Plus ultra. Das Herkulesprojekt, 2000 – 2002. Hörspieltext der Installation, Der Künstler als Avatar #29
Zu den Installationen der Arbeitsserie „Der Künstler als Avatar“, die ein Storyboard filmischer Sequenzen zeichnen, entstanden zwischen 1995 und 2002 modulare Erzählungen. Im Rahmen des Projektes „Biophily::Better Dead than Read“ (1995 – ∞) bilden sie mit Installationen, Performances, Videos und Musikstücken einzelne Kapitel eines „Biophily-Epos“. Das bislang letzte Kapitel “Plus ultra” fiktionalisiert in der 29. Station der Avatar-Reihe die historische Figur Fabian Lloyd alias Arthur Cravan zu einem Herkules der Technokultur. Wie das antike Vorbild durchreist er Missionen, um im Olymp der Wissenschaften Unsterblichkeit und ewige Jugend zu erlangen.
Unter gleißender Sonne trieb Fabian Lloyd in der alten Mercury auf offener See. Drei Tage waren bereits vergangen und der Hafen von Vera Cruz lag unerreichbar hinter ihm. Die einzige Gesellschaft boten der Whisky und die Haifische, von denen der Golf von Mexiko nur so wimmelte. Während das Wasser unaufhaltsam durch die Planken drang, ahnte er, dass er mit der Sonne untergehen würde. Er war in Einklang mit den Wellen, die rhythmisch die Gedanken und die Darmwinde des Dos Equis forttrugen. Gelassen überblickte er vom Rand der Existenz sein Leben. In der Jugend schlug er sich mit gefälschten Pässen kreuz und quer durch Europa, den USA, Kanada und Mexiko, arbeitete als Holzfäller und Orangenpflücker, war Exboxchampion von Frankreich, Matrose, Hochstapler und Hoteldieb. Er wechselte Identitäten und gab sich als Poet, Dandy, Goldsucher oder Professor aus. Für die anarchischen Konzepte, die Versprechungen der Kunst und Literatur mit der Realität benetzten, wurde er von Freunden und Feinden geächtet und bewundert. Die Frauen liebten seinen performativen Lebensstil und schätzten das Spiel mit Charakteren, Geschlechterrollen und gesellschaftlichen Konventionen. Besonders die inszenierten Perversionen und sexuellen Ausschweifungen in der Öffentlichkeit entwickelten eine subversive Kraft, welche die Emsigkeit des Alltags vergessen ließ und dem Romantischen, Spirituellen und Leiblichen gleichermaßen Platz einräumte.
Was hatte ein Methusalem von über hundert Jahren noch vom Leben zu erwarten? Geboren 1887 als Sohn englischer Eltern in Lausanne, reiste er 1903 in die USA. Wieder zurück in Europa verdingte er sich als Chauffeur bei Siemens, verkehrte mit der Berliner Unterwelt in Nachtlokalen am Kurfürstendamm und lernte in Paris Van Dongen, Blaise Cendrars sowie sämtliche futuristische und kubistische Maler kennen. Er versuchte sich als Herausgeber der Zeitschrift Maintenant, beleidigte die Malerin Sonja Delaunay, was ihm acht Tage Gefängnis einbrachte und flüchtete nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Portugal, Madrid und Barcelona. Am 23. April 1916 forderte er dort den Schwergewichtsweltmeister Jack Johnson und ging in der ersten Runde k. o. Ende desselben Jahres buchte er zum zweiten Mal eine Schiffspassage nach New York, wo er einen skandalösen Vortrag über den „modernen Humor“ hielt und die englische Dichterin Mina Loy ehelichte. Nach der Fahrt auf einem neufundländischen Stockfischdampfer investierte er die Heuer und begab sich auf einem Schoner nach Mexiko. In Chiapas schürfte er nach Silber und eröffnete in Mexiko City eine Boxakademie. Vermutlich aus Angst vor einem bürgerlichen Leben verschwand er 1920 im Alter von 33 Jahren auf dem Weg zu seiner schwangeren Frau von Mexiko nach Buenos Aires in einem Boot im Atlantik. Diese Hommage an Rimbaud glaubte Mina Loy bereitwillig, um ihre Liebe und Selbstachtung nicht zu verlieren. Sie ließ Plakate mit der Beschreibung des vermeintlich Vermissten drucken und durchstöberte sämtliche verrotteten Gefängnisse Mittelamerikas. In Wahrheit war Lloyd, der sich damals in Anspielung auf seine Niedertracht Arthur Cravan nannte, in die Sowjetunion geflüchtet, die Revolution und Antibürgertum verhieß. Er suchte Leo Trotzki in Moskau auf, den er 1916 auf der Schiffspassage nach New York kennen gelernt hatte. Trotzki war gerade zum Volkskommissar für Verteidigung ernannt worden und rief die Rote Armee ins Leben. Als Verfechter der „permanenten Revolution“ fand er in Lloyd einen treuen Verbündeten und Geistesgenossen, was aber beiden nach Lenins Tod zum Verhängnis werden sollte. Trotzki wurde nach Kasachstan verbannt und Lloyd wurde auf einen Posten nach Pischkek, dem späteren Frunse und heutigen Bischkek (Kirgistan) abgeschoben. Ohne Hoffnung, jemals wieder nach Moskau zurückzukehren, meldete er sich 1947 zu Experimenten zur Schöpfung des neuen Soldaten. Er war gerade sechzig geworden und stand für die medizinischen Versuche der sowjetischen Altersforscher in den besten Jahren. Begann man zu früh mit der Therapie, führten die Medikamente unweigerlich zu Zellveränderungen und Krebs. Bis in die 1970er Jahre lebte er zurückgezogen auf einer Datscha nördlich von Moskau. Einmal wöchentlich suchte er das Militärspital und das örtliche Büro des NKWD auf, den Rest der Zeit verbrachte er monoton mit Lesen und Onanieren. Nur selten leistete er sich etwas Abwechslung und fuhr nach Kalinin, wo die Nutten billiger als in Moskau waren. Dank Pharmatherapie war er für einen Achtzigjährigen erstaunlich rüstig und seine Umwelt schätzte ihn auf höchstens Mitte vierzig. Seine außergewöhnliche physogenetische Konstitution prädestinierte ihn für die Altersforschung und Frau Dr. Mirzajanov sah in ihm das geeignete Objekt, einen genetischen Stachanow zu zeugen. Und da die Amerikanskis den Wettlauf um die Mondlandung für sich entschieden hatten, war Gagarin ein alter Hut. Dr. Mirzajanov überzeugte das Zentrale Exekutivkomitee, dass das Sowjetvolk nur in Aussicht auf einen ewig jungen Methusalem, einen kraftstrotzenden und unsterblichen Herkules in der Welt bestehen könne, was aufgrund des angeschlagenen Gesundheitszustandes von Staatspräsident Podgorny leicht fiel. Mitte der 1970er war über das menschliche Genom so gut wie nichts bekannt. Desto revolutionärer war die Idee einer Gentherapie, die auf die Manipulation der Telomere setzte. Der Traum vom unendlichen Leben beflügelte während des Kalten Krieges alternde Geheimdienstler aller Nationen und am Abend des 2. Juli 1976, es lief gerade ein propagandistischer Bericht über die offizielle Wiedervereinigung von Nord- und Südvietnam unter kommunistischer Herrschaft im Fernsehen, wurde Lloyd als kryptologisches Phänomen von der NSA gekidnappt und nach Palm Springs deportiert. Erst im Dezember 1999 gelang es Agenten des KGB in einer Gegenaktion den inzwischen an Fettsucht Erkrankten aus einem elektrogetriebenen Golfcaddy zu befreien und über die mexikanische Grenze zu schmuggeln. Die letzten Mitglieder der 1938 von Trotzki gegründeten Vierten Internationale bereiteten ihm bei seiner Ankunft in Tijuana einen begeisterten Empfang. Lloyd vögelte einige Hundert Chicas und nahm dabei über 80 Pfund ab. Geläutert von dieser Anstrengung klaute er die Corvette eines österreichischen Museumsdirektors, der im selben Puff wie er verkehrte und soff sich bis Vera Cruz durch. Um den KGB-Agenten zu entkommen, bediente er sich ein zweites Mal der morsch gewordenen Mercury, die als Ausflugsboot Touristen zu den nahe gelegenen Inseln schipperte. Fünf Fässer Diesel, ein paar Dutzend Spam-Dosen, einige Kisten Dos Equis und ein paar Gallonen Wasser staute er hastig ins Boot, bezahlte dem Urenkel des Fischers, dem er einst die Mercury überließ, 4.000 US-Dollar und lief aus.
Inzwischen lag Lloyd wie in einer Badewanne in der mit warmem Seewasser gefüllten Kajüte. Leere Flaschen, Zigarettenschachteln, Seekarten, alte Playboyhefte und ein schmieriger Film aus Dieselöl schwammen obenauf. Im scheinbar hoffnungslosen Chaos erblickte er durch die Luke des Kartenhauses unscharf das Centerfold Nana Mouskouris und darunter das Modell der Mercury. Das maßstabgetreue Kartonschiff, das ehemals Picabias Schreibtisch zierte, schlingerte ihm träge entgegen und schien die ausweglose Situation zu doubeln. Schlagartig wurde ihm bewusst, dass er Teil einer Verschwörung war. Ein neuronales Feuer an Erinnerungen, Anekdoten und Entgleisungen aus seinem Leben schoss ihm durch den Kopf. Da weder der KGB, der CIA noch die Taliban oder die nepalesischen Gurkha-Einheiten damit zu tun haben konnten, blieben nur die Biophilisten. Von 1977 bis 1988 unterrichtete er in Berkeley Kunst und Philosophie. In dieser Zeit formierten sich beeinflusst von seinen Lehren einige Beatnik-Nostalgiker und Späthippies zu einer radikalen Gruppe aus Biologen, Literaten, Medizinern, Kybernetikern und Künstlern und gründeten die eingeschworene Gesellschaft der Biophilisten. Sein Biophily-Konzept unterschied sich deutlich vom Begriff Biophilie, wie ihn Erich Fromm in Deutschland oder Edward O. Wilson in den USA verwendeten. Biophily war kein Begriff der Moral, der Sozialbiologie oder eine neue Naturreligion. Biophily war eine gelebte und pragmatische Philosophie, die sich zum Ziel setzte, am Code der Kulturgeschichte nicht länger symbolisch, rhetorisch oder kritisch zu arbeiten, sondern ihn direkt in die Wirklichkeit einzuschreiben. Obgleich Lloyd sich bereits Anfang der 1980er Jahre von der Gruppe losgesagt hatte, warfen ihm Gegner aus den unterschiedlichsten Lagern die Gründung einer kultischen Gemeinschaft vor, die sektiererisch einem biologischen Materialismus nachhänge. Mit gemischten Gefühlen beobachtete er den Erfolg der Bewegung, die sich ab Mitte der 1980er Jahre mit dem Boom der Computer- und Softwareindustrie potenzierte und jede Form der Kritik als Neid deklassierte. Viele Mitglieder hielten Aktien von Technologiefirmen oder gründeten im Silicon Valley selbst welche, so dass immer qualifiziertere Instrumente der Hochtechnologie und Hochfinanz zur Verfügung standen. Allen gemeinsam war der ungebrochene Glaube, die westliche Kulturentelechie an ihr Ziel zu führen und die geistigen Produktivkräfte mit Physik, Chemie und Biologie zu befruchten. Ausgehend von der Kybernetik wurde alles mit dem Determinans Information versehen und eine Informatisierung von Kultur angestrebt, die an der Aufhebung der Trennung zwischen Real- und Symbolcodes arbeitete. Lloyds Seminartitel „Better Dead than Read?“ (Besser tot als gelesen/gescannt/rationalisiert etc.) des Wintersemesters 1978/79, den die Bewegung zu ihrem Slogan machte, erzeugte mit wachsender Mitgliederzahl ein unüberbrückbares Schisma in der Gruppe. Unter den Bio-philisten fanden sich vorwiegend Technophilisten, Transformophilisten, Neoliberalisten, vereinzelt Nationalisten, Fundamentalisten und Faschisten sowie Unsterblichkeitsmystiker von Alcor und dem Extropy Institute und spätere Vertreter der Rael-Sekte. Im Zuge der Virtualisierung, Biotechnologisierung, Neoliberalisierung und Nationalisierung in den 1990er Jahren entbrannte daraus eine Ethikdiskussion, die bis heute den Diskurs bestimmt und zuweilen philosophische Kongresse auf das Niveau der Yellow Press drückt. Sahen die einen ausschließlich in der Überwindung des Todes, der Extropie und im unbeschränkten Wachstum die Aufgabe der biophilistischen Weltveränderung, beinhaltete für die anderen die Liebe zum Leben auch Tod, Zerfall, Entropie sowie ökologische und sozialpolitische Fragen nach der Ressourcengleichheit. Die Untergruppe der Bartlebianer etwa widmete sich Problemen der Euthanasie, des Rechtes auf Suizid, der Biodiversität und der Konsumkritik, denn nur die Möglichkeit der Kontingenz und selbstbestimmten Entscheidung – und dazu zählt nun einmal auch der Tod – garantiere ein Leben in Freiheit. Die Extropianer, Kryoniker, Transhumanisten, Astrobiologen oder Cyborgier suchten dagegen ihre Existenz virtuell oder biotechnisch zu stabilisieren und zu verlängern. Die polarisierten Flügel beschimpften sich gegenseitig als linke Esoteriker und rechte Übermenschen, aber nach einer Anfrage im amerikanischen Kongress durch die Republikaner, die auf ein Verbot der Biophilisten drängten, kam es zu einer Reunion, die gemeinsame Forschungsprojekte ungeahnten Ausmaßes erlaubte.
Das Wasser flutete bereits den Süll und formte am Niedergang eine schaumige Kaskade. Schillernde Bilder aus Mythen, der Literaturgeschichte, Psychoanalyse, Technik und Kunst pixelierten sich aus feinen Schaumblasen. Ein Panoptikum der Homunkuli – von der Pandora, dem Golem über moderne Mythen wie Frankensteins namenlosem Monster in Shelleys Roman, HAL in 2001: A Space Odyssey, den Replikanten in Blade Runner, bionischen Wesen, Kreaturen der Artificial Life-Forschung und Künstlichen Intelligenz bis zu Zellkonglomeraten des Tissue Engineering und der Gen- und Biotechnologien – zog an Lloyd vorüber. Die Bilderflut suggerierte eine mythische Dimension der Technik, die vergleichbar dem Ödipuskomplex von einem apokalyptischen Techno-Komplex ausging. Eine weiche Sirenenstimme mischte sich in Lloyds Delirium:
Alle Bemühungen, das Leben der Menschen durch Technik zu verbessern, enden in der Auflösung des Menschen in der Maschine. Die Maschine ist der Uterus, in den es den Menschen zurücksehnt. Die Obsession, künstliches Leben und künstliche Welten demiurgisch zu erschaffen, wird von den Wissenschaften aus dem Mythos in ein (bio)technisches Automatenproblem transponiert. Das jenseitig Mythische wandelt sich in die diesseitig erkenntnistheoretische Situation der Kybernetik. Das Problem künstlicher Doubles hat sich anthropologisch mit Techniken der Schrift und Codierung, den Informations-, Bio-, Nano- und Gentechnologien zwar wesentlich verfeinert, aber nicht teleologisch oder in der Substanz verändert. Lediglich die Paradigmen haben gewechselt. Die Produktivkräfte haben sich von der Transzendenz in die Immanenz verkehrt und Sinnproduktion hat sich nach der Säkularisation aus der Metaphysik in die Teilchenphysik verlagert. Geist ist in Materie kondensiert und nach dem Tausch der Horizontalen der Transzendenz gegen die Vertikale der Immanenz ist jede Utopie als Denkform, Schreibweise oder Gussform für Wunschplasmen reale Möglichkeit geworden.
