Sabine B. Vogel

Raum für Mögliches*

I. Wissenschaft und Kunst

Unterschiedlicher könnten die Wege kaum sein. Naturwissenschaftler suchen Regelmäßigkeiten, sondieren und trennen und folgen seit Jahrhunderten derselben strengen Methode: Es herrscht die Logik. Beweisbarkeit, Formeln und Falsifizierungen schließen Zufall und Widerspruch aus. Der Kunst dagegen steht die Welt als Spielzimmer zur Verfügung, das konkrete Inventar wie die subjektive Befindlichkeit, erfahrbare, ahnbare oder vermutbare Zusammenhänge, wissenschaftliche Theorien und Erfindungen – kurz: die ganze, ungeheure Vielfalt des Gewebes, das wir „Wirklichkeit“ nennen, ist ihr Material, um eigene „Wirklichkeiten“ entstehen zu lassen. Beide weben daraus Muster für Erfahrungen, jede ein eigenes.

II. Konzeptuelle Narration

„Konzeptuelle Narration“ nennt Thomas Feuerstein seine Methode. Ein wesentlicher Aspekt darin ist die Gleichwertigkeit von sprachlichen und visuellen Teilen. Erst im Zusammenspiel funktioniert die Methode, die allerdings zur Folge hat, dass sich keine Interpretationen mehr anfügen lassen – Feuerstein selbst präsentiert eine Interpretation oder eher ein Mosaik, das ein Bild unserer Gesellschaft entwirft. Indem er die verschiedensten Fäden zusammenknüpft, aus Natur- und Geisteswissenschaften, aus Biopolitik und Gesellschaftstheorie, kann er ein komplexes Weltmodell entfalten. Dies ist weder in sich geschlossen noch übersichtlich strukturiert oder gar einer wissenschaftlichen Logik folgend. Es ist künstlerisch, überwältigend ob der Menge und Unterschiedlichkeit der Muster und überzeugend in den sprachlichen Argumentationen und den visuellen Formen. Jedes Element bietet einen eigenen Einstieg, um in eine Gedankenwelt zu führen, die Fragen nach der Zukunft der Menschen stellt – in eine Wirklichkeit, die geprägt ist von Wissenschaftsgläubigkeit, aber auch von subjektivem Erleben und gesellschaftlichem Auftrag.

Aus Assoziationen und Analogien, Fakten und Fiktionen entstehen seine Werke. In seinem „Biophily“-Projekt aus dem Jahr 2002 konzentriert sich Feuerstein auf Wendepunkte und Wechselwirkungen zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen Biologie, Technologie und Mythologie. „Biophily“ ist dabei eine Abwandlung von Biophilie, die Liebe zum Leben, der Erich Fromm in den 60er Jahren die Nekrophilie (Liebe zum Tod) als aktuellen Antrieb für Fortschritt unserer in alles Nicht-Lebendige, Maschinenhafte verliebten Gesellschaft gegenüberstellte. Ohne Fromms Polarisierung und Bewertung aufzugreifen, fügt Feuerstein diesem Muster neue Fäden aus Leben und Technologie hinzu.

Für seine Installation „Fiat“1 2003 im Leopold Museum, Wien, spannt Feuerstein soziologische (Negris „Multitude), philosophische (Thomas Hobbes‘ „Leviathan“), biomedizinische (Krebstherapie), metaphorische (Luster) und biologische (Staatsqualle) Fäden zusammen. Seine Ausgangsfrage: Wohin steuert, woran orientiert sich die Gesellschaft? Seine Antwort: Zunächst einmal müssen wir feststellen, dass wir uns in einem Spannungsfeld zwischen „radikalen Individuen“ und „sozialen Genossen“ befinden.

Als Sinnbild von Sozietät dient die Staatsqualle. Es scheint ein einziger, geschlossener Organismus zu sein, der allerdings aus eigenständigen Einzelteilen besteht – eine arbeitsteilige, kleine Gesellschaft, eine Kolonie von Individuen, noch dichter zusammengerückt, als es ein Bienenvolk oder Ameisenstaat ist. Ein anderes Bild für Sozietät ist der Kristallluster: Erst in der Gemeinsamkeit und derartigen Anordnung von geschliffenen Teilen entsteht das bemerkenswerte Leuchten, erst der Zusammenhang erzeugt die Wirkung. Feuerstein betitelt den Luster „Leviathan“ – ein vieldeutiges Wort. In der Bibel wird damit ein Ungeheuer – mal als Schlangenmonster, als schlafender Drache oder als Mischwesen mit Krokodilzügen – benannt. Thomas Hobbes betitelte dann 1651 seine berühmte Staatstheorie mit diesem negativ belasteten Begriff – als indirekte Warnung? Denn sein Leviathan ist ein absoluter Herrscher, ein Synonym für den Machtstaat, der den Menschen zwar Sicherheit und Ordnung garantiert, aber immer die Gefahr von Missbrauch enthält: der Staat kann auch zum Ungeheuer werden.

