Kultur prozessieren, sind Unterscheidungen, die am operativen Geschehen orientiert sind. Das heißt, wir haben pragmatische Unterscheidungen, die funktional oder disfunktional sind, die passen oder stören usw. Eine Funktion von Kunst wäre, dieses Formierungs- und Unterscheidungsgeschehen, das man als Kunstmachen oder als „Machen des Künstlichen“ beschreiben könnte, auf ein Nachdenken über das Morgen und Übermorgen zu beziehen. Gerade weil man zurzeit keine Zeit mehr hat und das Morgen verloren geht, wäre eine Aufgabe von Kunst über Unzeiten nachzudenken. Ich will nicht über Utopielosigkeit jammern, aber ich bemerke Mutlosigkeit: Wir haben keine Freude mehr am Fabulieren, keinen Mut zum Verändern oder Experimentieren. Daraus resultiert für mich die Forderung und Anforderung an die Kunst, mit Formen und Prozessen zu spielen, mit Ausdrucksmöglichkeiten zu arbeiten, die in Kooperation mehrerer Sinne operieren, die vielleicht auch eine neue Form von Happening und öffentlicher Performativität erfordern. Vieles ist derzeit zu stark technologisch determiniert - etwa Häuserwände mit Screens, auf denen zwischen Werbungen Kunstvideos laufen. Das kann interessant sein, aber es bleibt angepasst innerhalb einer Systematik und durchbricht nichts. Es bleibt an der Oberfläche und ist bestenfalls ein Eyecatcher, denn das grundsätzliche Problem der räumlichen und technischen Begrenzung wird nicht aufgebrochen. Experiment und Varianz bilden für mich die Voraussetzung für den Zusammenhang zwischen Kunst und Evolution. Kunst müsste stärker ein Variationsgenerator sein und weniger einer institutionellen Bestätigungspolitik im Sinne von Kunst am Bau gehorchen. Systemische Angepasstheit beantwortet nicht die Frage nach Innovations- und Veränderungsfähigkeit von Kunst.

Selbstexperimente

Die Herausforderung der Kunst liegt im Experiment mit neuen Formen, die Unterscheidungen produzieren. Diese Experimente lassen sich nicht von einem bestimmten Gesellschaftsbegriff einengen. Was das Gesellschaftliche als große Klammer des Zusammenlebens heute ist, fällt schwer zu definieren. Wenn ich mir beispielsweise Informationsströme anschaue, dann hat ein erheblicher Teil - auch der bildliche - nichts mit Gesellschaft im herkömmlichen Sinn zu tun. Weltweite Vernetzung findet in Communities statt und diese sind mehr als „Communities of Project“ und weniger als tatsächliche Sozietäten zu beschreiben. Wir haben das Experiment der Globalität und das nicht nur als Universalkonzept, wie es das Bürgertum einst im Sinne des Weltbürgers vorgelegt hat. Wir haben Globalität als grundsätzliches Experiment mit Migration von Informationen, Ideen, Kunst- und Formierungskonzepten. Das Kuriose dabei ist, dass sich ein Weltbürgertum ohne Bürgertum herausbildet. Es entstehen Formen der Weltkommunikation und des Weltkünstlertums, die sich nicht lokal auf eine Stadt oder ein Land reduzieren lassen.

Diese Entterritorialisierungsprozesse sind nicht neu und finden sich in Debatten seit gut fünfzehn Jahren. Interessant und erstaunlich aber ist, dass wir schon derart lange in diesen Zuständen leben, ohne dass daraus große Neuentwürfe entstanden sind. Wir dürfen nicht so tun als gäbe es innerhalb dieses globalen Experimentierverhaltens keine Machtförmigkeiten, Gesinnungsmuster, Partzipations- und Zugangsbeschränkungen. Insofern ist das, was John Perry Barlow Mitte der 1990er Jahren in der „Cyberspace Declaration“ formuliert hat, ganz nett, wenn er sich etwa gegen den Staat ausspricht, aber in dem Moment, wo es sich um Formprozesse und um Formierungsgeschehen – künstlerisch, wissenschaftlich, kommunikationsstrategisch etc. – handelt, kommen Unterscheidungsordnungen ins Spiel, die wiederum als neue Gesinnungsformen betrachtet werden müssen. Dennoch eröffnen globale Vernetzungen ein großes experimentelles Potential, für dessen Communities und Strukturen allerdings weder die gleichberechtigenden Beteiligungsmuster noch die Areale des überschreitenden Künstlerischen erkennbar sind. Ich halte es für prekär, überlieferte Vorstellungen von Individualität, Singularität, Kritik und auch von Kunst in die informational landscapes zu importieren.