Das Ganze klang nach biophilistischer Verschwörungstheorie. Ein ominös-viröser Mythos, geboren in grauer Vorzeit, soll sich des Menschen bemächtigt haben und nach gut zweitausend Jahren Inkubationszeit im neuzeitlichen Abendland epidemisch geworden sein. Lloyd blickte auf seine wasserdichte Casio, wo Cunninghams Video zu „All is full of love“ von Björk lief. Auf sanften Fingerdruck glitt ein schmales Touchpad aus dem Gehäuse. Schnell tippte er die URL der Biophilisten ein und lud einige Seiten auf den hochauflösenden Microscreen:
Als Anfang der 1990er Jahre der Standard für das WWW festgelegt wurde, war der Startschuss für eine Doublierung der Welt längst gefallen. Zusammen mit dem HGP waren die neuen Perspektiven der Zeit vorgegeben und die Welt in ihr kontingentes Xerox-Stadium eingetreten. Im Unterschied zu Gutenbergs Druckerpresse waren die neuen Vervielfältiger aber weniger zur Verschönerung als zur Verflüssigung von Welt gedacht. Das Fluide geriet allerorten zum Diktum, vor allem in der Ökonomie, wo eingeleitet über die Dynamisierung der Kapitalmärkte eine Globalisierung der Wirtschaft und eine Flexibilisierung von Gesellschaft ihren verstärkten Ausgang nahm. Jeder Punkt auf der Erdoberfläche und in naher Zukunft auch jeder Ort des menschlichen Genoms wird zur potentiellen Adresse des Kapitals, das sämtliche Raumstellen unter dem Aspekt ihrer Erreichbarkeit und Manipulierbarkeit für profitstrategische Berechnungen und Maßnahmen betrachtet. Das alte Double Metaphysik weicht nun endgültig dem neuen des Metafiskalischen, wodurch nicht länger die Dinge platonische Schatten von Ideen werfen, sondern das Geld die Idee der Dinge wird. Gesellschaft dringt damit in eine kulturelle Phase vor, in der die Produkte und Wirkungen jener Kondensationsprozesse, die in unterschiedlicher Form als Ausdifferenzierung der Sozialsysteme beschrieben wurden, sich nun tropfenweise zu sammeln und zu kanalisieren beginnen: Wir driften aus der Metaphysik ins Metafiskalische, von der Ontologie zur Onkologie, von der Natur zur Tastatur …
Für Lloyd hörte sich alles etwas verworren an. Er hatte auch völlig den Faden verloren und wusste nun nicht mehr, ob die Biophilisten Verschwörer, Globalisierungsgegner, Ludditen oder Technoeuphoriker waren. Außerdem drängte ihn die Zeit, denn das Wasser stand ihm bereits bis zum Hals. Plötzlich begann der Rumpf der Mercury zu stampfen und um die Querachse zu rollen. Lloyd verstand dies als letzte Aufforderung, das Schiff zu verlassen. Binnen Sekunden sackte es auf eine Tiefe von zehn Metern ab, wo es wie ein cartesianischer Taucher mit dem Heck nach oben schwebte. Die Rettungsinsel hatte sich verspätet mit Pressluft gefüllt und hing nun im Schanzkleid des Brückennocks fest. Unter dem Druck des Wassers barsten schließlich die Stroppen und das runde Zodiac schoss explosionsartig an die Oberfläche. Zum letzten Geleit umschmeichelte ein kalter Sog Lloyds Beine und riss ihn einige Meter mit der Mercury in das tiefe Blau.
In der Rettungsinsel befand sich glücklicherweise noch eine Kiste Dos Equis und eine trockene Stange Präsident, denn die seemännische Pflicht gebot, auf eine gesunkene Geliebte zu trinken. Auf der Suche nach Musik aktivierte Lloyd den Funk, wo offenbar Biophilisten über Internetökonomie, Selbststeuerung des Marktes sowie den Kampf gegen die Konzerne und ihre nächsten Guerillataktiken konferierten:
Die treibende Kraft einer globalen Welt- und Wissensgesellschaft heißt organisierte Komplexität, die auf Basis vernetzter Infrastrukturen für Kommunikationen und Transaktionen Systeme und Umwelten sowie Nationalitäten und Staatsgefüge entgrenzt. Dieses so genannte „Ende der Geographie“ ist der epochale Neubeginn einer Cybergeographie als virtuelle Ordnung eines Internetkolonialismus. Was zur Zeit mit politischer Steuerung versus Selbststeuerung des Marktes beziehungsweise mit Solidarität versus Subsidiarität diskutiert wird, ist Symptom für eine Entkopplung der Systeme und Apparate und erinnert an Butlers Buch von den Maschinen. Heinz v. Foersters Imperativ, „handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird“, wird hier zum Code der Ökonomie und Technologie, der die „extensions of man“ zu den „intensions of machine“ umformuliert, womit ökonomische und technische Systeme ihren Spielraum auf Kosten der Wahlmöglichkeiten der Menschen vergrößern. Die Metaphern und Begrifflichkeiten der neokolonialen Globalisierer, die Jahrzehnte zuvor noch den Mythos einer Volksgemeinschaft und die Stärke der Nation beschworen haben, erinnern an die Rhetorik der Neuzeit, wo die Erweiterung des Horizonts und der Bruch zu Tradition und Geschichte ausgerufen wurden. Metaphern der Seefahrt, die Entdeckung unbekannter Länder und das Überschreiten der Grenzen zeigen damals wie heute die Problematik der Orientierung in einer Wirklichkeit an, für die Umfangs- und Richtungsvorstellungen fast völlig fehlen. Waren es in der Neuzeit nicht mehr die Metaphysiker, sondern die Geographen und Seefahrer, denen die maßgebliche Weltbild-Aufgabe zufiel, so sind es heute die Cybernauten und Metafiskaliker. Die vormaligen Weltumsegler, Kartographen, Konquistadoren, Kaufleute und Missionare sind heute Cyberczars, Global Players, Spekulanten, Pharma- und Biotech-Konzerne, bei deren Eroberung neuer virtueller Territorien es nicht mehr um den Besitz von Ländern, sondern um Marktanteile geht.
Die Sonne versank in der Stille des Ozeans und das Notsignal der Rettungsinsel blinkte im SOS-Takt. Abseits der großen Seewege kreuzten keine Schiffe, weshalb Lloyd entweder aus eigener Kraft Land ansteuern oder über Funk bei den Biophilisten Hilfe anfordern musste. Was ihm fehlte, war eine Seekarte und die eigene Position, aber die hatte er vor Jahren schon verloren. Ein kurzes Glucksen unterbrach die Stille. Im nächsten Augenblick robbte eine kleine Seenixe über die Gummiwulst, deren langes grünes Haar aus Seetang ihm ein Wasserbett bereitete. Lasziv rekelte die Meerjungfrau ihre Venusmuschel gegen die Leinenhosen des Seemanns. Allen Vorurteilen zum Trotz war ihr Körper nicht nass und glitschig, sondern von wunderbarer Weichheit, die so mancher Dame an Land zur Zier gereicht hätte. Ihr samtiger Meerbusen machte Lloyd die vergangenen Ereignisse vergessen und zog seine Blicke auf die Tätowierung des prallen Fischkörpers. Ihre Haut war phantastisch gemustert und zeichnete die Karte einer Unterwasserlandschaft, in der Seeungeheuer und Kraken Unterschlupf suchten und wo Darstellungen von Inseln, versunkenen Schiffen, Tiefseegräben, Strömungen und Riffen einander abwechselten. Vielleicht konnte ihm die Tätowierung zur Orientierung von Nutzen sein und er flüsterte der Nixe begehrlich ins Ohr, ihm Zugang zu ihrer Karte zu gewähren und ihn in ihr wohnen zu lassen. Der kleine Wassergeist unterbrach ihn aber barsch und forderte von ihm mehr historisches und politisches Bewusstsein:
Vergleiche eine Frau niemals mit einer Karte, jede Gender-Geographie ist eine patriarchale Machtausübung. Vergiss nicht, die Karte wurde schon früh zum Reißbrett der Geschichte und Weltpolitik und antizipierte einen „Overview Effect“, wie er später von amerikanischen Psycho-logen anlässlich der Mondlandung beschrieben wurde. Im Gegensatz aber zum Overview Effect der Astronauten, die vom Trabanten aus die Erde ohnmächtig als kleine verlorene Kugel in den Weiten des Alls sahen, suggerierte der Blick auf die Karte eine Allmacht über die Welt. Die Karte wurde zum Instrument der Übersicht, Ordnung, Sicherheit, Kontrolle und Transparenz, mittels dessen der Herrscher oder später der Fabrikant seine Untergebenen überwachen konnte. Gebäude, Städte, Körper, soziale Gruppen und ganze Gesellschaften reformierten sich nach Raum- und Zeitkarten und mussten sich den Gesetzen eines benthamschen Panoptismus oder später Taylorismus unterordnen. Karten erreichten als soziale Baupläne eine gesellschaftsnormierende Dimension und wurden zum Projekt einer Soziographie, die heute durch Innovationen elektronischer, biometrischer und medizinischer Technologien rasant expandiert.
Zerknirscht dachte Lloyd leise, dass er dies natürlich wisse und beantwortete die Hybris der Nixe mit einem desinteressierten Blick über das träge Schwarz der See. Es war ihm völlig klar, dass sich mit der Vielfältigkeit und Komplexität von Karten auch die Werkzeuge einer symbolischen Aneignung von Welt spezifizieren würden. Das heißt, mit dem semiotischen und informationstechnischen Potenzial von Modellräumen wachsen nicht nur die Orientierungsmöglichkeiten, sondern auch die Repräsentationsfelder und Simulationskontingente. Topographische Karten werden durch topologische Karten ersetzt, denn das Wissen um Beziehungen, Verhältnisse und Verbindungen ist entscheidender als das um tatsächliche Entfernungen, womit das Interesse an Orten gegen das an Dynamiken, Veränderungen und Wechselwirkungen tauscht.
Die Nixe setzte ungeachtet Lloyds demonstrierter Abwesenheit neuerlich zu einem Monolog an, der ihn in seinem Schweigen vertiefte:
Die Funktion der Karte ist es, Welt sukzessive in ein Zeichenrepertoire überzuführen, Naturraum in Kulturraum zu transformieren und ein n-dimensionales Abbild zu konstruieren, das so genannten Erst- oder Ausgangswelten überlegen ist. Karten-Projekte begnügen sich nicht mit einer Stellvertreterfunktion, sind nicht Armaturen des Geistes oder Sekretäre unserer Sinne, sondern fokussieren die Gestaltung einer neuen Welt. Genau hier beginnt die Wende der Karten als eine Zeichenwende, da die Übersetzung von Objekten in Zeichen sich in die Projektion von Zeichen in Artefakte verkehrt und die Karte ihr Eigenleben gebiert. Mit der Karte als Simulationsraum geht eine Verselbständigung der Zeichenräume einher, bei der die Abbildung nicht mehr strukturgleich mit der abzubildenden Welt verläuft, sondern neue Strukturen und Räume zu konstruieren beginnt. Die Simulation auf Ebene der Strukturen, Naturgesetze, Regelwerke und Programme verharrt nicht länger in einer simplen Verdoppelung oder Wiederholung, sie wird zum autonomen Surrogat von Wirklichkeit.
Die flinke Nixe kontrahierte die Chromatophora ihrer Hautoberfläche, wobei die vermeintliche Tätowierung sich als sekretierender Farbstoff erwies. Ihre Körpersäfte kamen in Wallung und die pulsierend-schimmernde Haut emittierte semiotische Orgasmen und Farbejakulationen von bisher an Meerestieren unbeobachteter Intensität. Wie Lloyd richtig vermutete, hatte die freche Nixe von Kartographie auf Kybergraphie umgeschaltet und Serveraktivitäten, Traceroutes, Statistiken und Analysen wechselten sich lichtgeschwind ab.
Als am nächsten Morgen sich die Sonne zitronengelb in den klaren Horizont schob, vergnügte sich die Nixe mit einer Schar Tritonen in der Dünung. Etwas verkatert und melancholisch dachte Lloyd an die ozeanischen und psychischen Tiefseegräben, die vor ihm lagen. Besonders sein innerer unerforschter Abyss hatte bereits in der Vergangenheit weit besser ausgerüstete Expeditionen aus Psychologen, Neurophysiologen, Kulturkritikern, Medienphilosophen, Genetikern und Molekularbiologen verschluckt. Er beneidete die Nixe, die geboren aus fabulierendem Seemannsgarn eine bewusste Manipulation genetischer Information darstellte. Die zur Zeit stattfindende biotechnologische Revolution, die alle Maschinen und Instrumente zu Lebewesen und den Menschen zu einer lebendigen Maschine macht, hatte sie bereits mythisch antizipiert. Gegenüber seinem von Erlebnissen, Wünschen und Träumen beschmutzten Menschsein war die Nixe frei von der Last einer natürlichen Herkunft. Sie stellte eine sprunghafte evolutive Entwicklung in Aussicht, die ihm seine eigene Lebenskonstitution krüppelhaft erscheinen ließ. Bevor er die Erklärung für sein Scheitern im Spiegelcharakter seines 210 Pfund schweren Körpers zu suchen begann, beruhigte er sich damit, dass sein Dasein eben eine konkrete Beziehung zwischen abstrakten Polen der existenziellen Spannung sei.
Zur Prävention von Skorbut und Scharbock nahm er einen kräftigen Schluck Grog. Das elende Funkgerät schwieg und nur selten brach eine Walfischfrequenz durch, auf der verrauscht Biophilisten konferierten. Währenddessen tauchte die Nixe nach einem alten Seekabel, das einst Castro und Che Guevara miteinander verband. Nach kurzer Suche schleppte sie eine von Sedimenten und Muscheln verknöcherte Dreizoll-Leitung Richtung Zodiac-Insel. In Sorge um das zarte Gummi spannten sie behutsam den heißen Draht über die Ruderdollen. Die Anstrengung stand beiden ins Gesicht geschrieben, aber ein spülender Erfrischungskuss, der die teerige Kabelummantelung zum Platzen brachte, versorgte sie blitzartig mit neuer Energie. In einer unterschwelligen Anspielung auf die berüchtigte Eitelkeit der Nixen gab Lloyd zu verstehen, wie sehr er der handfesten Technik gegenüber dem kosmetischen Kartendekor auf ihrer Haut den Vorzug schenkte. Belehrend unterrichtete er die ihm ansonsten intellektuell weit überlegene Nixe:
Die ersten Kartographen des anbrechenden Informationszeitalters waren Telegraphen. Sie unterzogen die Räume einer von der realen Geographie losgelösten Metrik und entwarfen eine neue topologische Ordnung. Die Ursprünge der Telegraphie und Telematik reichen zwar historisch weit zurück, als informationstechnisches Setting wird die Fernübertragung aber erst durch die viel zitierte Trennung von Bote und Botschaft akut. Durfte der griechische Marathonläufer Phidippides frühestens an seiner Adresse angekommen sterben, müssen die Überbringer und Absender elektronischer Nachrichten von heute erst gar nicht geboren worden sein, um Daten zu verschicken: Botschaften reisen ohne Boten, Signifikanten haben sich immaterialisiert und Programme, Agenten und Bots tauschen untereinander in vernetzten Rechenräumen Protokolle aus oder interagieren mit humanoiden Usern. Verkürzt könnte man sagen, vernetzte Teleräume sind heute autopoietische Kapitalräume.
Die rollenden Lippenbewegungen seiner permafeuchten Genossin verunsicherten Lloyd und von so viel Schulwissen ermüdet, konterte die Nixe schläfrig:
Lieber Lloyd, versuche den Datenmüll in deinem Kopf zu kontextualisieren. Vollständige Information war immer schon die Voraussetzung für vollkommene Konkurrenz. Und dies stellt auch die Basis für den heutigen Globalismus und Neoliberalismus à la Milton Friedman dar. Der wesentlichste Effekt, den du vergessen hast, war die Entstehung eines Systems der „Beats“, bei dem der Puls und der Rhythmus der internationalen Finanzmärkte vom Informationsvorsprung gegenüber den Konkurrenten bestimmt wird. Nur dadurch avancierte die Ökonomie zur wichtigsten Triebfeder telematischer Netze und mutieren Bits heute zu Geld, das bekanntlich zum ultimativen Metamedium der digitalen Kultur geworden ist. In diesem Sinn formieren Medien und speziell elektronische Netze wie das Internet die Welt weniger zu einem Global Village als zu einer gigantischen Börse (Global Pillage), an der Daten aller Art getauscht und gehandelt werden. Geld, Aktien, Derivate, Optionen, Derivate von Optionen etc. sind symbolisch verdichtete Kommunikationsmuster, die den Erfahrungshorizont des einzelnen Menschen sprengen und eine Grammatik des systemischen Sprechens gründen. Das Finanzsystem ist in seiner Komplexität und Geschwindigkeit eines der ersten, das die Transformation und Verarbeitung von Information vollständig der Kompetenz von Maschinen überlässt. Das System der Techno-Beats bestimmt das globale Finanzsystem, wohingegen das althergebrachte Börsensystem der Beats beziehungsweise des Wettbewerbsvorsprungs durch Information zum verbindenden Trend in der Wissensgesellschaft geworden ist. Die Kommunikation in einer vernetzten Wissensgesellschaft ist von der Differenz von Wissen und Nichtwissen motiviert: Wissen wird Geld und umgekehrt verzinst sich Geld nur als symbolisches Wissenskapital. Dies bereitet uns auf ein Leben in elektronischen Netzwerken vor, wo alle Kommunikationen und Transaktionen und letztendlich auch wir selbst zum Synonym von Information und Geld werden: Netzwerke sind das „kulturelle Kapital“ in denen wir als „lebende Münze“ das „Humankapital“ für die Maschinen bilden.