Für die „radikalen Individuen“ stehen Tumorzellen, „egoistische Zellen, die nur ihre eigene Selbsterhaltung auf Kosten aller anderen Zellen anstreben, brechen sie mit dem genetischen Gesellschaftsvertrag des Körpers. Die Aussicht auf unbeschränktes metastatisches Wachstum und ewiges Leben verlagert metaphorisch den tobenden Gesellschaftskampf im Spannungsfeld von Individualität und Sozietät vom hobbesschen Staatskörper in den menschlichen Körper des Bürgers.“2

III. Konfabulieren

Thomas Hobbes unternahm es, naturwissenschaftliche Methoden auf seine Staatsphilosophie zu übertragen. „Denken ist Rechnen“ schrieb er einmal. Feuersteins Methode ist stattdessen ein „Denken ist Verflechten“. Der Macht der Wissenschaft stellt er die Macht der Erzählungen zur Seite, die auf scharfer Beobachtung und Vermischungen von Wirklichkeiten beruhen.

Seine „konzeptuellen Narrationen“ sind dabei einerseits Methode, andererseits Überzeugung. Denn Feuerstein plädiert in seinen Werken gegen Dualisierungen, gegen Trennungen und für heterogene Arrangements, in denen Natur und Kultur, Materie und Geist, Kunst und Wissenschaften aufeinandertreffen. „Kunst wird zum Schauplatz von Fiktionalisierungen und konzeptuellen Narrationen, um die Konfabulationen der kulturellen Narrative zu dekonstruieren.“3 Aber kann Feuerstein tatsächlich die Gefahr umschiffen, ebenfalls ins Konfabulieren zu geraten?

Konfabulieren bezeichnet unzusammenhängende, durch die Wirklichkeit nicht gestützte Aussagen, aber auch das Auffüllen von Erinnerungslücken mit Hilfe der Fantasie oder die Darstellung von Erfundenem als Erlebtes. Konfabulieren ist ein zentraler Begriff in den aktuellen Diskussionen der Hirnforschung, die damit unseren Hang zu Kausalitäten benennen. Wir lieben es, Motive und Beweise zu konstruieren, Erklärungszusammenhänge zu knüpfen, Phänomene mit Gesetzmäßigkeiten zu unterlegen. Wie löchrig diese Gewänder dann tatsächlich sind, wollen wir nicht wahrnehmen. Das gilt nicht nur für den alltäglichen Hausgebrauch, wenn Zufälle rückwirkend in eine biographische Logik überführt werden, wenn unverbundene Erlebnisse, Reaktionen, Wahrnehmungen in oft aberwitziger Weise gleich eingefärbt werden – im aphoristischen Stil bis hin zu metaphysischen „Erklärungen“. Das gilt ebenso für die Naturwissenschaften. „Eine wissenschaftliche Erklärung ist eine Antwort auf eine Warum-Frage, sie ist im Fall deterministischer Gesetze eine logische Schlussfolgerung, die uns verstehen lässt, warum ein bestimmtes Ereignis eingetreten ist.“4 Daraus entstehen – hier wie dort – Theorien, die immer vor allem eines aussagen: den jeweiligen Wissensstand.

Das nahm – und nimmt wahrscheinlich noch immer – in den Naturwissenschaften ganz wundersame Forme(l)n an. Hier zwei Beispiele: So stellte Luigi Galvani (1737 – 1798) die These auf, dass tierische Körper Elektrizität produzieren und speichern können. Galvani war Arzt, Biophysiker und Professor für Anatomie an der Universität Bologna und bewies seine Annahme anhand von Froschschenkeln, die er durch Funken einer Elektrisiermaschine zu krampfartigen Zuckungen reizte. Aber Galvani verwechselte die Reihenfolge: Nicht die Froschschenkel erzeugten die Elektrizität, sondern die zur Reizung kombinierten Metalle Kupfer und Eisen.