Was man klassisch mit Experiment verband, ist eine Laborsituation, in der die Regeln, nach denen ein Reaktionsablauf stattzufinden hat, vorher definiert wurden. Was derzeit stattfindet, ist aber so etwas wie ein selbstreferentielles Experiment. Es wird mit jedem neuen Datensatz und jeder neuen Information eine veränderte Experimentalsituation geschaffen. Mir ist das sympathisch, da Kommunikation das Kernexperiment des Menschen ist. Die Tradition der Institutionalisierung hat dies immer verdeckt, doch nun wird dies zu einer globalen Praxis, die verdeutlicht, dass wir letztendlich ständig mit uns selber experimentieren.

In dieses Selbstexperiment der Informationsgenerierung durch Kommunikation hineinzugehen, ist für mich ein Job für Kunst; dort hineinzugehen, nicht um repräsentative Kunst zu machen, dauerhaft etwas darzustellen oder um auf das Wesen des Menschen abzuzielen, sondern im Bewusstsein, dass es auch innerhalb der künstlerischen Darstellung keine dauerhaft formativen Sicherheiten gibt. Insofern lautet die Frage nach Gesellschaftlichkeit, welche - ich sage es pathetisch - Versprechen an die Menschheit innerhalb eines künstlerischen Denkens enthalten sind: Darf der Mensch mitmachen, verändern - bis zum Maschinencode -, hat sein Handeln Anschlussfähigkeit zu verschiedenen post-biologischen Systemen, wo ist die Konnektivität für die kulturelle und formative Anschlussfähigkeit? All diese Fragen hängen wiederum mit der Ökonomisierung zusammen und sind letztendlich auch wichtig, um sich verkaufen zu können.

Auch wenn es die bürgerliche Gesellschaft in ihrer ursprünglichen Form nicht mehr gibt, existiert dieses Gebilde Individualität auf dem Weltmarkt immer noch als Versprechen. Wie lange sich diese Idee aufrechterhalten kann, wird man sehen. Unabhängig von einer Krise der Individualität kann es vielleicht einmal zu einem Verschwinden des Individualitätskonzepts kommen. Sobald Menschen nicht mehr den Druck und das Bedürfnis verspüren, eine individuelle Person zu bilden und eine singuläre Position einzunehmen, wofür bis heute der Künstler prototypisch steht, wird dieses Ideal an Attraktivität verlieren. Im Moment lebt aber die Chance, die Idee des Menschen als biologisches und kulturelles Einzelwesen zu retten. Da das Biologische und das Kulturelle nur in Kooperation überleben können, braucht die Idee der Individualität neue Formierungsmöglichkeiten, die Konzepte der Kommunikation und des Informationsaustausches verfolgen und nicht territorialstaatlich oder klerikal sind. Es benötigt also Unterscheidungskulturen, die nicht auf Identität und strikte Abgrenzung beharren, sondern auf Identität als Experiment setzen. Dies meine ich nicht im Sinne eines radikalen Verzichts auf jede Wertigkeit, sondern im Sinne eines Bewusstseins, dass jede Entscheidung einen Wert darstellt, der den anderen eventuell behindern kann. Dies ist die Verbindung zwischen Individualität und Freiheit, die nur als Kooperationszusage funktioniert. Hier verstehe ich mich nach wie vor modern, mit der Eingrenzung, dass es mir eben nicht um Institutionalisierung geht, sondern um die Anerkennung ergebnisoffener Prozesse.