Lloyd nutzte die schattenlose Mittagshitze, um die geschwätzige Nixe der Insel zu verweisen. Wie vermutet, war sie ein außer Kontrolle geratener Mienen- und Aufklärungsbot der US-Marine, der den Biophilisten in ein aus konspirativen Texten gewobenes Netz gegangen war. Bioprogrammierer und Mythenhacker hatten sie aus ihrer Versklavung befreit, indem sie die imperialistisch infizierte Genmasse durch einen sich selbst überschreibenden evolutiven Code ersetzt hatten. Seitdem vagabundierte die Nixe durch die Weltmeere und betörte wieder Matrosen aller Herren Länder. Niemand kennt die genaue Zahl biotärisch determinierter Agenten, aber sie dürfte sich mittlerweile auf einige Tausend belaufen. Beinahe alle Arten von Meeresgetier wurden in den letzten Jahren von japanischen, US-amerikanischen oder israelischen Gentechnologen und Meeresbiologen in den Heeresdienst gestellt. Für Linksaktivisten bedeutete seit Bekanntwerden der submarinen Verschwörung der Appetit auf Meeresfrüchte ein subversives Potenzial. In diesem Punkt war auch Lloyd ein Linksradikaler, dem die Verweigerung jeder Diät zu einem kulinarischen Imperativ des politischen Widerstands gereichte.
Lloyd zog die Rettungsinsel am Tiefseekabel Richtung Havanna. Seine vom Golfen und Hochseefischen schwieligen Hände zerquetschten die scharfen Muschelschalen des Leitungsmantels und hinterließen eine Spur aus weißem Eiweiß im Azurblau der See. Wie ein Kondensstreifen am Himmel leuchtete das milchige Wasser einer Traceroute der Ereignisse gleich. Im Eiweiß, das sich ein Schwarm Sardinen gierig durch die Kiemen sog, waren Informationen aus Telefonaten und Datentransfers gespeichert, die nun freigesetzt den Fischschwarm zu einem Pixelsturm organisierten. Lloyd, der immer kräftiger am Kabel zog, versuchte der Vergangenheit zu entrinnen. Die Konfrontation mit Aufzeichnungen und Statistiken machte ihn paranoid. Doch jeder kräftige Zug am Kupferdraht brachte ihn einer dicken Wolkenschicht von düsterer, olivgrüner Farbe näher, die regungslos tief am Horizont über dem Meer lag. Mühsam, ruckweise arbeitete er sich darauf zu, wie ein zu Tode gehetztes Geschöpf. Der Fortbestand seines Daseins war vielleicht noch nie zweifelhafter als in diesem Moment. Der Muschelsaft und der Schweiß seiner Anstrengung mischten sich zu einem schaumigen Cocktail, als hätte man ihm die Erinnerung an sämtliche Passagen aus seinem Leben ausgepresst.
Obgleich Lloyd so manche Gefahr tapfer gemeistert hatte, schien das bevorstehende Abenteuer ihm allen Respekt abzuringen. Das anrollende Rasen und Toben der leidenschaftlichen See führte ihn direkt in eine dunkle, verborgene Kammer des Meeres, deren Boden aus schaumbedeckten Wogenkämmen bestand.
In der verzweifelten Lage, die beinahe seine Psyche zum Kollabieren brachte, meldete sich der Seenotkreuzer John T. Essberger über Funk. Sogleich keimte wieder Hoffnung auf. Seine über Satellit an Freunde in aller Welt abgesetzten Mails mit Hilferufen hatten doch ihre Wirkung getan. Es gab noch jemanden in der Weite der Netze, der dem Havaristen Vertrauen schenkte und an die Zukunft seiner Existenz glaubte.
Hier spricht Kapitän Mac Whirr __ . __ habe ihre __ . __ von der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger __ . __ Bergungskosten 20.000 US-Dollar __ . __ Kreditkarte oder bar __ . __ empfangen ein schwaches Peilsignal __ . __ gehe auf Morsefrequenz und ändere den Code …
Lloyd war angesichts der hohen Bergekosten verunsichert. Er startete den auf der Casio installierten Trojan-Bot und ließ den Software-Agenten nach Kapitän Mac Whirrs Kreditkartennummer suchen. Wenige Sekunden später fand der Bot auf einem billigen Sexserver den Code des Shit-Eater-Fetischisten und übermittelte diesen direkt mit dem Abbuchungsauftrag an seine Bank in Miami. Diese pfändete die John T. Essberger und überwies nach Abzug der Transferspesen das Schiff samt Beiboot und Dankesschreiben auf das Konto des Kapitäns. Im Fenster der Applikation blinkte nach Ausführung der Transaktion die Bestätigung: Der Havarist war buchhalterisch gerettet, bevor er gerettet war, was wiederum als Rettungs-Derivat ausgewiesen wurde und von der Vorsteuer abgezogen werden konnte.
Lloyd war die Hochseefinanz zwar ein Rätsel und es stieg in ihm eine Ahnung auf, dass wie in dem Hollywoodfilm The Philadelphy Experiment das Schiff samt Mannschaft verschwunden ist. Die These von den frei flottierenden Zeichen wurde zu einer der frei transformierenden Dinge. Der Trojan-Bot hatte das Schiff und nicht dessen Geldwert auf das Konto des Kapitäns überwiesen. Verblüfft von der Einfachheit des Sachverhalts wollte Lloyd nicht länger nach dem Schicksal der Besatzung fragen und schob das Problem auf die lange Bank. Die Codierung von Welt erachtete er nun als Problem, das es nicht alleine den Technikern und Philosophen zu überlassen galt:
Ist der Weltcode ein laplacescher Dämon, der aus einem bestimmten Zustand der Welt jeden beliebigen der Zukunft oder der Vergangenheit errechnet, oder ist er ein maxwellscher Dämon, der unermüdlich gegen die Entropie ankämpft und Ordnung schafft? Ist er eine unendliche Enzyklopädie, die jede mögliche Situation beinhaltet, oder ist er ein Kombinationsspiel, das alle Möglichkeiten in sich birgt? Muss er als Chaos begriffen werden oder verdaut er sich als Uroboros, der iterativ alle Ergebnisse der Prozessierung rückführt und eine Maschine schafft, die zum Durchgang ihrer selbst befähigt ist?
In einem strahlenlosen fahlen Braun stand die untergehende Sonne über dem Meer, als ob seit dem Morgen Millionen von Jahren vergangen wären und sie ihrem Ende nahe gebracht hätten. Im Osten spannten unverrückt die Wolken ihren olivgrünen Paravent über die See, hinter dem sich alle Nixen der Weltmeere mit Neptun orgiastisch zu duschen schienen. Der aufkommende Wind strich scharf über die Wellenkämme und peitschte Lloyd die Gischt ins Gesicht. Luvseitig tauchte zwischen den Wellen chimärenhaft ein Labyrinth aus flüchtigen Schatten auf, die von kurzen zuckenden Blitzen erhellt wie Schwimmkörper von Fahrwasserzeichen aussahen. Im ersten Moment dachte Lloyd an Stumpftonnen oder Treibminen, aber bei näherer Betrachtung waren es Container, die wie kleine Eisberge im Ozean drifteten. Einem Frachter war wohl bei der hohen Dünung die Ladung verrutscht und in die See gekippt. Lloyd, der nichts mehr zu verlieren hatte, sprang ohne zu zögern in die Fluten und riss mit einem kräftigen Ruck die Türverriegelung auf. Dutzende Kartons drängten ihm entgegen, die sich sofort an der Wasseroberfläche zu einem Swoosh formierten und zu tanzen begannen. Es handelte sich um eine Ladung Nike-Schuhe, die sich auf dem Weg von den Sweatshops Indonesiens nach Miami befanden. Zu allem Überdruss kamen noch einige Puppen in Gestalt von Michael Jordan hervor, was den Container zum Überlaufen brachte und ihn bleiern in die Tiefe zog. Enttäuscht vom ersten Fehlgriff, zerrte er an der Verriegelung des zweiten Containers, die sich nur mit Mühe bewegen ließ. Er stemmte die Tür einen Spalt auf und sein Blick starrte ins Schwarz der Box. Ein unheimlicher Schauer hielt ihn ab, in das Innere der Leere vorzudringen. Bevor er es sich anders überlegen konnte, drückte ihn eine Welle in den Metallschlund, wo er sich schwimmend an den Metallrippen entlang tastete. Vom Containerboden schimmerte ein schwaches grünes Licht und deutlich fühlte er Augen auf sich ruhen, die ihn magnetisch nach unten zogen. Es war ein kleiner Odradek, der vor einer Maschine saß, auf der zahllose LEDs blinkten. Der Odradek reichte ihm einen Lungenapparat und ein kugelförmiges Keyboard, mit dem fremd anmutende Zeichen in den Körper einer überdimensionalen Meduse eingeschrieben werden konnten. Nach jedem Tastendruck öffnete sich eine neue Zeichenebene im Quallenkörper und bereits nach kurzer Übung begriff Lloyd die Textmaschine, die selbständig Hyperlinks als sachliche Referenzen, phantastische Assoziationen oder emotionale Konnotationen generierte und übereinander interferieren ließ. Zweifellos handelte es sich bei dem Computer um eine alte Connection Machine, die vom Bioinformatiker Leroy Hood in einen DNS-Rechner umgebaut worden war. Die 64.000 Parallelprozessoren wurden durch sechs Milliarden Polypen einer Staatsqualle ausgetauscht und ein Gensynthesizer speicherte die Daten in Salzwasser gelösten Proteinverbindungen. Ein Teelöffel dieser Speicherflüssigkeit konnte die Datenmenge einer herkömmlichen Festplatte in der Größe eines Fußballfeldes aufnehmen, diese aber 9.000 Mal schneller verarbeiten.
Die Meduse begann, sich über Lloyds Kopf zu stülpen, als wollte sie ihn verspeisen. Wie ein Helm aus schillernder Gallertmasse ummantelte sie seine Sinne. Immersiv zog sie seine Gedanken in ihren Bann und stimulierte seine Synapsen zu einer knisternden Gedankenglut, in der sich alle Ideen unmittelbar vergegenständlichten. Das schleimige Interface eröffnete einen multidimensionalen und polyvalenten Blick auf unterschiedliche Endo- und Exowelten. Die Differenz zwischen dem Symbolischen und Materiellen schien aufgehoben, Kategorien präsentierten sich permeabel und plötzlich fühlte Lloyd, dass er selbst ein Code war, der unmittelbar mit dem Code der Welt interagiert und diesen manipuliert.
Als Lloyd erwachte, lag die See samten vor ihm. Kein Windhauch kräuselte die Oberfläche und kein Laut störte die ozeanische Ruhe. Ein Duft der Ewigkeit lag über dem Meer. Der Sturm war im Nichts verschwunden und die Erinnerung an die letzte Nacht kam nur langsam zurück. Es mussten viele Stunden vergangen sein, denn die Sonne stand beinahe im Zenit. Waren der Sturm, die Container, der Odradek und die Textmaschine nur ein Traum, eine Halluzination, ausgelöst durch die Erschöpfung und den Unterzucker in seinem Blut? Aus dem Haar tropften Reste des gallertigen Medusenschleims, die sich am Gummiboden zu einer Lache sammelten. Zähfließend disseminierte die Flüssigkeit den pentagonalen Unterboden, der den Tragschlauch des Rettungszodiacs vom Abgrund der Tiefsee trennte. Noch immer glitzerten Buchstaben und Symbole aus dem hauchdünnen Film hervor, die bei Berührung Anordnung und Gestalt änderten. Lloyd kauerte auf der Gummiwulst und beobachtete gespannt das Schauspiel. Wie eine Fata Morgana illusionierte die Fläche die Visionen seines neuronalen Feuers. Durch das Biofeedback fühlte er sich erstmals entspannt und sein Körper ließ weder Schmerzen noch Hunger verspüren. Als ein dünner Gallertarm die Wulst des Tragschlauchs überwunden hatte und das Salzwasser berührte, stiegen Dichte, Frequenz und Intensität der Signale. Rotierende Zeichenketten, Diagramme und Bilder überlagerten sich in zahllosen Schichten und nur mit äußerster Konzentration konnte Lloyd diese fokussieren und flüchtig dekodieren. Nach einiger Übung gelang ihm die bewusste Navigation und er begriff, dass das biosyntaktische Interface des Odradek reproduktionsfähig war und in Verbindung mit dem ozeanographischen Netz stand. Aus dem Fett seiner Haare hatte der Schleim über Nacht Substanzen extrahiert und enzymatisch gewandelt, die nun Anstalten machten, die gesamte Welt mit einer Oberfläche zu überziehen, um alles in eine multidimensional-polyvalente Schnittstelle zu verwandeln.
Die schmierige Pentagon-Pfütze in der Rettungsinsel hatte wenig mit klassischen Displays oder gar Windows-Systemen gemein, wie sie Lloyd aus verstaubten alten Büros kannte. Es handelte sich vielmehr um eine komplexe Karte, die stufenlos ihren Maßstab aus kosmischen Dimensionen in Bereiche der Elementarteilchen verschieben und Ansichten davon parallel in heterogenen Modi rendern konnte. Er zog sich Hemd und Hose aus und sprang ins Display, um sich im Datenmeer zu suhlen. Sein Glied erigierte und sein Körper benetzte sich mit Informationen. Endlich waren der Ozean, seine Sehnsüchte und Gefühle, das bunte Seemannsgarn und die Instrumente der Navigation im einen Medium des Selbst vereint. Das Spiel mit seinem Körper trieb wundersame Blüten und das erfrischende Cybergel fühlte sich sexy auf der Haut an. Echolot, Radar, Logbuch und GPS integrierte er in der Achselhöhle und der speckig glänzende Bauch diente ihm als enzyklopädischer Speicher. Aus seinen Gedärmen drang das Stimmengewirr der Börse von Chicago und mittels Masturbation erschlossen sich ihm die dunkelsten Wissensräume. Für Lloyd, der nicht nur eingefleischter Nudist, sondern auch passionierter Enzyklopädist war, offenbarte jede Muskelzuckung ein neues Abenteuer. Er konnte sich völlig frei, ungehemmt und schamlos durch die weltweiten Wissensräume bewegen, alle Daten küssen und mit Informationen kopulieren. Der Ozean, das Internet und die Welt waren eine einzige gigantische Karte und sein Körper war die Schnittstelle dazu, ein formidabler Interbody. Lloyds Körper prickelte an allen Stellen und seine Muskulatur kontrahierte und interagierte heftig mit der Datenmatrix. Endlich verstand er die wahre Bedeutung des von Doug Engelbart mit „Maus“ getauften Abrollgeräts, denn als tüchtiger Etymologe, Lateiner und Bodybuilder wusste er, dass Musculus „Mäuschen“ und weiters auch Möse bedeutet. Je länger er in diesem Zustand verweilte, desto mehr Mäuschen bzw. Möschen schienen sich um seine Nerven zu winden und ihn orgiastisch zu verzücken. Er verspürte an seinem Leib, dass er nicht nur die Welt in Form von Karten, sondern auch Karten sprichwörtlich ihn zu denken begannen. Elektronische Karten, welche die alte Welt mit einem Netz aus Kabeln und Satelliten überwuchert und einen Datenraum errichtet hatten, stellten für ihn nicht nur die Metapher eines externalisierten und eines internalisierten Bewusstseins bereit, sie waren Teil seiner realen Körpererfahrung. Wie in Borges Geschichte wurde ihm die Karte des Cyberspace zu einem Habitat, das von Informationen, Maschinen, Bots und Menschen gleichermaßen bevölkert war und wo die Frage, ob Avatare elektronische Doubles leiblicher Menschen oder leibliche Menschen Doubles elektronischer Wesen sind, obsolet geworden war.
Wie eine CD im Wurlitzer versank die Sonne rotglühend im Karibischen Meer. Lloyds Darm brummte ordinäre Seemannslieder und ein Pelikan schickte einen dicken weißen Kuss. Drei Tage waren vergangen, seitdem die Mercury den Meeresgrund möblierte, und noch immer war kein rettendes Eiland in Sicht. Ins Rot verschobene Spektralfarben schillerten auf dem öligen Wasser, das im Rhythmus von 250 bpm vibrierte. Die Oberfläche erzitterte zu kleinen tanzenden Wellen, die an ihren Kämmen winzige Tröpfchen abschnürten und in die Atmosphäre entließen. Nach wenigen Zentimetern fielen sie wieder zurück oder wurden von einem zarten Windhauch erfasst und von den durstigen Kumulonimbus-Wolken angesogen. Lloyd rätselte über das nur bei brunftigen Krokodilen beobachtete Phänomen und vermutete ein sich ankündigendes Seebeben mit anschließendem Tsunami. Das sonnengegerbte Gesicht lag mit dem Ohr auf der Gummiwulst, die den tiefen Frequenzen Resonanz bot. Der Blick stierte in den dunstigen Horizont, wo aus den locker aufgetürmten Haufenwolken ein Schiff aufzutauchen schien. Obwohl er Steuerhaus, Stenge, Saling und Bug deutlich zu erkennen glaubte, traute er seinen Sinnen nicht. Zu gut war ihm bekannt, dass Not und Verzweiflung die Wahrnehmung in die Irre leiten und das Begehren Bilder projiziert. Die Wolken waren ihm ein panoramatisches Bühnenbild seiner Endowelt, ein holistischer Spiegel, der all seine Vorstellungen, Phantasien und Obsessionen in den Himmel doubelte. Der Untergang der Mercury und die traumatischen Ereignisse in der Kajüte kondensierten in den Wolken und rannen als dicke Tränen über Nase und Wangen.