Es war eine sehr kurzlebige Theorie, die allerdings als „Galvinismus“ die Grundlage für die Entdeckung elektrochemischer Zellen durch Alessandro Volta (1745 – 1827) legte und zur Erfindung der Batterie führte. Weitaus einflussreicher dagegen war die sog. „Phlogiston-Lehre“, die das Denken der Chemiker im 18. Jahrhundert prägte. Phlogiston, griechisch phlogistós, verbrannt, ist eine hypothetische Substanz, von der man annahm, dass sie allen brennbaren Körpern bei der Verbrennung entweicht. Holz brannte also, weil Bäume Phlogiston aus der Luft aufnahmen, und eine Kerze erlosch in einem abgeschlossenen Raum, weil Luft nur eine limitierte Phlogiston-Menge aufnehmen konnte, die dann von der Kerze eben wieder abgegeben wurde. Bei Lebewesen wird Phlogiston frei und erzeugt dabei die Körperwärme. Ähnlich der Kerze ist weiteres Abgeben von Phlogiston ab einer gewissen Sättigung nicht mehr möglich, das Lebewesen stirbt. Die Entdeckung von Wasserstoff (Henry Cavendish) und Sauerstoff (Joseph Priestley) und dann endgültig die Oxidationstheorie des Chemikers Antoine Lavoisier widerlegten diese Theorie neunzig Jahre nach ihrer Entdeckung in ihr Gegenteil: Statt Phlogiston freizusetzen, gilt seither, dass Sauerstoff von den verbrennenden Substanzen unter Wärmeentwicklung aufgenommen wird.

„Theorien sind – verkürzt gesagt – bloß besonders strukturierte Modelle für einen Kreis von Phänomenen, die durch eben diese Theorie aufgegriffen werden. Theorien enthalten Begriffe und Gesetze, die Erklärungen und Voraussagen ermöglichen, deren Aussagekraft von der Bauart der verwendeten Gesetze abhängt.“5 Und weiter schreibt Gerhard Fasching: „Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass Tatsachen, Wirklichkeiten und Realität erst durch den besonderen methodischen Zugriff des Forschers entstehen.“6

IV. Kontingenz

Worin also unterscheiden sich solche wissenschaftlichen Untersuchungen vom Konfabulieren? Doch nur im Anspruch – und dieser ist es auch, gegen den Feuerstein antritt. Ist es letzthin nicht gleichgültig, ob ein Erklärungsmodell einhundert Jahre in die Irre rennt – solange dabei niemand zu Schaden kommt? Heute lachen wir über Phlogiston oder wundern uns über Galvin, der sich derartig auf seine Experimente konzentrierte, dass er blind wurde für die Beobachtung von Elektrolyse – wir sehen, was wir suchen. Feuerstein untersucht unsere Erzählungen einer Wirklichkeit, die an das Neue, den Fortschritt glaubt. Neu – das ist aus der Luft gegriffen und oft genug revidiert worden durch den Beweis eines „war schon da“. Neu, das ist letzthin nicht beweisbar, ist eine Behauptung, aber auch ein Bewegungsantrieb, der fatal sein kann, denn dabei wird immer etwas ersetzt, weggedrängt, überflüssig. Aber, das wissen wir noch aus dem Chemieunterricht, nichts verschwindet. Alles bleibt vorhanden, wenn auch in verwandelter Form. Worin verwandeln sich denn widerlegte Theorien und naturwissenschaftliche Gesetze? Zumindest wohl in Gegenbeispiele, um den Allmachtsanspruch der Naturwissenschaften als oberster Erklärungsinstanz berechtigt anzuzweifeln. Dabei soll ja nicht der Einfallsreichtum an Erklärungen und, wenn es denn sein muss, auch Gesetzen und den daraus abgeleiteten Erfindungen und Apparaten kritisiert werden. Es ist die Ausschließlichkeit, die irritiert, die auf den Anspruch auf Wahrheit, Wesenheit, aber auch Neuheit zielt, und dafür immer stärker ausgrenzt.

Wenn konfabulieren eine neuronale Zwangsleistung der Menschen ist, dann trifft das natürlich auch auf die Neurowissenschaften und alle übrigen zu. Selbstverständlich kann sich auch Thomas Feuerstein diesem gemeinsamen Nenner aller Erklärungen nicht entziehen. Aber ist das nicht auch eine Befreiung? Betrachten wir es doch als Spiel, nehmen den furchtbaren Ernst des Wahrheitsanspruches heraus und konzentrieren uns darauf, unsere Kausalketten als Angebote zum Weiterspielen zu präsentieren. Als bunte Maschengewebe, die nicht mehr Wirklichkeit beanspruchen als alle anderen Ketten auch. Darin liegt auch die Faszination von Thomas Feuersteins „konzeptuellen Narrationen“: Ob Staatsqualle oder Leviathan, die Reisen Karls V. unter dem Motto „Plus Ultra“ (immer weiter) oder ein Avatar, selbst der Versuch einer künstlichen Welt namens „Genesis“ – all diese Elemente, die Feuerstein aufgreift, können eben deswegen in seinen Werken zusammenkommen, weil sie sich letztendlich nicht in ihrem Wirklichkeitsgrad unterscheiden. Es sind allesamt vor allem eins: Erzählungen von Bewusstseinszuständen auf der Grundlage von Sinnkorrespondenzen.