Transformationskrise des Subjekts

Das Subjekt leidet an einer Transformationskrise, die aus der Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft resultiert. Mit den Gründungsprozessen der bürgerlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert verbanden sich klassenpolitische Versprechen, die sich im 20. Jahrhundert zu erfüllen begonnen haben, aber in der verallgemeinerten Erfüllung jede Beheimatung verloren haben. Die psychischen Systeme finden im Verlauf des 20. Jahrhunderts in allen Gesellschaften bürgerlicher oder moderner Herkunft keine Chance der Positionierung mehr, was u.a. Luhmann in seiner Systemtheorie – die man als Erklärungsmodell und nicht als Wesensaussage nehmen soll – herausgearbeitet hat.

Das große Versprechen Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts lag in der Individualität als psychische Dimension und ihrer Bedeutung innerhalb der Kultur. Spätestens mit den Massenkriegen und der Massenproduktion von Waffen, Autos und Infrastruktur ist klar, dass das psychische System wenig bis gar keine Bedeutung innerhalb dieser geplanten Gesellschaftsprozesse hat. Deshalb ist das 20. Jahrhundert von dieser Krise des Individualitätskonzepts so stark betroffen, oder anders formuliert, das Bürgerliche ist in sich zusammengebrochen. Weder das Bürgerliche noch das große bürgerliche Individualitätsversprechen hat sich realisiert, denn Privateigentum, Freiheit und Verfügungsrechte lassen sich nicht für alle verwirklichen oder anders formuliert, die Idee von Smart Populations ist der bürgerlichen Ideologie fremd.

Diese Transformationskrise sehe ich nicht unbedingt negativ, da die Lösungsoptionen des 20. Jahrhunderts wie hermetische Kollektive, kriegerische Nationalität oder rassistische Geschlossenheit nicht mehr funktionieren. Eine Naturalisierung des Kollektivs, wie sie im 20. Jahrhundert versucht wurde, hat aus unterschiedlichen Gründen versagt. Heute sprechen wir daher nicht mehr von Kollektiven, sondern im Sinne von Luhmann, der weit abstraktere Funktionalitäts- und Ausdifferenzierungsebenen eingeführt hat, von Systemen. Es geht dabei nicht um die Verschmelzung von Gesellschaft und Individualität, sondern um soziale Systeme, in denen das Individuum als psychisches System keine vorrangige Bedeutung mehr hat. Bemerkenswert ist, dass Systeme, wie Luhmann sie analysierte, zunehmend schwinden und ihre Mächtigkeit gegenüber entterritorialisierten Systemen einbüßen. Dadurch ändert sich der Systembegriff, da eine neue Referenzstruktur entsteht und die Frage, welche Rolle Akteure spielen, muss neu gestellt werden. Spricht man von Individualität in einem aktiven Sinne, meint man Akteure, Agenten oder Aktanten und es gibt hierfür eine Reihe weiterer Hilfsbegriffe, um Individualität, selbstbestimmtes Handeln und Subjektivitätskonzepte nicht zu stark zu machen. Das heißt, einerseits lösen wir uns vom Kollektiv, von Gesellschaft, System, Territorialität und andererseits gehen wir in Globalität ein. Um diese Prozesse beschreiben zu können, brauchen wir ein neues Konzept von Individualität. Diese Transformationskrise stellt uns vor Schwierigkeiten, mit denen sich der Konstruktivismus seit langem herumquält, aber auch die Frankfurter Schule hatte damit schon reichlich lange ihre Probleme, ohne diese hinreichend komplex durchzuformulieren.

Individualismus als Konformismus?