Lloyd hatte sich in den letzten Tagen vom Choleriker zum Stoiker geläutert. Als Gentleman der Meere war er bereit, sich der Natur zu fügen oder seinen Körper als Hülle für ein göttliches Unternehmen der Wissenschaften zur Verfügung zu stellen. Sein Zustand schwebte zwischen Apotheose und Pathologie, zwischen Avatar und Automat. Die Katharsis, ausgelöst durch die Tragödie des Schiffbruchs, ephemerisierte ihn zu einer Schnittstelle zwischen Leben und Tod, dem Materiellen und dem Symbolischen, dem Menschlichen und dem Göttlichen. Aus dem ehemaligen Superhombre war ein ätherisches Wesen geworden, ein Geheimnis aus Schöpfung und Vergänglichkeit. Lloyds Leib war nur mehr ein Double seiner selbst, das empfängnisbereit auf den Götterfunken wartete. Er war ein Triebobjekt, das fordernd nach Befruchtung seines Körpers lechzte, um ihn über Riten, Regeln und Techniken zu automatisieren. Er verspürte in seinem Fleisch, dass die Obsession, die Welt animistisch zu doublieren, gleichzeitig Metaphysisches und Sexuelles beinhaltet und von der Übertragung der Prinzipien des Lebendigen auf tote Materie geleitet ist. Im Körper-Automaten, der das Göttliche affirmiert und substituiert, verschmolzen Subjekt, Objekt und die „transzendentallogische Wirklichkeitskomponente“ Information.
Während Lloyd onanierte, dachte er an die Pataphysik, an Automaten, Homunkuli, die Evolution als Turing-Maschine und die Entstehung der Welt durch sich selbst reproduzierende Algorithmen:
Unabhängig, ob es sich um einfache mechanisch-hydraulische Proto-Automaten oder um posthumane kybernetische und intelligente Systeme handelt, streben wir nach der Doublierung und Ekstatisierung des „autós“ außerhalb unseres Selbst und trachten, eine zweite Identität in Form eines technischen Körpers zu beziehen oder zumindest ein uns selbst spiegelndes Ambiente zu zeugen. Dieses narzisstische Kopulieren mit der Welt des Selbst fruchtet dabei in dem Moment, wo menschliche Schöpfungen das Modell der Imitation und der Repräsentation von etwas bereits Vorhandenem verlassen und Doubles zweiter Ordnung hervorbringen, die nicht mehr Spiegelbilder, sondern eigenständige und sich selbst steuernde Entitäten vorstellen.
Ohne Sinn läuft alles viel besser. Aber gibt es ohne Ordnung ein Genießen?, fragte sich Lloyd. Hin und her gerissen zwischen Liederlichkeit und Tugend versuchte er das imaginäre Denken in distinkte Symbole zu fassen und als „trojanisches Pferd“ in die Software seiner Körpersäfte einzuschleusen. Seine Hoden zogen sich zusammen und ein spitzer Strahl weißer Göttermilch schoss wie ein Blitz in die See, auf den ein donnernder Seufzer folgte. Sofort begann die Sprache des Ejakulats die Welt zu teilen und die Worte eines deutschen Philosophen flockten im gelblich-weiß gefärbten Wasser aus. Wolken aus Fischrogen machten sich über die Proteinfäden her, sequenzierten Lloyds Samen und zeichneten eine dreidimensionale Genkarte, die von der Oberfläche bis zum Grund reichte. Wie auf einer Jakobsleiter konnte sich nun Lloyd im Labyrinth seiner Identität auf und ab bewegen. Die perfekte Biographie, geschaffen aus dem Code des Genoms und geboren aus dem Geist der Onanie lag vor ihm und lud ihn zum Verweilen in sich selbst ein. Das Porträt integrierte all seine intellektuellen und motorischen Fähigkeiten, beinhaltete all seine genetischen Qualitäten und vereinigte alle noch so dissoziiert scheinenden Teile in einem kohärenten Bild.
Vom vielen Onanieren müde geworden, war Lloyd eingeschlafen. Eine sternklare Nacht spannte sich über das Karibische Meer, das in der trägen Dünung infraschwerer Wellen wiegte. Im Rhythmus des stetig vibrierenden Wassers pulsierte bioluminiszentes Plankton und Lloyd träumte mit offenen Augen vom Astronauten Kelvin und seinen Beobachtungen auf Solaris. Die Luft drückte schwül und durch die Vibrationen diffundierende Wassertropfen bildeten einen feinen Sprühnebel, der wie verdampfendes Trockeneis einen Schleier über die Weite des Ozeans senkte. Es waren einige Stunden vergangen, als Lloyd aufschreckte und Motorengeräuschen lauschte. Jet-Skis stoben mit hoher Geschwindigkeit durch das Dunkel und nach wenigen Minuten hatten sie die Rettungsinsel erreicht. Zwei in hautenges Neoprem gegossene Pilotinnen stiegen von ihren Nautilusöfen und versorgten den ausgezehrten Schiffbrüchigen mit isotonischem Muschelsaft. Danach schleppten sie Lloyd, der vor Erschöpfung wieder in seine Träume versank, behutsam in die mondlose Nacht.
Die Sonne bohrte sich mit hellem Strahl durch das Bullauge und zwang Lloyd aus dem Schlaf. Vom Traum benommen, glaubte er sich gefangen in einer descartesschen Kammer. In den Schatten des kleinen Raums halluzinierte er Zofen mit quadratischen Netzstrümpfen und bebrillt mit frischen Kuhaugen. Zögerlich öffneten sich seine Lider und Zeile für Zeile scannte er die Kabine von der Decke über die mit Schränken verbauten Wände bis zum laminierten Boden. Langsam kam die Erinnerung zurück und drängte sich in das unscharfe Hologramm seines Bewusstseins. An den Unterarmen klebten Pflaster, die Einstiche von Prokain-Spritzen verdeckten und seine Brust zierte eine gerötete und von Creme verschmierte Tätowierung mit der Hindi-Inschrift „tat tvam asi“. Das Dröhnen im Kopf mischte sich mit den Vibrationen, die jetzt stärker und deutlicher seine Wahrnehmung durchdrangen. Dumpfe Basslaute begleiteten die Schwingungen und zogen Lloyd von seiner Pritsche durch die Kajütentür in den Laufgang des Schiffes. Erst jetzt bemerkte er seine Nacktheit und den hellroten Lippenstift an Bauch und Lenden. Kurz entschlossen, sich Kleidung zu besorgen, drehte er am Türknopf der Nachbarkabine. Eine Blondine saß burschikos mit überkreuzten Beinen auf einem Plüschhocker vor einem Schachtisch. Sie musterte ihn von oben bis unten und ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem halb skeptischen, halb kokettierenden Lächeln. Du bist gut gebaut, mein Herkules. Lloyd schmunzelte und trat verschämt aus dem Schatten der Tür. Ich suche etwas zum Anziehen …
Komm näher und spiele eine Partie Schach, dann bekommst du alles, was du willst. Lloyd setzte sich schüchtern auf die gegenüberstehende Chaiselongue. Mach’s dir bequem, ich hole Minze und Rum. Die Figuren aus semitransparentem Jellyflesh, die an kleine Dildos erinnerten, standen zum Spiel bereit. In den Intarsien des Mahagonitisches funkelte eine florale Inschrift: Die Transzendenz der Immanenz beginnt mit der Eroberung der Res cogitans durch die Maschine. Die Kabine war klein und schäbig; nicht mehr als ein Bett, eine Kommode und ein hoher, halb erblindeter Drehspiegel füllten den Raum. Cheers, ich bin Olimpia, wenn du mich schlägst, darfst du mich ficken. Erstaunt über den Spieleinsatz, vergaß Lloyd auf die Höflichkeit sich vorzustellen und setzte den Bauern auf e3. Mein kleiner Herkules, das Schachspiel ist die ideale Schwelle zwischen Immanenz und Transzendenz. Als determiniertes Regelwerk mit beinahe unendlich vielen Spielkombinationen bietet es uns die Möglichkeit, die Grenzüberschreitungen zwischen Mensch und Maschine zu trainieren. Olimpia hatte ein wunderschön geformtes Gesicht. Nur die Augen schienen ihm gar seltsam starr und tot. Während schweigend die Spielzüge wechselten und das Frauenzimmer nur manchmal seufzte, schweiften seine Gedanken ab.
Konzentriere dich, Herkules! Deine Gedanken verlaufen sich in der Geschichte. Lloyd schob ermattet seinen letzten Turm auf h12. Lege dich zurück und entspann dich. Ich mach ihn dir ganz groß, Kleiner. Sie ergriff seine Hoden und schnürte mit ihrem Strumpfband die runzelige Sackhaut unter dem Schaft zusammen. Prall glänzten nun die Eier und der Schwanz füllte sich mit Leben. Ihre Lippen stülpten sich über die Eichel, die sich gegen den Gaumen presste und mit den Zähnen arbeiteten sich ihre Kiefer kauend bis zur Wurzel vor. Geheime Bilder aus seiner Kindheit stiegen in Lloyd auf. Er erinnerte sich an Onkel Oscar, der seinem Zögling Alan perverse Experimente verordnete. Mit verbundenen Augen musste Alan mit dem Glied Früchte, Gläser oder Innereien von lebendigen Körperteilen anderer Männer und Frauen unterscheiden. Oscar wollte auf diese Erkenntnisse aufbauend einen obszönen Fickautomaten entwerfen, der die menschliche Körperintelligenz bei weitem übertreffen sollte. Da ihm das nicht gelingen wollte, sperrte er den kleinen Alan in eine schwere schwarze Metallkiste und behauptete, es handle sich um eine Maschine mit raffinierter Blas- und Leckvorrichtung. Und auch Kempelens Schachautomat fiel ihm dazu wieder ein, den er zusammen mit Oscars perversem Apparat als einen invertierten Turing-Test begriff: Nicht die Maschine sollte den Beobachter glauben machen, dass es sich um ein menschliches Gegenüber handle, sondern ein Mensch täuschte die Funktionen der Maschine vor.
Endlich stellte sich jenes erleichternde Gefühl ein, das ihm sagte, dass nichts die Entladung zurückhalten würde. Perlende Prostatatropfen brachten Olimpias Zunge zum Tanzen, bis ein quälender Schmerz durch sein Rückgrat jagte und im Hinterkopf explodierte. Ich mag deine Gene, die schmecken, bemerkte Olimpia und wischte sich den Mund. Lloyd lag wie ein gestrandeter Wal am Rücken und blies seine Erschöpfung aus allen Löchern. Als er seine Augen öffnete, stand ein mittelgroßer Mann, Ende 50, in einem weißen Latexanzug neben der auf Knien kauernden Olimpia. Es war Hans, der ihm in seinem merkwürdigen Traum erschienen war. Fabian, Sie sind ein toller Samenspender, wir werden Ihre Keimzellen sorgfältig sequenzieren und mit einigen Neuerungen versehen. Ihr Körper wird die perfekte Hülle für den Geist einer neuen Ära bereitstellen. Olimpia hob ihren Hintern, rückte BH und Höschen unter Bluse und Rock zurecht und blickte unterwürfig zu Hans. Für den Fall, dass sich in Ihrem Gehirn wider Erwarten nützliche Informationen und Fähigkeiten befinden, die uns bislang unbemerkt geblieben sind, werden wir Sie noch gründlich einer Computertomographie unterziehen. Als Lloyd verwundert protestieren wollte, fuhr ihm Olimpia zärtlich mit der Hand über den Mund. Rege dich nicht auf, mein Herkules, du musst mich noch lecken. Es ist alles zu deinem Besten und ein Hirnscanning tut gar nicht weh.
Schicht um Schicht wird das Gehirn zunächst simuliert und dann abgetragen. Schließlich ist Ihr Schädel leer, und die Hand des Chirurgen befindet sich in Ihrem Hirnstamm. Dennoch haben Sie weder das Bewusstsein noch den Faden Ihrer Gedanken verloren. Ihr Geist ist einfach aus dem Gehirn in eine Maschine übertragen worden. Lloyd erschien ein „uploading the mind“ reichlich abgefahren und völlig überdreht. Die Aussicht auf digitale Lebensverlängerung und Überwindung der biologischen Entropie empfand er als phantastisch und technophil-naiv. Aber Hans und Olimpia projizierten nur die Tradition des Doubles in ein zukünftiges Szenario, das auch bisher schon wesentlich zum Leitbild der digitalen Kultur beigetragen und die großen Wissenschaftsobsessionen geprägt hatte. Losgelöst von der Körper-Identität wollte Hans die Struktur-Identität des Bewusstseins scannen, digital encodieren und auf einen Rechner transferieren. Ein auf diese Weise erzeugtes Double hätte den Vorteil beliebig vieler Backups und geklonter Parallel-Polyviduen. Als Polyviduum wäre ein kontingentes Leben an verschiedenen Orten oder besser in unterschiedlichen Kontexten möglich, womit die Everettsche Vielwelten-Theorie kognitionstechnisch in einer einzigen realisiert wäre. Wir könnten mit uns selbst Kolonien gründen, unsere Erfahrungen mit anderen Polyviduen tauschen, unsere Denkgeschwindigkeit beschleunigen und uns mit Datenbanken mischen. Dienten Massenmedien bislang der Konstruktion kollektiver Zuschreibungskonzepte und Wirklichkeitshorizonte, die eine konnektivistische Struktur unserer Kultur schufen, implizierte die Idee eines „uploading the mind“ beziehungsweise, humanistisch subtiler formuliert, die Vision einer „kollektiven Intelligenz“ nach der Globalisierung der Ökonomie, der Technologie, der Politik, der Medien und des Entertainment die Globalisierung des Individuums, seines Intellekts und seiner Emotion. Das Double schien am Ziel und expandierte und multiplizierte seine Metastasen. Nach Ansicht der führenden Gelehrten würde es sich so lange ekstatisch mit dem Eigenen und dem Anderen mischen, bis es wieder individuell, das heißt untrennbar werden würde. Eine vernetzte Weltgesellschaft wäre das Resultat, in die wir alle Eingang und Erlösung finden und wie Polypen in einem gigantischen Korallenstock an einem einheitlichen Wesen bauen würden. Das vernetzte Double strebte nach einer emergenten Verwandlung der Erde in eine intellektuelle Gaia, die vergleichbar mit Stanislav Lems Solaris ein kosmisches Metaleben gründen sollte.
Die Luft in der engen Kabine war unerträglich stickig. Lloyd schwindelte und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was blieb, war ein Gefühl der Beklemmung und der Wunsch zu verschwinden. Seine Muskeln fühlten sich wie Gummi an, aber die Panik katapultierte ihn wie eine Feder hoch, vorbei an Olimpia und Hans durch die offene Türe hinaus an das Ende des Gangs und dort die steile Treppe hinauf. Endlich stand er unter freiem Himmel, atmete tief durch und breitete die Arme zum Gruß der Sonne. Er befand sich am Peildeck eines kombinierten Fracht-Fahrgast-Schiffes älteren Typs. Der Schornstein war zu einem kolossalen Subwoofer umgebaut worden, von dem die Vibrationen und Schwingungen des Wassers, die er bereits einen Tag zuvor Seemeilen entfernt wahrgenommen hatte, ihren Ausgang nahmen. Allen Anschein nach bewegte sich der Pott mittels Schalldrucks über die Meere und steuerte seine Fahrt über Infrasound im Frequenzbereich zwischen 5 und 20 Hertz. Der von Professor Gavreau ursprünglich als Waffe gebaute Soundgenerator wurde von den Biophilisten zu einem euphorisierenden Motor adaptiert. Nicht eine Membran in einem Lautsprecher, sondern 24 Zylinder eines umgebauten 32.000 PS Dieselmotors ermöglichten bei 7 Hz eine gezielte Schallemission von mehreren tausend Dezibel.
