Auch wenn die „großen Erzählungen“ unplausibel geworden sind, brauchen wir Geschichten als Ordnungsprinzip. In „Geschichten & Diskurse“1 bin ich bewusst auf den relativ unbekannten Theoretiker und Rechtsphilosophen Wilhelm Schapp zurückgegangen, der den Geschichtenbegriff unabhängig vom historischen Geschichtsbegriff und auch unabhängig vom späteren postmodernen Geschichtenbegriff entwickelt hat.2 Schapp geht von der Überlegung aus, dass die Aktivitäten, die wir unternehmen, zu sinnvollen Zusammenhängen kondensiert werden müssen, damit wir mit ihnen umgehen können. Wir brauchen ein Ordnungsprinzip sowohl für unsere eigenen Handlungen als auch ein Erkennungsprinzip für das, was andere tun, um diese als Handlung eines bestimmten Typs erkennen zu können. Für Schapp sind Geschichten keine festen Schemata, sondern Ordnungsmuster, die mitwachsen, an Geschichten anknüpfen und in Geschichten übergehen. Er liefert keine Definition von Geschichten – das könnte er gar nicht –, stattdessen beschreibt er die Wirkungsweise von Geschichten, ihre Mutation und Transformation.
Meine Philosophie operiert auf einigen wenigen Prinzipien wie Rekursivität, Reflexivität und Prozessualität – und Prozessualität ist genau das, was Schapp mit seinem Geschichtenbegriff einholt. In „Geschichten & Diskurse“ habe ich versucht, mit dem Diskurskonzept das kommunikative Pendant zum Geschichtenkonzept zu liefern, indem gezeigt wird, dass Ordnungsprinzipien die Aufeinanderfolge von thematischen Kommunikationseinheiten sinnvoll und verstehbar machen. Das postmoderne Problem mit dem „maître récit“ stellt sich hier nicht, denn in solchen Prozessen kann es keine Meistererzählung geben. Es gibt nur Erzählungen und Geschichten, die an andere Geschichten anschließen – Geschichten über Geschichten, Diskurse über Diskurse. In diesen Prozessen gibt es auch keine traditionellen Stabilitäten mehr, keine Identitäten im herkömmlichen Sinne, denn Identitäten sind Resultate von Prozessen. Damit ist eine Art von Argumentation möglich, die erstens von der Erwartung der Meistererzählung, zweitens vom Identitätsproblem und drittens vom Zwang befreit, auf die Wirklichkeitsfrage eine ontologische Antwort geben zu müssen.
Wenn wir konsequent in Prozessen denken, bekommen wir das klassische Wirklichkeitsproblem vom Tisch. Die entscheidende Frage lautet dann nicht, was ist Wirklichkeit, sondern was sind die Kriterien, die innerhalb eines bestimmten Prozesses dafür sorgen, dass wir etwas (als) wirklich machen. Hierfür brauche ich keine „altkonstruktivistischen“ Klimmzüge, die zwischen Realität und Wirklichkeit unterscheiden. Wenn man prozessorientiert denkt, lösen sich – im gut wittgensteinschen Sinne – viele Fragen auf. Das einzig sinnvolle Ziel von Philosophie ist dann nicht, irgendwelche Wahrheiten zu verkünden, sondern Fragen aufzulösen, die wir uns einhandeln, wenn wir Beschreibungen als Beschreibungen von Objekten und nicht als Beschreibungen von Beschreibungen interpretieren.
Wir brauchen Erzählungen für uns und andere, um überhaupt so etwas wie eine prozessuale Identität aufbauen zu können. Insofern ist der Begriff Konfabulation übertragbar auf „Geschichten & Diskurse“, wenn Konfabulation nicht auf einen bestimmten Zweck hin verzerrt, sondern als Selbstgespräch oder Autokommunikation interpretiert wird. Der soziale Aspekt besteht dabei darin, dass wir immer aufpassen müssen, wem wir welche Geschichte erzählen. Man verstrickt sich sehr schnell in Misstrauen, wenn man demselben Publikum unterschiedliche Geschichten von sich erzählt. Aber sobald man konstant im Erzählen von Geschichten ist, funktionieren auch die verschiedenen variablen Identitäten, die man damit aufbauen kann. Der entscheidende Punkt beim Erzählen einer Geschichte ist nicht – und da kommt nicht zufällig Moral ins Spiel –, ob sie in einem objektiven Sinne wahr oder falsch ist, sondern ob sie in Bezug auf mein Erleben und mein Erfahren authentisch ist oder nicht. Die Glaubwürdigkeit meiner Identität für mich wie für andere hängt von der Authentizität und nicht von der Objektivität dessen ab, was ich erzähle. Wären wir auf Objektivität angewiesen, wäre es wahrscheinlich unmöglich, so etwas wie Identität aufzubauen. In diesem Spiel – und deswegen gefällt mir der Ausdruck Konfabulation – wird auch plausibel, dass sich die Identitäten ständig in irgendwelchen Metamorphosen befinden. Wir erzählen nie eine authentische Geschichte, sie verändert sich, schließt an andere an, wird von Diskursen aufgenommen, widergespiegelt, beobachtet. Das heißt, das komplizierte Spiel von Beobachtung erster, zweiter und dritter Ordnung passiert im alltäglichen Spiel der Identitätskonfabulation.