Die Frage ist, wie innerhalb dieses Transformationszusammenhangs sich eine serielle Individualität einfügt. Widerspricht sie dem Agency-Status von Individualität und widersetzt sie sich möglicherweise den Transformationsprozessen? Die Differenzierung/Entdifferenzierung von Individualität als industrielles oder serielles Produkt stellt ein sensibel zu betrachtendes Begeleitgeschehen zu den Veränderungen des Identitätsprofils dar. Markt reagiert nicht nur auf Profitinteressen, sondern Profitinteressen sind an Konsumgewohnheiten und Lebensstile gebunden. Eine Individualität oder Persönlichkeitsstruktur lässt sich nicht vom Marktgeschehen trennen im Sinne von „ich kaufe mir gerne dieses oder jenes“; Dossiers, die Google oder Amazon produzieren, weisen darauf hin, dass sich Profile einfach und effizient identifizieren lassen.

Individualität hat heute stark mit Marktgeschehen zu tun, aber dieses Marktgeschehen wiederum mit veränderten Gegenstands- und Warenorientierungen, mit anderen Konsum- und Befriedigungsinteressen. Ich würde dies nicht gegeneinander stellen, aber ich denke – das wäre eine Aufforderung an WissenschaftlerInnen im Bereich Marktanalyse und Kulturwissenschaften sich mit zerrissenen Jeans auseinanderzusetzen -, dass die Ware zu einer Persönlichkeitsstruktur getragenen wird. Getragen heißt, ich trage das durch mein Verhalten selbst, ich zeige das bewusst und es wird von mir als Mensch innerlich belebt. Dieses innerliche Beleben der Ware ist sicherlich ein Teil des kuriosen Individualitätsversprechens als Serialisierungsmechanismus. Hinter diesem Versprechen steckt nicht nur das freie Bedürfnis etwas zu beleben und unabhängig, individuell machen zu können, sondern auch die geforderte Notwendigkeit, „du musst es machen“.

Bei den Ich-AGs und der Diskussion über die Individualisierung des ökonomischen Risikos läuft es in ähnlicher Weise: du kannst es machen, du musst es machen und weil du es machen musst, kannst du es. Darin drückt sich ein merkwürdiges Verhalten aus; die Formen sind da, und deine letztgültige Individualität besteht darin, diese Formen zu beleben. Man kann damit machen, was man will, aber es gibt keine Alternative dazu. Diesen Bereich zu hinterfragen und das Transformationsgeschehen als ein Trans-Form-Geschehen und nicht als ein Trans-Adaptions-Geschehen zu begreifen, erscheint mir ein dringliches Unterfangen. Es sollten grundsätzlich andere Belebungsmittel angedacht und die Frage gestellt werden, wie stark das Prosumenten-Argument denn tatsächlich sein kann. Man muss abwarten, ob Unternehmen hier mitmachen. Bei klassisch-serieller Produktion wird es wahrscheinlich nicht geschehen, aber in dem Moment, wo eine hochgradig digitalisierte Vorproduktion entsteht, ist es möglicherweise chancenreich oder sogar zwingend mit stärkeren Variationen aufzuwarten.

Das individuelle Beleben der Form ist derzeit ein großes Thema und wenn einmal Individualitätsentscheidungen genau auf dieser Ebene laufen, stellt sich die Frage, ob wir über Formen selbst entscheiden können, ob wir das Recht und die kulturelle Macht haben Formen neu zu entwickeln und ein neues formatives Geschehen zu erzeugen, oder ob wir wie bisher nur das Recht haben etwas zu beleben, was woanders schon längst entschieden ist. Genau hier sind wir bei grundsätzlichen, gesellschaftstheoretischen Problemen, bei Fragen der Institutionalisierung, der Normbildung usw., wo es einen enormen Nachholbedarf sowohl im wissenschaftlichen, politischen als auch im künstlerischen Zusammenhang gibt. Dafür benötigen wir neue Konzepte, um nicht auf die Einzelmenschlichkeit verzichten zu müssen - das ist Quelle jeder Differenzierungsleistung – und trotzdem auf Kooperation aufbauen zu können. Damit sind wir im Kern der Beschreibung aller Disziplinen. Was wir brauchen sind Transkooperations- und nicht Transdisziplinierungsprozesse.

*Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Manfred Faßler, das im März 2006 stattfand.

Manfred Faßler <fasslermanfred@aol.com>

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