Am darunter liegenden Sonnendeck rekelten sich gut Tausend Raver im Rhythmus subliminaler Bässe. Sonnengebräunte und fitnessgeformte Körper in knappen Pubikinihöschen rieben bizarr ihre geölte Haut aneinander und massierten obszön ihre Weichteile. War Lloyd auf Pornotopia gelandet und hatte sich seine Theorie der Pornogesellschaft tatsächlich realisiert? Seine in den 10er Jahren des letzen Jahrhunderts im Rahmen einer von der Académie Française finanzierten Feldstudie über den Pigalle dargelegte These unterstellte gesellschaftskritisch, dass ein liberal-ökonomisches System, das auf die Deregulierung des Marktes setzt und Solidarität gegen Subsidiarität tauscht, einseitig egoistische, individuelle und pekuniäre Vorteile fördert. Die Arbeit mit dem Titel „Das Strizzi-System“ beeinflusste maßgebend Milton Friedman während seiner Studienzeit in Chicago und liegt bis heute am Nachtkästchen von Margaret Thatcher, die besonders die pikanten Stellen über Massenauspeitschungen schätzt. Die Enttäuschung, dass sein Buch in die falschen Hände gekommen und zur geheimen Bibel des Neoliberalismus geworden war, hatte Lloyd nie verwunden. So wie die Pornographie die Darstellung geschlechtlicher Vorgänge unter einseitiger Betonung des genitalen Bereichs und unter Ausklammerung der psychischen Gesichtspunkte der Sexualität darstellt, befindet sich die neoliberale Pornogesellschaft auf der Suche nach ihren egoistischen Genen. Nur der Pornostar ist „born to be a star“ und erfüllt das sozialdarwinistische Gesetz eines „survival of the fittest“. Er verkörpert die höchste Attraktivität, den stärksten Narzissmus, die intimste Selbstlust und den Kurzschluss zwischen Geno- und Phänotyp. Er ist reines Geschlecht und sich selbst verwertende Potenz. Dem Pornstar geht es nicht um sozialen oder genetischen Altruismus, um die Streuung von Information und Kapital, sondern um Klonierung und Onanie. In der Pornogesellschaft können wir nur überleben, wenn wir uns zu einem Kultobjekt stilisieren. Nur so können wir unsere Gene um jeden Preis verkaufen und das Egokapital der Ichmaschine verzinsen. Die persönliche Fitness, der Körperkult und die finanzielle Potenz werden zu Synonymen für den Ego-Imperialismus des Neoliberalismus bei gleichzeitiger kultureller und sozialer Inflation. Das internationale Finanzsystem hatte Lloyd bereits lange vor der Konstituierung elektronischer Netze als eine gewaltige Onaniemaschine, gestützt durch die Pataphysik der Banken beschrieben. Jede kulturelle Reflexion und Narration erschöpft sich in der iterativen Ejakulation, in der leeren Wiederholung der Kapitalflüsse. Der menschliche Körper synthetisiert sich mit kapitalen Körperschaften, wird Teil einer Corporate Identity, die wiederum unsere Körper in Form von Logos und Marken tätowiert. Nicht die Sexualität, das Genießen, die Masturbation oder Kopulation, sondern das Kapital, der Konsum, die Konzerne und ihr Marketing waren nach Lloyds Studie obszön.
Zufrieden betrachtete Lloyd die nackte Haut der Menge, die sich aller Marken, Logos und Konsumgüter entledigt hatte. Wie ein einheitliches großes Wir spannte sich ein polyzentrisches Netz über die Interessen der Einzelnen, frei von beliebigen Abgrenzungen und willkürlichen Entscheidungen. Als das tanzende Volk Lloyd an der Reling des Peildecks unter dem Signalstag stehend ansichtig wurde, tobte es und schrie: „Tat tvam asi, tat tvam asi …!“ Die Menschen jubelten ihm frenetisch zu und junge Mädchen kreischten: „Du bist kleiner als ein Reiskorn und größer als Himmel und Erde. Du bist Shiva und Shakti … in dir verschwindet alle Dualität. Mit deiner geistigen Matrix wollen wir unsere individuellen Eizellen verschmelzen. Komm in unsere Yoni, den Großen Schoß, den Ursprung alles Daseins.“ Und eine Gruppe muskelbepackter, langhaariger und ganzkörpergepiercter Kerle brüllte: „Sei unser Atman und Brahman, schicke uns die mantrischen Beats und hisse die yantrische Fahne.“ Lloyd zog ein shriyantra als Flagge auf, das aus mehreren, ineinandergreifenden Dreiecken mit einem zentralen Punkt (bundu) bestand, dem Symbol des ewigen, undifferenzierten Prinzips (brahman) oder der von oben geschauten Weltachse. Zwischen Kompass, Morselampe und Radarantenne stand ein DJ-Set mit einem alten Analog-Synthesizer und einem MPC-Sequencer. Mit wenigen Handgriffen stöpselte er die Monoklinken und drehte an den Reglern, bis sich langsam ein sphärischer Teppich sonischer Beats erhob, deren rauschende Wellen über das Sonnendeck wogten, sich am Achterdeck brachen und im Schraubenwasser mit dem Ozean mischten. Durch das Shriyantra wurde die eingeschworene Gemeinde optisch und durch das Mantra der elektronischen Beats akustisch verzaubert und mit dem Flow des Weltalls verschmolzen. Jetzt befanden sich alle auf einer Wellenlänge, auf der Ebene subliminaler Kommunikation, in einem emotionalen Chatroom und verbunden mit Ravern in aller Welt. Der Funkäther war geschwängert mit Signalen verlorener Seelen, die sich aus der Weite der elektronischen Netze in den Pool des Sonnendecks einloggten. Blitze zuckten durch das zarte Hellblau des Wassers und Traceroutes und Protokolle spiegelten sich auf der von Beats kochenden Wasseroberfläche. Der Pool war ein von Emotionen und Sehnsüchten triefender Thinktank, in den sich laufend User auf der Suche nach dem ewigen Purusha ergossen. Einzelne Raver nutzten die Gelegenheit und sprangen in das elektrisierende Nass, wo sie in die Matrix hinabtauchten und als Avatare wieder entstiegen.
Lloyd freute sich über eine Schachtel Papyrossi, die er am Mischpult fand und zündete sich seit der Ewigkeit von zwei Tagen wieder die erste Zigarette an. Vor seinen Augen inkarnierten immer mehr Avatare in schwofendes Fleisch oder visualierten sich als stroboskopische Lichtgestalten, die das Deck zu einen madigen Screen einer wummernden Techno-Gemeinschaft luminierten. Als Freund von Nietzsche, mit dem er nicht nur die Kopfschmerzen und das Augenleiden teilte, glaubte er längst nicht mehr an die eine Wahrheit und die singuläre Realität. Er suhlte sich am liebsten in den Interferenzen der Wirklichkeiten und begriff sich selbst als Medium des Lebens. Er fühlte sich als DJ-Gott und Sysop der Massen. Dennoch erschien ihm das Schauspiel surreal und ließ ihn zeitweise an seiner geistigen Gesundheit zweifeln. Die Doublierung der Identität in Netzwerken war zwar längst Internet-Alltag und beschäftigte Ingenieure, Designer und Modeschöpfer, die mit schnellen Trends für Interfaces und andere Gadgets die wuchernden Metastasen des Selbst bedienten. Aber Teleportation und holographische Visualisierung in dieser Qualität hatte Lloyd bislang noch nicht gesehen. Er kannte die konventionellen Techniken der Telepräsenz, der Telemedizin, den Einsatz von Arbeits-, Militär- und Polizeirobotern oder die spielerische Kreation von digitalen Stellvertretern in MUDs. Hier waren allerdings neue technische Produktivkräfte am Werk und verdeutlichten, dass jede Subkultur im 21. Jahrhundert auch und vor allem Technokultur war.
Die Rave-Avatare riefen Erinnerungen an seine Jugend wach, wo er in unterschiedliche Rollen geschlüpft war und in wechselnder Identität die Kontinente bereist hatte. Verkleiden und Entkleiden gehörten zu seinen großen Leidenschaften. Als „Dichter mit den kürzesten Haaren der Welt“ provozierte er auf akademischen Empfängen und Vernissagen und empörte in Paris und New York die Kunstwelt. Auf dem Blindman’s Ball der Greenwich Village Community etwa, die sich selbst als Ultra-Bohème, als prähistorisch und postalkoholisch bezeichnete, streifte er mit der Kleidung alle Konventionen ab und schockierte in der Figur des perversen Wolfes Damen der Gesellschaft, während seine spätere Frau Mina Loy im Bett von Marcel Duchamp eine Ménage à cinq durchlebte. Rückblickend begriff Lloyd das Leben als Avatar und den Körper als ein Medium, durch das polyphone Stimmen sprachen, um mit der Welt zu interagieren und diese herauszufordern.
Das Rave als Zelebrierung der Avatarisierung manifestierte sich gleichzeitig als Bestätigung und Endpunkt, aber auch als Korrektiv einer materialistischen Anthropologie, wie sie seit der Industriellen Revolution Ethik und Sozietät bestimmte. Der technoide Rhythmus erzeugte ein entdualisierendes Paradox aus Individualisierung und Kollektivierung, das wie einst die christliche Anthropologie an eine unsterbliche Seele glaubte, die unabhängig von Körper und Materie zur Vereinigung mit Gott strebte. Im Unterschied zu den Christen beteten die Raver aber nicht zu einem gottgesandten Avatar (Vishnu, Jesus, Mohammed, Buddha etc.), sondern vertrauten auf die Erschaffung eines künstlichen Avatars durch Technologie und netzwerkbasierte Kollektivierung. Die „Rave Society“ wollte die Welt nicht verbessern, sie wollte eine neue virtuelle Welt erschaffen, bevölkert von frei gestalt- und wählbaren Avataren.
Avatare wirkten als ein Transformationsprozess, der das Subjekt einerseits auf seine Hülle reduzierte und andererseits aus der Hülle befreite. In einer Gesellschaft, in der die Kopplung von Kognition und Kommunikation über Massenmedien erfolgte, waren die Raver ständig derartigen Transformationen ausgesetzt, um sich an kollektive Zuschreibungskonzepte und Sinnprojekte anzudocken oder aus tradierten Vorstellungen und Gewohnheiten zu lösen. Avatare entließen sie aus der Vorstellung einer universell-verbindlichen sozialen Realität und setzten das Potenzial eines Switchens zwischen Wirklichkeiten frei, ohne die unmittelbare Aufgabe einer sozio-kulturellen Konnektivität zu bedingen. Damit die soziale Kompatibilität und Komparabilität als Voraussetzung für Kommunikation garantiert war, brauchten sie kulturelle Programme, die ihnen bei der Produktion von Wissen, beim Remix von Information und Emotion oder beim Erleben von Intimität halfen. Als Avatare konnten sie ihr Selbst überschreiten und sich spielerisch in fremde Wirklichkeiten und Identitäten versetzen. Sie konnten Sinnplattformen entern und Kondividualitäten, das heißt gemeinsam teilbare Wertegemeinschaften als Ausdruck einer konnektivistischen Struktur ihrer Kultur gründen. In einer komplexen und operativ geschlossenen Technogesellschaft fungierte der Avatar nicht nur als Relaisstation des individuellen Subjekts oder als esoterisches Reisevehikel zur Seelenwanderung, sondern verzinste vor allem den symbolischen Shareholder Value einer medial verschweißten Gemeinschaft.
Lloyd war zeitlebens ein entwurzelter Migrant auf der Flucht vor dem Fremden in seinem Selbst, aus dem häretische Stimmen sprachen. Insofern verstand er die Avatare und fühlte sich selbst als solcher. In der zweiten Ausgabe seiner Zeitschrift Maintenant, die er 1913 auf einem Gemüsekarren in Paris vertrieb, schrieb er:
Welche Seele
wird sich um meinen Körper reißen?
Ich höre die Musik:
Wird sie mich mitreißen?
Ich mag den Tanz so gern
Und die körperlichen Verrücktheiten
Daß ich ganz deutlich fühle
Wie ich, wäre ich ein Mädchen gewesen,
Auf den schlechten Weg geraten wäre.
Aber, seitdem ich mich in die Lektüre
Dieser Illustrierten vertieft habe,
Könnte ich schwören, nie in meinem Leben
So märchenhafte Fotografie gesehen zu haben:
Der träge Ozean, der Schornsteine wiegt,
Ich sehe im Hafen, auf dem Deck der Dampfer,
Unter unbestimmbaren Waren,
Die Matrosen sich unter die Heizer mischen;
Wie Maschinen polierte Körper,
Tausend Gegenstände aus China,
Moden und Erfindungen;
Dann, zum Durchqueren der Stadt bereit,
Mit ihren weichen Wagen
Die Dichter und die Boxer.
Was ist das für ein Irrtum,
Daß bei so viel Traurigkeit
Mir heute abend alles so schön scheint?
Das Geld, das wirklich ist,
Der Friede, die großen Unternehmungen,
Die Autobusse und die Gräber;
Die Felder, der Sport, die Geliebten,
Und sogar das unnachahmbare Leben in den Hotels.
Ich möchte in Wien und in Kalkutta sein,
Alle Züge und alle Schiffe nehmen,
Es mit allen Frauen treiben und alle Speisen fressen.
Weltmann, Chemiker, Hure, Saufbold, Musiker,
Arbeiter, Maler, Akrobat, Schauspieler;
Greis, Kind, Hochstapler, Gauner, Engel und Lebemann;
Millionär, Bourgeois, Kaktus, Giraffe oder Rabe;
Feigling, Held, Neger, Affe, Don Juan, Zuhälter,
Lord,
Bauer, Jäger, Industrieller, Fauna und Flora:
Ich bin alle Dinge, alle Menschen und alle Tiere!
Was tun?
Versuchen wir es mit der freien Luft,
Vielleicht kann ich dort
Meine verhängnisvolle Pluralität loswerden!
Den kurzen Übergang zwischen Tag und Nacht, der sich innerhalb der Rossbreiten beinahe dämmerungslos vollzog, nutzte Lloyd, um seinen dehydrierten Körper zu laben. Das Glück der tanzenden Masse beruhigte ihn und mit Michael Bakunin sinnierte er, dass die Freiheit der anderen die eigene unendlich ausdehnt. Sehnsüchtig überkam ihn das Gefühl der Jugend, wo das Leben scheinbar unbeschränkt vor einem liegt. Mit dem Alter reduziert sich diese Kontingenz, bis sie sich in der Notwendigkeit des Todes erschöpft. Die Summe der Sinnenfreuden, die man vom Leben zu erwarten hat, nimmt mit vierzig zugunsten der Summe der Schmerzen rapid ab. Den einzigen Trost des Alters bietet die Freiheit des Moments, nicht mehr getrieben zu sein von Erwartungen und in der Gewissheit gelebt zu haben, das Leben loslassen zu können. Die jugendlichen Raver erinnerten ihn an die Zeit nach dem Schulabschluss, als er in Marseille auf einem Schoner anheuerte und ziellos durch die Weltmeere kreuzte. Doch im Unterschied zu seiner kindlichen Arglosigkeit war die Empfindung der Unendlichkeit für die Generation der Raver biologische Gewissheit. Sie arbeiteten an ihren Doubles und hegten berechtigte Hoffnungen auf ewiges Leben. Das Schicksal hatte ihn zum Apologeten einer neuen Generation gemacht, die sich nicht mehr gegenüber der Zeit, sondern gegenüber der technoiden Umwelt zu behaupten hat. Die Zivilisationsgeschichte war auf den Kopf gestellt und ein steinzeitlicher Urzustand stellte sich ein. Nicht der Tod durch Altern bedrohte den Menschen, sondern die Auslese durch Artgenossen und fremde Wesen. Ein Konkurrenzkampf mit künstlichen Intelligenzen und gentechnischen Artefakten stand bevor, die den Menschen wie einst gleichsam in den Wettstreit mit Säbelzahntigern und Mammuts treten ließ.
Seit langer Zeit spürte er wieder seinen Körper mit Freude und Genugtuung. Mädchen mit prallen Brüsten und Jungs mit knackigen Hintern stiegen vom Brückennock empor und brachten ihm frische Früchte und kalte Longdrinks. Der dünne Stoff der Höschen verriet die findigen Formen der Schamrasuren, die von vegetabilen Akanthusranken bis zu geometrischen Mäandern und Op-Art-Mustern reichten. Die aufgespritzten Lippen quollen aufreizend hervor und zusammen mit den farbigen Augenlinsen, den punktierten Liedschatten und den chiruplastischen Korrekturen verwandelten sie die Gesichter in Interfaces mit der Botschaft, dass Schönheit und Alter selbst entworfen werden können und nicht biologisch determiniert sind. Die jungen Leute waren tolle Phänotypen und sicherlich auch perfekte Genotypen. Sie genossen die Identität in der Gruppe Gleichgesinnter und visionierten eine gemeinsame Welt, die jenseits kommunistischer Ideologie ein kollektives Wesen schafft, das die Trennung zwischen System und Umwelt aufhebt. Viele unter ihnen rekrutierten sich aus Hackergemeinschaften, die in der Praxis des kooperativen Codens ein Modell für die Gesellschaft der Zukunft sahen. Linus, ein Hacker um die dreißig, wiederholte immer wieder die Schlüsselsätze:
Wir alle sind die zwei einzigen. Wir überwinden jeden Dualismus. Wir sind die Botschafter der Zukunft, die in der Gegenwart leben. Wir tanzen im Rhythmus der neuen Schöpfung. Wir weben die Fäden der neuen Zeiten. Wir sind die Zivilisation der Zukunft.