V. Wirklichkeit

Bewusstsein formt Wirklichkeit – aber was ist das, „Wirklichkeit“? Schopenhauer schreibt in seinen „Aphorismen zur Lebensweisheit“: „Dies alles (d.h. der Reichtum der Begebenheiten, A.d.V.) beruht darauf, dass jede Wirklichkeit, das heißt jede erfüllte Gegenwart aus zwei Hälften besteht, dem Subjekt und dem Objekt, wiewohl in so notwendiger und enger Verbindung wie Oxygen und Hydrogen im Wasser.“7 Schopenhauer spricht von einer „gegenwärtigen Wirklichkeit“, die vom jeweils subjektiven Bewusstsein abhängt. „Weil nämlich alles, was für den Menschen da ist und vorgeht, unmittelbar immer nur in seinem Bewusstsein da ist und für dieses vorgeht; so ist offenbar die Beschaffenheit des Bewusstseins selbst das zunächst Wesentliche, und auf dieselbe kommt, in den meisten Fällen, mehr an als auf die Gestalten, die darin sich darstellen.“8 Und zugespitzt: „Was ist diese anschauliche Welt noch außerdem, dass sie meine Vorstellung ist?“9

Etymologisch stammt der Begriff von dem Verb „wirken“ ab, das ursprünglich „handeln, durch Handeln geschehen“ bedeutet, was noch heute in den – wenn auch nur noch selten gebrauchten – Verben „werken für „handwerklich tätig sein“ oder auch „wirken“ für „durch Kneten eine Form geben, verfertigen“ mitklingt. Bis zum 16. Jahrhundert bedeutete denn auch „wirklich“ oder die adjektivische Form „wirksam“ schlicht „tätig“. Langsam kam die Betonung des Zwecks oder des Erfolgs hinzu bis zum endgültigen Bedeutungswandel im 18. Jahrhundert. Seither wird mit dem Wortstamm „wirken“ nicht mehr eine Handlung betont, sondern ein wahres Wesen, etwas sinnlich Erfahrbares, ein Gegensatz zu allem Scheinbaren, Eingebildeten, Erdichtetem bezeichnet. Heute benutzen wir „Wirklichkeit“ im Sinne von „das tatsächliche Sein erlangen“, als das Wahre, Eigentliche, tatsächliche Wesen (s. Grimmsches Wörterbuch).

Umgangssprachlich ist Wirklichkeit all jenes, was wir mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen. In „Wikipedia“ lautet die Antwort noch naiver: „Bezeichnet das, was unabhängig vom Subjektiven, also von Wahrnehmung, Gefühlen und Wünschen, objektiv der Fall ist und existiert. Im engeren Sinne ist Realität der philosophischen und wissenschaftlichen Betrachtung und Erforschung zugänglich; Dinge der Realität sind also messbar, und können als Basis für Theorienbildung dienen.“ Welch fataler Glaube an das „Messbare“!

Wirklichkeit eine Vorstellung, eine Wahrnehmung oder eine messbare Konstante? Der Radikale Konstruktivismus bestätigt Schopenhauers Schlussfolgerung. Laut Gerhard Roth können Gehirne die Welt nicht abbilden, sie müssen konstruktiv sein. Wahrnehmung ist ein subjektiver, konstruierender Prozess. Was wir mit unseren Sinnen wahrnehmen ist ein Endprodukt, das durch selektive Wahrnehmung, durch Kodieren, Vernachlässigen, neuronales Raten und montierendes Schneiden und Einfügen entsteht. Das Schneiden und Würfeln beginnt bereits im Auge, das den Input zerteilt und neu zusammenfügt – oder auch ganz anders vorgeht, aber so lautet der Stand der aktuellen wissenschaftlichen Erklärung. „Wirklichkeit“ ist demnach schlicht eine neuronale Leistung. Unser Bild, das von der Wirklichkeit entsteht, ist Resultat eines vernetzten Interpretationsprozesses auf der Grundlage von früh ausgebildeten neuronalen Mustern. Das Gehirn liefert die Muster, die Entstehung von Bedeutung ist ein emergenter Akt. So ist auch nicht die Wirklichkeit eine Illusion, sondern unsere Überzeugung, es mit einer physischen, unverrückbaren Tatsache zu tun zu haben. Tatsächlich besitzen wir ein Bild der Wirklichkeit, aber es ist unsere ureigenste Schöpfung.