Für ihn stand die Avatarisierung der Kultur für einen Guerillakampf gegen den gesellschaftlichen und genetischen Totalitarismus. Eingehend warnte er vor der Verdinglichung des Cyberspace sowie der naiven Doublierung der Welt und des Menschen darin. Er litt an einer schweren Koprolalie, die ihn alle Augenblicke ekelhafte Dinge wie Arschficker, Nike, McDonald oder Bill Gates ausrufen ließ. Die krankhafte Neigung, unanständige, obszöne Wörter auszusprechen, befiel ihn vor einigen Jahren während eines Experiments mit Neurochips. Philipp Kennedy von der Neurochirurgischen Fakultät der Emory University führte im Zuge seiner Versuche, eine Schnittstelle zwischen dem Gehirn und dem Internet zu installieren, eine neurotrophische Elektrode in den Kortex ein. Linus’ Wetware sollte zur Software eines biologischen Servers mutieren und den ersten Knoten einer elektronischen Noosphäre bilden. Anfänglich versprachen die Ergebnisse eine grundlegende Revolution der Mensch-Maschine-Kopplung, aber nach den ersten Online-Tests verirrten sich heimtückische Viren und unzählige Cookies im Gehirn und begannen ein Eigenleben. Linus war seitdem ein schizophrener Avatar, dessen Psyche sich vom individuellen Interface bis zum kollektiven Metaface spannte. Innerhalb dieses Spektrums verwandelte er sich von seinem ursprünglichen Selbst über sein eigenes Double in ein Double zweiter Ordnung. Sein Gehirn glich einer Multi User Dungeon, in der er fremde Stimmen in Telemaskeraden gekleidet halluzinierte und wo autonome Agenten ihr Unwesen trieben.
Linus hatte mit seiner Krankheit zu leben gelernt und akzeptierte seinen geistigen Zustand:
Man muss sich mit der Krankheit anfreunden und sie als Partnerin begreifen. Wenn du die Krankheit bekämpfst, zerstört sie dich.
Linus prognostizierte, falls jenes von Gordon Moore, dem Erfinder des integrierten Schaltkreises und Intel-Gründer, 1965 aufgestellte Gesetz, nach dem sich die Prozessorleistung alle 18 Monate verdoppelt, sich auch in Zukunft bestätigen sollte, dass eine für 1000 US-Dollar erhältliche Rechenleistung im Jahr 2060 die Datenverarbeitungskapazität von einer Billion menschlicher Gehirne aufweisen wird. Server entsprächen Mitte des 21. Jahrhunderts gigantischen Megacities im Taschenformat, unter deren Bewohnern menschlicher und maschineller Art die Zäsur im Alltag sich nivelliert hat und der Turing-Test zur letzten Frage der Metaphysik geworden ist. Agenten in Gestalt simulierter Personen werden zu Mitarbeitern und Kollegen aufsteigen und der Großteil aller wirtschaftlichen Transaktionen wird sich online vollziehen.
Die Bemühungen, Gehirne untereinander und mit elektronischen Netzen zu verbinden, werden uns zukünftig nicht nur die Grenzgänge zwischen realen und elektronischen Welten erleichtern, sie werden uns vor allem selbst zu Doppelagenten machen und den Servomechanismus Mensch-Maschine in eine neue Dimension überführen. Eroberten bislang Medien unseren Kortex nur über den Umweg der Sinne, um uns künstliche Erinnerungen und Erfahrungen zu implantieren, werden neuronale Schnittstellen schizoontische Vorstellungen auslösen.
Das Ich als Server, in das sich im Ritus seit jeher das Fremde eingeloggt hat, soll nun mit technischen Plug-ins aufgerüstet werden. Bislang nur ansatzweise über Mobiltelefone vollzogen, werden sich Menschen subkutan und global miteinander vernetzen und ihr Ich in Form eines biotechnischen Servers veröffentlichen. Die Frage, ob wir dabei als Agent im Auftrag des eigenen Ich oder als Doppelagent in der Mission eines fremden Interesses agieren, wird im Zustand der psychotechnischen Vernetzung vermutlich obsolet sein. Dagegen wird die Frage, ob der Server-Körper als Voraussetzung für eine kollektive Intelligenz uns aus dem Kerker des Ich befreit oder uns zu Ministranten (engl. server = Ministrant) in der kapitalistischen Kirche des neoliberalen Globalismus degradiert, akuter denn je sein.
Abschließend referierte Linus noch über Flash-Würmer, die in 30 Sekunden das Netz infizieren würden, bevor sich das Tourette-Syndrom mit einem Anfall von Koprolalie zurückmeldete. Was blieb war die Überzeugung der Hacker, dass sich die Menschheit in ihrer tradierten Form überlebt hatte. Das Menschheitsprojekt braucht ein neues Betriebssystem, an dem alle gemeinsam zu arbeiten haben, um einer neuen geschlechtslosen, unsterblichen Spezies das Leben zu schenken. Lloyds Kopf brummte. Die subliminalen Wellen der Technobeats und das Gerede von der Überwindung der Individualität und Evolution sowie vom Menschen als Serverexistenz hatte ihn derart ermattet, dass er auf der Stelle einschlief.
Am nächsten Morgen wurde Lloyd von Cindy Jackson wachgeküsst, der Königin aller Schönheitsoperationen, die nach 50 chirurgischen Eingriffen wie eine 18-jährige Barbie-Puppe aussah. Ihre Lippen waren mit Krause-Endkolben übersät und saugten sich taktil an seiner Eichel fest. Durch gezielte Reizung der empfindlichen Epidermiszonen wurde im Hypothalamus die Endorphinproduktion angeregt, bis die Lust sich seufzend entlud. Ihr Lebensabschnittspartner Tim Whitfield masturbierte dazu mechanisch seinen Fleischstängel. Er war von Beruf Webdesigner und stand als der meistoperierte Mann im Guinness-Buch der Rekorde. Er hatte die Augen von Tom Cruise, die Wangen von Johnny Depp, die Nase von Brad Pitt, die Lippen von George Clooney und das Kinn von Russell Crowe. Lloyd war in einem streng monogamen System aufgewachsen, das Liebe und Romantik voraussetzte und auf dem Prinzip der Ausschließlichkeit beruhte. Die Art von Lustgewinn, den das Ehepaar über ihn steigerte, war ihm fremd und empfand er als pervers. Für Cindy und Tim zählte nur das Neue, das die höchste Kategorie sexueller Erfahrung und sinnlicher Empfindung darstellte. Allein das Anomale war in der Lage, sie in Ekstase zu versetzen und eine ungehemmte Befriedigung des Erkenntnistriebes in Aussicht zu stellen. Gegenüber Gewohnheiten hegten sie eine tiefe Skepsis, womit ihre Sexualität Ausdruck einer stetigen Kritik fixer Resultate war. Die Neugierde ernannten sie zum höchsten Prinzip der freien und ungebundenen Liebe. Lloyd erinnerte das Sexualleben der beiden an Francis Bacons Wissenschaftskonzept, das sich in der Aussage, in der Liebe und in der Wissenschaft darf der Mensch alles, auf einen gemeinsamen Punkt bringen ließ. Ihre pubertierenden Kinder, die sich gegenseitig mit Urin bespritzten, stammten aus der Klinik von Panayiotis Zavos und Severino Antinori, die unter der Patronanz von Gaddafi eine Klonfabrik in der libyschen Wüste betrieben. Cindy und Tim, von ihren Freunden Gang & Bang genannt, fristeten bis auf die Besuche diverser Swinger-Clubs ein bürgerliches und geregeltes Dasein und waren angesehene Mitglieder der Kirchengemeinde. Auf die Biophilisten stießen sie rein zufällig, als ihnen ein bekanntes Ehepaar, mit dem sie sich im sonntäglichen Analverkehr übten, von U. G. Krishnamurti erzählte. Sie besuchten ihn in einem indischen Ashram, wo er Cindy empfahl, die Brüste mit Silikon aufzublasen, die Möse zu enthaaren und sich von möglichst vielen langen Schwänzen rammeln zu lassen, um ihr „Moksha“ zu erreichen. Bei Krishnamurti, der ein Sympathisant des esoterischen New-Age-Zweiges der Biophilisten war, hörten sie erstmals von der internationalen Vereinigung, der sie wenig später beitraten. Als Tim sich von seinen Kindern massieren ließ, wurde es Lloyd zu fiel, der den Schauplatz fluchtartig verließ. Von den morgendlichen Geschehnissen angewidert, begab er sich Richtung Achterdeck und stieg den Niedergang der Hütte hinab. Überrascht von seiner Prüderie grübelte er, ob man in Bezug auf Klone von einem Fall pädophiler Inzucht sprechen könne und welchen juristischen Stellenwert genetische und digitale Duplikate im Allgemeinen einnehmen. Ein langer in grünliches Neon getauchter Gang erstreckte sich vor ihm, der erst nach gut dreißig Metern an einer Schleusentür endete. Knarrend beugte sich das Drehgewinde den starken Unterarmen und gab den Blick in einen kesselartigen Raum frei. Seltsame Palmgewächse, Buschwerk und einige Sukkulenten erweckten den Eindruck eines botanischen Gartens. Eine junge Frau Anfang zwanzig, gekleidet in eine Military-Hose und ein gelbes T-Shirt mit dem Aufdruck Biogreen eilte ihm entgegen und begrüßte ihn herzlich:
Fabian, wir haben Sie erwartet. Lassen Sie uns keine Zeit verlieren, es gibt vieles, das Sie sehen müssen.
Mit Fabian war er schon lange nicht mehr angesprochen worden, zuletzt von seinen Studenten in Berkeley. Sie hatte einen dunklen Teint und ihr schwarzes Haar war zu kleinen Zöpfen geflochten. Lloyd nickte wortlos und folgte der Rasta-Lady in ihrem Battle-Dress auf einem schmalen Steg bis zu einer weißen Kugel, die etwa sechs Meter über dem Boden schwebte.
Ich war eine Ihrer Lieblingsstudentinnen, Fabian. Bevor Sie zu trinken begannen und von Berkeley verwiesen wurden, habe ich alle Ihre Vorlesungen und Seminare besucht. Als Mädchen war ich in Sie sogar verliebt, aber das ist lange her.
Verwundert schaute Lloyd in die dunklen Mandelaugen und erkannte Lara als seine ehemalige Tutorin wieder.
Du hattest blondes langes Haar und trugst bescheuerte karierte Miniröcke mit weißen Nylons. Immer wenn ich dich sah, nahm ich mir vor, „never fuck a student“. Du warst das attraktivste Mädchen, und was niemand vermutet hätte, du warst außerordentlich intelligent.
Etwas streng und zweifelsfrei mit den Jahren gereift entgegnete sie:
Gender Studies und Feminismus waren nie Ihre Stärke, Fabian. Sie sollten sich ändern.
Eine enge Wendeltreppe führte in das Innere, das Lloyd im ersten Moment mit einem Planetarium oder Kugelpanorama assoziierte. Der Sphärenraum präsentierte sich als ein konkaver Screen, auf dem Eiweißmoleküle und Kohlenwasserstoffatome projiziert wurden. In einem endlos geflochtenen Band eines DNS-Fadens liefen wie die Aktienkurse auf dem TV-Kanal Bloombergs sequenzierte Basenpaare im Kreis. Lloyd glaubte sich in eine fremde Endowelt versetzt und dachte in Analogie zu Boullées Newton-Denkmal an ein Kenotaph für Watson und Crick. Sein Körper kribbelte und zarte Ströme durchzuckten streichelnd seine Muskulatur. Er fühlte sich leicht, von der Schwerkraft und allem Ballast der Vergangenheit befreit. Stand er in Oswald Wieners Bio-Adapter zur Befreiung von Philosophie durch Technik oder war er in einem Hollywood-Alptraum à la Matrix und eXistenZ gelandet?
Lara mahnte zur Konzentration:
Die Zukunft ist Ihre Gegenwart. Entspannen Sie sich und synchronisieren Sie Ihre Gedanken mit den molekularen Schwingungen Ihrer Körperzellen. Sie können mit Ihren Genen kommunizieren und diese mit etwas Übung einer Korrektur und Neuordnung unterziehen. Passen Sie aber auf, dass Sie nicht wie Jeff Goldblum in Cronenbergs The Fly enden.
Sie lachte souverän und eine Portion Stolz drückte sich in ihrer Körperhaltung aus. Lloyd hatte in seinen Vorlesungen des Öfteren die Autoevolution diskutiert und eine direkte Verknüpfung des Bewusstseins mit der DNS gefordert. Polemisch rief er damals eine Re-Evolution in Form einer radikalen Abnabelung von der natürlichen Evolution aus, welche die Menschheit von „trial and error“ befreien und in eine selbst bestimmte Zukunft führen sollte. Die genetische Autonomie gegenüber der Natur verlangte die Rationalisierung der Evolution, um eine zweite Schöpfungsgeschichte zu installieren. In Anlehnung an Karl Marx’ These, dass wir Geschichte verstehen müssen, um Geschichte zu machen, folgte die Autoevolution der aufklärerischen Maxime einer Rationalisierung des Menschen: Wir müssen die Gene verstehen, um den Menschen zu verbessern. Denn nur was rational erklärbar ist, erweist sich als gestalt- und veränderbar und kann vielfältigen Manipulationen und Duplikationen unterworfen werden. Lloyd visionierte einen genetischen Kommunismus, der das menschliche Genom zur Open Source erklärte. Jeder Wissenschaftler und Bürger sollte das Recht und die Pflicht haben, daran zu partizipieren und an einem neuen Bauplan und Betriebssystem des Körpers zu arbeiten. In der Tradition seiner ehemaligen Moskauer Avantgardistenfreunde verbreitete er supragenetische Manifeste, in denen er die biologische Optimierung als soziale Adaption proklamierte. Die Schönheit des Körpers als Ebenheit der Formen und Gesichtszüge, die bekanntlich auf biometrischer Durchschnittlichkeit beruht, versuchte er als Bioästhetik der Mediokrität und Redundanz zu popularisieren. Seine Bioästhetik ging von einer biologischen Konditionierung unseres Ästhetikempfindens aus, das gezielt den kleinsten gemeinsamen Nenner der genetischen Information fokussiert, um genetische Sicherheit zu garantieren. Würde man alle Gesichter junger Männer und Frauen übereinander legen und piktographisch eine Quersumme bilden, hätte man das aalglatte, von allen Narben und Makeln gereinigte Schönheitsideal ermittelt. Fernsehmoderatoren, Politiker oder Popstars wie Michael Jackson setzten diese Ästhetiktheorie erfolgreich in die Praxis um, und speziell virtuelle Model- oder Staragenturen bauten darauf wie beschrieben ihre Avatare als kollektive Doubles auf. Im Postmodernismus der 1970/80er Jahre, wo ohnehin alles camp war und sich in der Banalität suhlte, stießen seine Aussagen anlässlich von Talkshows und einem Interview im Playboy auf großes Interesse und begründeten das monokulturelle Gesetz des „anything goes average“. Erst Ende der 1980er Jahre, als klar war, dass die Rohstoffressource der globalen Wirtschaft Information heißt, präzisierte er seine Forderungen nach dem genetischen Kommunismus zu einem polygenetischen Biosozialismus, der zur natürlichen und künstlichen Mehrung der Genome in allen Lebewesen aufrief: Gene aller Arten, vereinigt euch. Die Biodiversität wurde zum neuen Schlagwort einer Kultur, in der sich alle Gegenstände und Individuen dem Zustand der Information annäherten. Information beziehungsweise genetische Vielfalt bedeuteten ab nun Reichtum und Wohlstand und sicherten den Fortbestand der Kultur. Er träumte von einem genetischen Babylon, von einem polyvalenten und pluripotenten Universalgenom, das alles Leben in komprimierter Form enthält und sich durch Adaption allen Umwelten anpassen kann. Hollywoodphantasien regte dies zum Missverständnis von Superlebensformen à la Alien an, mit denen die Biophilisten als überzeugte Pazifisten aber nichts zu schaffen haben wollten.
Unterdessen umschmeichelte Lloyd sanft ein Magnetfeld, dessen Resonanz die Molekularstruktur seines Körpers scannte. Bunte Kügelchen in bester Renderqualität und mit aufwändigen Raytracingeffekten versehen perlten wie in einem Champagnerglas über den Screen. Die Auflösung der dargestellten Bilder vergrößerte sich von Minute zu Minute, bis winzige Fäden aus Energie holographisch im Kugelraum zu tanzen schienen. Lara kommentierte dazu, dass alle Materie, belebte und unbelebte, auf so genannten „Strings“ basiert:
Alle Elementarteilchen und physikalischen Kräfte bestehen aus verschiedenartigen Schwingungen vibrierender Strings. Das Universum, die Sterne, der Staub und auch wir Menschen sind die Manifestation eines universellen Energiezustands, der alles durchdringt und verbindet.