Auch die Ergebnisse der Quantenphysik lassen keinen Zweifel aufkommen: Wirklichkeit ist eigentlich form- und eigenschaftslos und erst, wenn wir etwas beobachten oder messen, können wir Eigenschaften zuordnen. Bei einer Wiederholung derselben Beobachtungsanordnung können sich die Eigenschaften jederzeit ändern. Wirklichkeit als verbindliche Form oder Norm mit kollektiv verbindlichen Eigenschaften existiert nicht. Wirklichkeit ist immer vorläufig – wer das nicht aushält, flieht in Ideologien.

VI. Möglichkeiten

Vom Handeln zum Wesen, vom Werden zum Sein, vom Wechsel der Erscheinungen zum Feststehenden – nicht nur der Begriff hat sich gewandelt. Unser Verständnis der Wirklichkeit, unser Selbstverständnis, folgt demselben Pfad. Und in jedem dieser Schritte wird der Zufall ausgeschlossen, durch den Glauben an Gesetzmäßigkeiten ersetzt, die das Handeln erleichtern sollen. Es entstehen Wirklichkeiten, die sich wie viel zu eng geschnürte Gewänder über die Wahrnehmungen legen – oder umgekehrt?

Welch schwierige Aufgabe, dieses grundsätzliche Muster aufzuschnüren! Aber genau darauf zielen Feuersteins konzeptuelle Narrationen. Sein Anspruch ist es, Wirklichkeit als eine Kette voller bunter Steine zu zeigen, jeder für sich eine Perle, alle zusammen ein Ereignis, als ein Kristallluster, der erst zusammen glitzert – und vor allem ein kontingentes Szenarium erzeugt, ein Muster voller Zufälligkeiten. „Kontingenz ist das Tor zu Sinn und Freiheit in einer nomologisch interpretierten Welt“10, schreibt Hans-Dieter Mutschler und stellt zur Debatte, ob die Welt nicht vor allem als „Verweisungszusammenhang“ gesehen werden soll, „der aus verschiedenen Perspektiven als etwas ganz anderes erscheint und nicht nur als der zeitenthobene Ausdruck physikalisch-mathematischer Gesetze.“11

Wirklichkeit, eine Möglichkeitsform, frei von Gesetzen, ausschließlich vom Prinzip Zufall bestimmt – das ist eine der Konsequenzen der Quantenphysik, darin treffen sich die Naturwissenschaften mit spirituellen Lehren, darin kommt der Kunst vielleicht eine neue Bedeutung zu: Kunst als Modell-Wirklichkeit. „Kunst als Kontingenzforschung“, betitelt Feuerstein das letzte Kapitel seines Essays „Plus ultra“. „Kunst ist ein Ort des Nichts, eine Leerstelle im Notwendigen, die Raum für das Mögliche schafft.“12

* Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 35 - 43.

  1. „fiat::radikale individuen soziale genossen“, Ausstellung Leopold Museum, Wien 2003.
  2. Romana Schuler, „fiat::radikale individuen – soziale genossen. Einleitende Notizen zur Ausstellung von Thomas Feuerstein“, in: Romana Schuler (Hg.), Thomas Feuerstein. fiat::radikale individuen – soziale genossen, Ausst.-Katalog Leopold Museum, Wien 2003, S. 4.
  3. Thomas Feuerstein, „Plus ultra. Zwischen Ekstase und Agonie“, in: St. Bidner, T. Feuerstein (Hg.), Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Frankfurt/M. 2005, S. 166.
  4. Gerhard Fasching, Illusion der Wirklichkeit, Wien 2003, S. 24.
  5. Ebenda, S. 24.
  6. Ebenda, S. 25.
  7. Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit, Frankfurt/M. 1980, S. 13.
  8. Ebenda, S. 13.
  9. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, Zürich 1977, S. 47.
  10. Hans-Dieter Mutschler, Natur und Religion, Darmstadt 2005, S. 162.
  11. Ebenda, S. 140.
  12. Thomas Feuerstein, „Plus ultra. Zwischen Ekstase und Agonie“, in: St. Bidner, T. Feuerstein (Hg.), Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Frankfurt/M. 2005, S. 164 .

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