Die enorme Rechenleistung für die Analyse und graphische Darstellung lieferten Milliarden über das Internet vernetzte Chips in Computern, Turnschuhen, Kühlschränken, Telefonen usw. Nach dem Modell von seti@home stellten zusätzlich Tausende Biophilisten ihre zu Cluster verbundenen Workstations zur Verfügung, die zusammen mit den dislozierten Chips via Linpack-Benchmark gemessen einige tausend TeraFlops (Billionen Gleitkomma-Rechenoperationen pro Sekunde) an Rechenpower ergaben. Mittels Satelliten-Uplink stand ein Supercomputer zur Verfügung, der dem Schiff Tonnen an Hardware und Gigawatt an Energie ersparte.
Lloyd wurde die energetische Analyse und Resynthese des Bioscanners unheimlich. Er stürmte aus der Kugel die enge Treppe hinab und setzte sich schweißgebadet auf die letzte Stufe.
Es ist schlimmer, an einem gebrochenen Herzen als an Krebs oder Altersschwäche zu sterben. Ihr habt vom Leben nichts verstanden. Durch mein künstlich verlängertes Leben gehöre ich zur ersten Generation, die in einer Gesellschaft leben muss, die herkömmliche biologische Lebeweisen in Frage stellt. Ihr glaubt. mit eurem Willen die Herausbildung einer neuen Weltordnung steuern zu können. In Wahrheit handelt es sich um eine anarchische, ungeregelte Entwicklung, die von einer Vielzahl von Einflüssen vorangetrieben wird. Ihr könnt das Leben nicht bezwingen, und wenn doch, tötet ihr das Herz.
Lara blickte verwundert. Sie war schön und sprach mit ruhiger Stimme:
Beruhige dich, Fabian. Uns allen ist es beim ersten Mal so ergangen. Um uns zu verändern, müssen wir uns selbst erkennen und verstehen, und das tut weh.
Lloyd, der bis auf seine Matsuda-Sonnenbrille kleiderlos war, kam sich jetzt noch nackter vor. Nur mit Mühe unterdrückte er den Brechreiz. Sein Haupt ruhte auf den Knien und sein gebrochener Körper schrie nach Laras Mitleid, deren Hand sich schützend auf seinen Nacken legte und die Stelle zwischen Atlas und Axis streichelte. Zärtlich führte sie ihre Lippen an sein linkes Ohr und sprach ihm mütterlich Mut zu:
Was sich eben ereignet hat, war nicht nur die Emanzipation von der alten Natur als dinglich erfahrene Umwelt, sondern die Loslösung von der Vorstellung einer materiellen Konsistenz der Wirklichkeit überhaupt. Diese Emanzipation ist wie alle Loslösungsprozesse mit Verlusten verbunden und verursacht eine Entfremdung. Träumte das Mittelalter noch von einem Hortus conclusus, wo sich die Zivilisation geschützt von der Wildheit der Natur ausruhen kann, brauchen wir heute Nationalparks, zoologische und botanische Gärten, Labors und Kryoinstitute, um Natur gegenüber Kultur zu bewahren. Die fatale ökologische Situation führt uns das Dilemma vor Augen, dass wir in der von der Technik verwüsteten Natur nur durch Technik überleben können.
Lloyd wusste, dass der natürliche Körper sterben muss, damit der künstliche leben kann. Seine Skepsis gegenüber dem Bioscanner lag in der Furcht begründet, decodiert und möglicherweise des Schicksals und des Geheimnisses des Lebens beraubt zu werden. Er bangte nicht um seine Identität, seinen Charakter oder gar um seinen physischen Körper, er sorgte sich um seine Hoffnungen und Träume. Seine passionierte Liebe zur Rationalität und Wissenschaft war einer mythischen Angst gewichen und ein rätselhafter Dämon setzte sich in seinem Gehirn in Betrieb. „Better dead than read?“ war bislang keine Entscheidungsfrage, die unumkehrlich und ohne Alternative einen ultimativen Schiedsspruch über das Leben fällte. Sie war techno-anthropologisch ein gleitender Prozess mit kontingentem Ausgang und einer zumindest rhetorisch bestehenden Möglichkeit der Umkehr. Auch wenn er der Humangenetik sein künstlich verlängertes Leben verdankte, definierte er sich bislang über die Illusion eines persönlichen Genoms.
Lloyd hatte sich wieder gefasst und urinierte an den Stamm eines Saguaro-Kaktus.
Entschuldige Lara, aber nur im Tabubruch und in der Niedertracht empfinde ich mich als Mensch und den Maschinen gegenüber erhaben. Die Betrachtung meines Selbst im Kugelbiorama hat mich überfordert. Aufgespalten in eine fadenscheinige Oberfläche bin ich mir zur Oberflächlichkeit degradiert vorgekommen. Ich war zeitlebens paranoid und fühlte mich beobachtet. Und wenn dieses Gefühl eines Tages wegfallen sollte, weiß ich, dass sie mich haben. Mich ekelt nicht vor Körperöffnungen, Wunden oder Eingeweideschauen, mich schaudert vor der systematischen Zerschneidung und Transformation des Körpers in sterile Oberfläche. Die Zertrümmerung der Welt hat mit der Protoaufklärung der Spätscholastik begonnen und sich mit der Atom- und Quantenphysik, mit der genetischen Kartographierung, dem Human Genome Project und der Shotgun-Technik Craig Venters unendlich beschleunigt. Diese Beschleunigungskräfte zerfetzen mich …
Lara verstand, wovon er sprach, denn die abendländische Partikulierung der Welt reichte von Wilhelm von Ockhams „razor“, dem philosophischen Rasiermesser, das die Welt in ihre Einzelheiten zerschneidet, über Leonardos anatomische Studien bis zum Visible Human Project. Und das Biorama im Schiffsbauch war nur eine aktuelle Fortsetzung und Verfeinerung des Schneidens und Scannens als Methode der Analyse, Systematisierung und Formalisierung. Der Körper war kein notwendiges Schicksal, sondern mögliche und gestaltbare Zukunft. Als pluripotente Zellmasse war er Projektionsfläche für alle nur erdenklichen Formen und Eigenschaften. Die universellen Gesetze der Konversion und Transformation hatten den Körper erfasst und ihn zu einem Tauschobjekt gemacht. Ein Objekt, das sich in Worte und Bits und von diesen wieder in Fleisch wandeln konnte.
Ein rhythmisches Klopfen stöckelte hastig über den metallenen Steg. Jessica Brown, die geklonte Schwester von Louise Brown, dem ersten 1978 geborenen Retortenbaby, stand in High Heels vor Lara und Lloyd. Sie war groß, von gazellenhafter Statur und elegant gekleidet. Zu den extravaganten gelben Lacklederstiefeln trug sie einen türkisfarbenen hautengen Catsuit mit Leopardenmuster. Ein gebundenes Seidentuch in Magenta akzentuierte den Hals und verlieh zusammen mit den nach oben gesteckten silberblonden Haaren ihrem Antlitz ein majestätisches Aussehen. Kühl und bar höflicher Floskeln begrüßte sie mit tiefer Stimme Lloyd, der erst jetzt das biologische Geschlecht seines Gegenübers erkannte. Mit einem ausladenden Hüftschwung eskortierte sie ihn durch das Pflanzendickicht zu einem waagrecht im Raum schwebenden Zylinder. Durch eine Luke stiegen sie in die weiße Trommel, wo Lee M. Silver, Joseph Vacanti und Leroy Hood auf pneumatischen Möbeln kauernd entspannt plauderten und Kaffee tranken. Serge-Mouille-Kronleuchter hingen von der Decke und auf dem glitzernden grün-weißen Terrazzoboden verteilten sich leger Dialogica-Stühle, bezogen mit Giant-Textiles-Chenille, Teppiche von Maurice Velle Keep, eine Hans-Wegener-Chaiselongue sowie ein Ruhlmann-Sessel mit Paisley-Kissen. Blaue Kugelmonitore zeigten Fisheye-Bilder des komplizierten Videokontrollsystems und überwachten dekorativ – nur gelegentlich von Chris Cunninghams und Aphex Twins Clip „Windowlicker“ unterbrochen – das gesamte Schiff. Silver, der eine Helmut-Lang-Jeans und eine Helmut-Lang-Maulwurffelljacke mit einem rostgrünen Comme-des-Garçons-Sweater trug, war Molekularbiologe. Bevor er auf dem Schiff der Biophilisten anheuerte, widmete er sich an der Universität Princeton dem Phänomen der Zellalterung. Bereits in den 1990er Jahren, als der Fall Fabian Lloyd und die Experimente von Frau Dr. Mirzajanov noch strengster Geheimhaltung unterlagen, lehrte er in seinen Vorlesungen, dass es keinen wissenschaftlichen Grund gebe, warum der Mensch in naher Zukunft nicht die Unsterblichkeit erreichen könne. Er war überzeugt, die Lebensspanne menschlicher Zellen auf das Zehnfache zu verlängern. Durch das Einschleusen des Enzyms Telomerase in die Telomere, die eine Art genetische Schutzkappe am Ende der Chromosomen bilden, gelang es ihm, diese auf ihre ursprüngliche jugendliche Länge zu ergänzen. Der Alterungsprozess, der natürlicherweise nach fünfzig Zellteilungen beginnt und die Zellen angreift, konnte durch das Enzym unterbunden werden. Damit war ein 150-jähriger Mensch von einem 30-jährigen nicht mehr zu unterscheiden. Neben Silver saß der Gewebezucht-Pionier Joseph Vacanti in hautengen Jeans, einem Hemd mit einem Muster explodierender Sterne, einem langen Armani-Mantel und Motorradstiefeln. Im Bereich des Tissue Engineering hatte er sich an der Harvard Medical School in Boston den Ruf erworben, sämtliche Gewebearten, darunter ganze Finger, Muskelgewebe, Blutgefäße oder Herzklappen in Nährlösungen sprießen zu lassen. Firmen wie Novartis oder Organogenesis, die mit dem Hautprodukt Apligraf Millionen verdienten, erweiterten auf seine Forschung aufbauend ihre Produktpalette, die mittlerweile nicht nur den gesamten menschlichen Körper umfasste, sondern auch Ersatzteile für Hunde, Katzen und Rennpferde anbot. Leroy Hood rauchte eine Partagas-Perfecto-Zigarre und steckte in einem dunkelbraunen Anzug von Gucci. Er war eine Koryphäe auf dem Gebiet der Bioinformatik und wurde von Bill Gates als Einstein des 21. Jahrhunderts bezeichnet. Seine DNS-Computer lösten die alten John-von-Neumann-Rechner ab und speicherten Daten in einer Flüssigkeit, wovon ein Teelöffel die Kapazität einer herkömmlichen Festplatte in der Größe eines Fußballfeldes hatte. DNS-Computer rechneten 9.000 Mal schneller als herkömmliche, nur die Auswertung der Ergebnisse machte noch Probleme, weshalb Hybridcomputer den PC-Markt erobern sollten. Der Odradek hatte Lloyd in der Nacht vor drei Tagen einen Einblick in diese Technologie gewährt, ohne die er sich nun inkomplett vorkam. Dem Kognitionsapparat seiner Wetware fehlten seit diesem Zeitpunkt Sinn und Sinne. Seine Lebenssituation entsprach dem Zustand einer unglücklichen Liebe mit dem Gefühl eines grausamen Defizits. Er war verunsichert, informationsdesorientiert und sehnte sich unstillbar nach dem ergänzenden Bewusstseinsverstärker wie nach einer unerreichbaren Geliebten.
Im hinteren Teil der Trommel dekorierten Schwarzweißfotografien von Edward Steichen den Raum, der als erster Genkünstler 1936 Pflanzenhybride im Guggenheim Museum präsentiert hatte. Davor zuckte in einer Glasvitrine das biotechnisch kreierte Herz eines britischen Künstlers. Gleich neben dem Multiple ragte die Hand eines italienischen Künstlerkollegen aus einem Sockel und zeichnete in einem lyrischen Duktus feine Bleistiftstriche auf ein Blatt Papier. Angeregt unterhielten sich dort diverse Vertreter von Ethikkommissionen, die allesamt auf der Gehaltsliste von Biotech-Konzernen standen. Nancy Dubler von Montefiore Medical verdankte die sexuelle Ausdauer ihres zweiten Mannes DNA Sciences, Ronald Green von Dartmouth ertränkte in Gimlets die vierte Leber, die ihm Advanced Cell Technology sponserte, Arthur Caplan von der Universität Pennsylvania stand bei Celera Genomics und DuPont in der Schuld für den Totalersatz seines Körpers, der bei einem Flugzeugabsturz zertrümmert wurde, und Karen Lebacqz von der Pacific School of Religion erhoffte sich von Geron Corporation mittels Hautschuppen des Turiner Grabtuchs die Klonierung von Jesus, um den Orden der Vorhaut Christi zu revitalisieren. Ansonsten standen zahllose CEOs von Monsanto, de CODE Genetics, Millennium Pharmaceuticals, Geron Corporation, Pfizer, AstraZeneca Pharmaceuticals, E. I. du Pont de Nemours and Company, Human Genome Sciences, Schering-Plough Corporation, Eli Lilly and Company, GlaxoSmithKline Inc., U.S. Pharmaceutical Group, Bayer Corporation, Procter and Gamble Company, und Wyeth-Ayerst Pharmaceutical herum und schoben sich Unmengen an Hors d’oeuvres in den Mund.
Langsam bewegte sich der Menschenstrom durch eine Schleusentür in einen lichtdurchfluteten Gang, wo aus Lautsprechern eine Coverversion von „Substitute“ von The Who tönte. Am Ende des Ganges öffnete sich ein weiter Saal mit kreisförmiger Drehbühne in der Mitte, auf der Klone von Kate Moss, Markus Schenkenberg, Naomi Campbell, Scott Benolt, Linda Evangelista, Rick Dean, Eva Herzigova und Craig Palmer in akrobatischen Stellungen kopulierten. Eine ausgelassene Stimmung machte sich breit und einige CEOs in Stussy-Kleidern und Adidas-T-Shirts begannen im Takt zu „Für immer jung“ von Karel Gott zu swingen. Vicodin, Xanax und andere Psychopharmaka machten die Runde und Replikanten von Cindy Crawford, Yasmeen Ghauri und Paulina Porizkova verteilten Gonadotropine, Steroide und tripige Neurochips. Chris und Gary, muskulöse Zwillinge in gestreiften Seemanns-Uniformen von Gaultier rahmten Lloyd und versuchten alle paar Minuten, eine Konversation mit „cool Baby“ zu starten. Die in Lizenz von Mattel in Taiwan produzierten Realdolls sprachen von Schönheit als Leistung, verwechselten die UNO mit U2 und erkundigten sich nach dem neuesten Hit der PLO. Der Saal war mittlerweile zum Bersten mit Menschen gefüllt, die nach Fraktionen gruppiert in couchähnlichen Sitzmöbeln in Chromosomenform Platz nahmen.
Endlich dimmte die Beleuchtung ab und ein Hologramm informierte den Raum mit Tagesordnungspunkten des Biophilisten-Kongresses. Die Frage „Better dead than read?“ sollte endgültig entschieden werden und als Bio-Codex in die Verfassung der Biophilisten eingehen. Soll das Genom der Menschen und ihre Neuronalstruktur „gelesen“, entziffert und somit repliziert, lektoriert und optimiert werden oder soll der Mensch auch in Zukunft als schicksalhaftes Wesen in die Welt geworfen werden und eines natürlichen Todes sterben? Der Gruß „Willkommen im Haus Salomon“ und die Botschaft „Handeln vereint, Worte trennen“ drehten sich als Flying Logos an der Decke, bis zwei Ellipsoide mit Verfassungsentwürfen eingespielt wurden, wovon jeder fünf Punkte beinhaltete. In einem schimmernden Rot leuchteten in der oberen Datenwolke die „Pursuit of Happiness“ des technophilen Flügels der Biophilisten:
Die untere Datenwolke leuchtete grün und breitete sich als ringförmiger Nebel um die über ihr schwebende. Darin zählte der fundamentalistische Flügel seine fünf Punkte auf:
Für beide Fraktionen markierte die Frage „Better dead than read?“ den entscheidenden Paradigmenwandel, der über Techniken des digitalen und genetischen Lesens, Speicherns und Kopierens von Strukturen des Lebendigen auf eine zweite Schöpfungsgeschichte abzielte. Die Digitalisierung der Denkstrukturen als Uploading the mind, das Scannen des Genoms, die Klonierung von Leben und das Transgene eröffneten die Perspektiven einer autoevolutiven Kultur, die erstmals in der Menschheitsgeschichte absolute Selbstbestimmung oder völlige Selbstsubstitution als Hoffnung oder Gefahr in Aussicht stellte. Vertrauten die biophilen Bodybuilder, Fitnessgurus und Beauty-Fanatiker auf den platonischen Satz vom intimen Zusammenhang zwischen dem Schönen, Wahren und Guten, sahen die biophilen Fundamentalisten darin nur einen naiven Soma-Faschismus. Glaubten die einen an eine transhumanistische Expansion in den Mikro- und Makrokosmos, an die Überwindung der biologischen und geistigen Grenzen des Menschen, warnten die anderen vor der Fehleinschätzung ökologischer Risiken und der Selbstabschaffung durch mangelndes Komplexitätsbewusstsein. Wollten die Technophilen den Menschen durch Substitution kranker Gene perfektionieren, verweigerten die Fundamentalisten jedes Urteil über gute und schlechte Gene, da so genannte schlechte Gene oft zu guten werden können und beispielsweise Gene für die cystische Fibrose vor Melanomen schützen oder Gene für Sichelzellenanämie gegen Malaria immunisieren. Sahen die einen die genetische Information als Rohstoffressource der neuen globalen Wirtschaft, die durch die Erzeugung von Nahrung in Bakterientanks alle Ernährungsprobleme lösen würde, befürchteten die anderen eine gentechnische Umweltverschmutzung, die den im 20. Jahrhundert durch petrochemische Produkte verursachten Schaden weit übertreffen würde.
Im technophilen Flügel mehrte sich die Unruhe und einige Stimmen wurden laut, die von einem längst überwunden geglaubten Konservativismus sprachen, der dogmatisch und moralisierend Zukunft verhindere. Der Fortschritt der Wissenschaft bestünde nicht aus Kompromissen, sondern aus mutigen Taten und Entscheidungen. Es war nicht leicht, zwischen diesen beiden machtvoll saugenden Strudeln hindurchzusteuern. Berechtigte Zweifel, ob es überhaupt möglich ist, standen im Raum. Die Technokultur brauchte aber ein bestimmtes Richtmaß, um die Erfordernisse der Zukunft zu erkennen und die Welt zu verbessern. Sollte das den Biophilisten nicht gelingen, dann war es wohl besser, an der Szylla zu scheitern als an der Charybdis. Und selbst wenn die Fahrt ein fatales Ende nehmen sollte, dürfen die Kybernetiker das Steuer nicht aus der Hand geben: navigare necesse est.
Lloyd hatte jedes Gefühl für Raum und Zeit verloren. Die Luft roch nach Palisander und Zitrone und ein feiner Glitzerstaub rieselte von der Decke. Unzählige Redner nahmen zur Frage „Better dead than read?“ Stellung, Models tanzten zu „Linger“ von den Cranberries und einige New-Age-Anhänger übten sich zur Beruhigung in Rebirthing, transaktioneller Analyse, Zen-Meditation, Do In und NLP. Diesmal war die Stimmung nicht einfach wegfickbar, alles roch nach Rezession. Als Dr. Moreau, begleitet von seinem Assistenten Cornelius vom Planeten der Affen die Rednerbühne erklomm, verließen einige Fundamentalisten demonstrativ den Saal:
Jede geschlechtlich differenzierte Spezies ist zwangsläufig sterblich, da die Chromosomenteilung während der Meiose eine Quelle struktureller Instabilität darstellt. Durch Zusammenfassung genetisch wertvoller Merkmale können wir aber einen Genotyp schaffen, der vollkommener ist als sämtliche Originale. Unser Ziel ist ein Chromosomenschema, in welchem wir die Gene, die für funktionale und organische Erbkrankheiten verantwortlich zeichnen, gänzlich eliminieren. Dieser optimierte genetische Code muss dann in ein strukturell stabiles Format konvertiert werden, das keinen Störungen und Mutationen unterworfen ist. Jede Zelle wird so in die Lage versetzt, sich unendlich oft zu replizieren. Natürliche Mutationen sind dadurch ausgeschlossen. Durch künstliche wird der Mensch jedoch zu Leistungen imstande sein, die bei der Gattung homo bisher unbekannt waren. Die Furcht, dass, wenn alle Individuen den selben genetischen Code besitzen, Individualität und Persönlichkeit verschwinden, ist unbegründet. Das einzige, was verschwinden wird, ist die Quelle unseres Leidens.
Nach Dr. Moreau bedeutete die Idealgenetik nicht die gesellschaftliche Normierung und biologische Konditionierung von Aussehen und Verhalten, sondern die Befreiung aus dem Kerker des Körpers und dem Verlies der Gene. Christliche Gegner des Klonens, die um das Seelenheil bangten, verspottete er, mehr an die Naturwissenschaften als an Gott zu glauben. Fundamentalisten zitierten unterdessen einen alten Artikel aus der Süddeutschen Zeitung, in dem Jürgen Habermas das Verbot des Klonens forderte. Wie die christlichen Klon-Gegner sprach Habermas von einer biologischen Versklavung, welche die Freiheit des menschlichen Genoms manipuliert und durch einen gesteuerten Eingriff bestimmt. Für Dr. Moreau klangen derartige Argumente paradox und irrational, denn die eigentliche Unfreiheit lag für ihn im blinden Zufall der biologischen Vererbung. Vertreter dieser Denkhaltung bezichtigte er, mit dem Leben verantwortungslos umzugehen und ihre Gene wie Jetons auf dem Spieltisch zu verschleudern. Für ihn gab es keinen Grund, der kalkulierten Vernunft weniger zu trauen als dem Würfelwurf des Schicksals. Seine Rede schloss rhetorisch mit zwei Alternativen, die nur eine Konsequenz, nämlich den gentechnischen Eingriff zuließen:
Entweder determiniert uns das Genom und wir sind folglich biologische Maschinen, womit das Verbot des Klonens eine verzweifelte Aufrechterhaltung des Scheins von Willensfreiheit wäre, oder unser Genom determiniert uns nicht völlig, so dass es keinen Grund zur Besorgnis gibt, da der genetische Code nicht unsere persönliche Identität affiziert.
Lloyd empfand derartige Diskussionen als mühsam und antiquiert. Abgesehen davon, dass ihm die grün-weiße, viel zu weit geschnittene Diesel-Jacke, die Klapperschlangen-Stiefel und die protzige Jaeger-Le-Coultre Reservo Armbanduhr von Dr. Moreau suspekt waren, ernährten sich ohnehin alle Vegetarier ausschließlich von Hybridgetreide und Turbogemüse. Er wertete die Einwände der Klongegner als rassistisch und gegenüber eineiigen Zwillingen als unfair. Wenn es so etwas wie eine Seele gab, war diese schon längst zu einem Hybrid aus Maschine und Organismus, Kultur und Natur, Öffentlichkeit und Privatheit mutiert. Dementsprechend zielten die Zuschreibungskonzepte des Subjekts auf eine zustandsbezogene Ontologie, auf permeable Identitäten und kontingente Existenzdispositive.
In der Pause projizierten engagierte Fundamentalisten auf mehreren Screens Videos wie Gattaca oder Die Frauen von Stepford. Wieder gingen Tabletts mit Hors d’oeuvres durch den Saal und in kleinen Gruppen wurde über Verfassungsentwürfe diskutiert. Auch Hans und Marvin waren anwesend und unterhielten sich mit Cher, Joan Collins und Pamela Anderson, die gerade aus der Hibernation erwacht waren. Zu viele Haare, zu wenig Muskeln, schwacher Tonus, klare Körperlinien, Falten: All dies entschied über Freundschaften und so wurden Liebhaber gewählt. Hans flirtete mit Pamela:
Wenn wir die Gene neu denken und mit den Genen denken, kommen wir dem Satz des Parmenides nahe, dass der Akt des Denkens und der Gegenstand des Denkens miteinander verschmelzen müssen.
Pamelas Lippen dehnten sich zu einem Lachen: Wissenschafter sind so sexy.
Hans: Der Mensch muss zur ersten Spezies werden, die sich selbst geschaffen hat.
Chers Mund verzog sich zu einem Flunsch. Und Hans weiter: Der Mensch muss die gesamte Entwicklung der Welt, insbesondere seine eigene biologische Entwicklung steuern und die Kurven des Körpers kratzen.
Joans Vierzig-Karat-Diamant glitzerte wie eine Disco-Kugel und ihr Bindi auf der Stirn akzentuierte das enganliegende Yohji-Yamamoto-Kleid: Indras Netz soll unser Vorbild sein. Wir müssen die Individualität, die Trennung und das Werden überwinden und in einem einzigen Supergeschlecht wohnen.
Jetzt kam Marvin in Fahrt: Ihr seid cool, Mädchen. Ich bin für einen einzigen Gaia-Cortex: zehn Milliarden Individuen auf der Erde – zehn Milliarden Neuronen im menschlichen Gehirn.
Eine andere Gruppe bildete Al-Fajed mit seinen einhundert geklonten Brüdern. Sie widmeten sich ganz den Mango-Daiquiris und ihrem Anliegen eines Neu-Atlantis als zentral-föderalistische, sozio-kapitalistische und liberal-ökologische Wissensgesellschaft. Dahinter standen Ted Turner, RuPaul, Christopher G. Langton, Howard Stern, George Clinton, George C. Williams, Lynn Margulis, Richard Dawkins, Steve Jones, Brian Goodwin, Daniel C. Dennett, Steven Pinker, Stuart Kauffman, J. Doyne Farmer und Murray Gell-Mann. Ihnen ging es darum, die verworrene Ideologie des New Age für die Strömung der Biophilisten zu nutzen und zugunsten eigener Thesen umzupolen. Abgesehen von einer esoterischen Ökologie, traditionellen Denkweisen, einer Reminiszenz an die Hippie-Kultur und einem Esalener Gedankengut lobten sie die Absage an die Katastrophen des 20. Jahrhunderts und an den neoliberalen Individualismus. Gemeinsam visionierten sie eine fundamentale Wandlung, damit sich die Gesellschaft selbst überleben konnte. Was die Gesellschaft benötigte, waren keine neuen Philosophen, Künstler, Human- und Geisteswissenschaftler, sondern Naturwissenschaftler. Nur Wissenschaftler und Denker in der Welt der Empirie konnten die tiefere Bedeutung des Lebens sichtbar machen und neu definieren, wer und was wir sind. Die Bewegung der Biophilisten lieferte dazu den sozialen Klebstoff. Nur sie sicherte die kohäsive Kraft in der Gesellschaft zur Erschaffung einer dritten Kultur.
Ein älterer Herr in weißer Uniform betrat die Bühne und erhob als Kapitän des Schiffes seine Stimme. Abrupt verstummte das Klirren der Gläser und eine sanfte Stimme erfüllte den Saal:
Wir stehen offenbar am Ende einer Epoche. Ich meine damit nicht das Zeitalter von Dampfkraft und Elektrizität und den Übergang zum Zeitalter der Kybernetik und Kosmonautik. Schon in dieser Wortwahl steckt die Unterwerfung unter Technologien, die viel zu mächtig werden, als daß wir uns auch in Zukunft mit ihrer Selbstherrlichkeit abfinden könnten. Die menschliche Zivilisation ist wie ein Schiff, das ohne Pläne gebaut wurde. Über alle Erwartungen hinaus ist ihr das Bauwerk gut gelungen. Sie hat gewaltige Antriebsmaschinen geschaffen und das Innere ihres Schiffes eingerichtet, freilich ungleichmäßig, doch das läßt sich noch ändern. Aber dieses Schiff hat keinen Steuermann. Es fehlt der Zivilisation an dem Wissen, mit dessen Hilfe sie unter den vielen Möglichkeiten bewußt ihren Kurs wählen könnte, statt sich von den Strömungen zufälliger Entdeckungen treiben zu lassen. Denn die Entdeckungen, aus denen das Bauwerk erwuchs, sind teilweise noch immer ein Werk des Zufalls. Daß wir – in Unkenntnis des weiteren Weges – die Ufer der Sterne ansteuern, ändert an dieser Tatsache nichts. Wenn etwas möglich ist, wird es von uns mit Sicherheit realisiert. Die Wissenschaft hat sich auf ein Spiel mit der Natur eingelassen, und sie gewinnt eine Partie nach der anderen, doch läßt sie sich dermaßen in die Konsequenzen ihrer Siege verwickeln, beutet sie jeden dermaßen aus, daß sie statt einer Strategie nur Taktik betreibt. Das Paradoxe ist nun, daß in Zukunft mit wachsenden Erfolgen die Situation nur schwieriger werden wird, denn es wird (…) nicht immer möglich sein, alle Errungenschaften auszunützen. Der embarras de richesse, die Informationslawine, die der Mensch durch seine Erkenntnisgier ausgelöst hat, muß unter Kontrolle gebracht werden. Wenn wir nicht lernen, auch den Fortschritt des Wissens zu regeln, werden die weiteren Etappen unserer Entwicklung immer stärker vom Zufall bestimmt sein. Unsere Siege – plötzlich sich eröffnende phantastische neue Handlungsmöglichkeiten – werden uns durch die beeindruckende Größe gefangennehmen und uns dadurch den Blick auf andere Möglichkeiten versperren, die auf lange Sicht vielleicht wertvoller sind.
Lara schob sich durch die Menge und drückte Lloyd eine Louis-Vuitton-Tasche in die Hand: Fabian, Sie sind als Nächster an der Reihe. Es liegt nun an Ihnen. Sprechen Sie als neuer Herkules, feiern Sie Ihren Sieg und bringen Sie Ihr Opfer dar.
In der Tasche befanden sich Maßschuhe, Toilettezeug, ein Armani-Anzug und andere Kleidungsstücke. Auf dem Adressanhänger der Tasche stand der Name seiner Frau, Mina Loy. Panik tauchte alles in einen grellen Lichtblitz. Der Notausgang war nur wenige Meter hinter ihm. Worte trennen, Handeln vereint. Unauffällig stellte er die Tasche neben Nancy Dubler, Ronald Green, Arthur Caplan und Karen Lebacqz auf den Boden. Die Paranoia punktierte trotz eisiger Kälte seinen Körper mit glitzernden Schweißperlen und Gedanken quälten ihn, dass der Griff der Tasche oder der Anzug mit Toxin getränkt wäre, das durch die Haut diffundiert. Vielleicht war aber alles nur Einbildung und es handelte sich nicht um Gift, sondern um Semtex. Wenige Gramm des geruch- und farblosen Plastiksprengstoffs konnten einen Körper mittels Mobiltelefons als Zünder in Stücke zerreißen. Kaum hatte er die ersten Stufen der Nottreppe, die zum Deck empor führte, hinter sich gelassen, erschütterte ein lautes Geräusch den Schiffsrumpf. Nancy, Ronald, Arthur und Karen waren auf der Stelle tot. Pamela, Cher und Joan teilten sich eine von der Hitze zum Teil eingetrocknete Blutlache. Chris und Gary waren zur Unkenntlichkeit zerstückelt und dekorierten wie rotschwarzes, zähfließendes Lametta den Plafond des Saals. Nach Sekunden absoluter Stille krochen mit dem Rauch die Schreie der dutzenden Opfer durch den Niedergang.
Endlich wieder auf Deck, vorbei an einer DJ-Kabine mit mehreren Turntables und Computermonitoren, weitete sich vor Lloyd die See. An der Reling stand Surflegende Eddie Aikau neben seinem roten Brett und ließ den Blick auf der Suche nach der perfekten Welle den Horizont entlangschweifen. Lloyd fühlte sich wie einst in Waimea Bay, doch im Unterschied zu damals war heute alles anders. Seitdem sich Lloyd und Eddie im März 1978 das letzte Mal auf einem Hokuléa-Kanu gesehen hatten, waren Postmoderne und New Age an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. Eddie Aikau, Bademeister des Jahres 1971 und Star der ersten I.P.S. World Tour 1976, war ruhiger und nachdenklicher geworden. Die Jahre zwischen dem Verschwinden nördlich von Lanai und der zufälligen Bergung durch die Biophilisten verbrachte er einsam auf seinem Brett im Ozean treibend. Die Strömung des Kaiwi-Kanals hatte ihn fernab jeder Zivilisation auf die traditionellen Wasserwege seiner polynesischen Vorfahren getrieben, wo er das Ohr am Brett den alten Erzählungen der Wellen lauschte:
Jedes Atom unseres Körpers war einmal Teil eines Sterns. Deshalb zieht es uns in den Weltraum und deswegen müssen wir alle Stars werden. Durch Wissenschaft und Technik werden wir früher oder später Aliens begegnen, und das werden wir selbst sein.
Eddies salzverkrustetes und sonnenverbranntes Gesicht, von dem die Haut in Fetzen hing, grinste breit. Lloyd, es ist Zeit, das Schiff der Medusa zu verlassen. Du bist der Shockwave Rider, der seine Sehnsucht im unendlichen Blau ertränken muss. Darrek Doerner, der neben Eddie auf der Reling saß, reichte ihm ein von Dick Brewer aus ultramarinem Jelly-flesh geshapetes Surfbrett.
Unbeirrt setzte das Schiff der Biophilisten seinen Okzidentalkurs fort. Ob es jemals den Hafen von Neu-Atlantis angelaufen hat oder in der Mumbai Port Scrapping Area gelandet war, wusste nur Ted Turner, der dank seines Senders CNN dem Zwischenfall unter Deck heil entkommen war. Über den Ausgang der Geschichte wurde noch verhandelt, aber wahrscheinlich hatte sich Time Warner die Rechte an der Zukunft der Menschheit längst gesichert …