Durch die große Zahl an Medienangeboten erfahren wir alle vierundzwanzig Stunden die paradoxe Situation sich völlig widersprechender Möglichkeiten des Lebens, des Redens, des Arbeitens u.s.w. Die Medien sind die große Kontingenzmaschine. Gleichzeitig beobachten wir aber, dass die Rezipienten von Medien immer restriktiver werden, sich sehr selektiv auf bestimmte Programme konzentrieren und das Andere schlicht ausblenden. War Kontingenz früher ein Problem der Philosophen, betrifft es heute jeden. Allerdings wollen mehr und mehr Leute davon nichts wissen, weil Kontingenz anstrengend ist. Kontingenz stellt die Menschen vor Probleme in Form unterschiedlicher Entscheidungen und Geschichten, die sie selber noch nie gehört und erzählt haben – und damit lässt sich nur schwer umgehen.
Was sich derzeit in Deutschland abspielt, ist genau so ein Prozess. Die Deutschen sind derzeit kontingenzunfähig und die Politiker sind zu feige, ihnen Kontingenz abzuverlangen. Deshalb bewegt sich nichts. Daraus bieten sich für viele scheinbar nur zwei Auswege an: Der eine ist eine zynische Postmoderne und der andere ist ein religiös oder wie auch immer gefärbter Fundamentalismus.
Die entscheidende Frage lautet, gibt es eine dritte Position zwischen Fundamentalismus und Beliebigkeit. Der Grund, warum ich „Geschichten & Diskurse“ geschrieben habe, liegt genau darin, über Postmoderne und Fundamentalismen – auch wissenschaftstheoretische Fundamentalismen – hinaus, eine sinnvolle dritte Position zu finden. Das ist für mich eine moralische, politische und wissenschaftliche Aufgabe. Und ich denke, es gibt diese Position, indem man sich zu einer kontingenten Kontingenzbearbeitung hinarbeitet. Das wäre die Position, von der aus wir akzeptieren, dass alles, was wir tun, prinzipiell kontingent ist, wir aber trotzdem gute Gründe haben, dieses und nicht jenes zu tun. Nur so kommen wir in die Lage, „gute Gründe“ auch ändern zu können. Versteht man Kontingenz als Chance zur Kreativität, kann man mit kontingenten Kontingenzlösungen leben. Versteht man sie als Zusammenbruch der Sicherheit, dann antwortet man psychisch erwartbar mit irgendwelchen Formen von fundamentalistischen Reaktionen.
Das klingt vielleicht pathetisch, aber hier ist die Gesellschaft insgesamt gefordert, beginnend bei der Erziehung über die Kommunikation in Familien und Betrieben bis hin zu politischer und wissenschaftlicher Kommunikation, von rechthaberischen Wahrheitsimperialismen Abstand zu nehmen.
Kein fröhlicher Anarchismus, kein Skeptizismus und kein universaler Perspektivismus kann prozessorientiertes Denken ersetzen. Sieht man, welche Voraussetzungslast jeder einzelne Schritt trägt, den wir tun, werden Leute wie Ludwik Fleck wieder zu Recht modern. Das setzt allerdings voraus, dass man eine Beobachtung zweiter Ordnung einübt, beziehungsweise – wie ich es nenne – Beobachtungsmanagement lernt. Für mich ist das alles andere als graue Theorie. Das ist von morgens bis abends konkret anwendbar in privaten, sozialen, familiären, betrieblichen oder wissenschaftlichen Konstellationen. Wenn wegen scheiternder Unternehmenskommunikation etwa 45 % der Gewinne in der deutschen Industrie „verbrannt“ werden, wird deutlich, wie dringend flexibles Beobachtungsmanagement benötigt wird. Jeder weiß dies, aber keiner traut sich an diese Aufgabe heran, weil es betriebs- und industriepolitische Konsequenzen hätte, wie etwa die Auflösung von Hierarchien, notwendige Etablierung von Netzwerken, ein ganz anderes Menschenbild von Mitarbeitern u.s.w.
Bei Parallelgesellschaften muss zwischen einem pragmatischen und einem grundsätzlichen Aspekt unterschieden werden. Pragmatisch betrachtet funktionieren Verdrängung und Invisibilisierung von soziokulturellen Differenzen nur, solange es keinen Clash gibt. Solange man nicht mit Fundamentalisten zu tun hat, solange die anderen Kulturen still und ruhig sind, funktioniert die Invisibilisierung. Das grundsätzliche Problem ist aber das Kulturalitätsproblem. Gibt es Multikulturalität oder ist das eine liberale Fiktion? Wenn man Kultur als Programm zur Handhabung von Wirklichkeitsmodellen auffasst, dann wird es sehr schwierig, von einem Kulturprogramm in ein anderes zu wechseln. Das wird in peripheren Bereichen möglich sein – beim Essen, bei Kleidung und Reisen –, aber sobald es an die wirklich tiefsitzenden Überzeugungen geht, wird es schwierig. Ich habe lange über das Problem der Multi- und Interkulturalität nachgedacht und mich gefragt, ob es so etwas wie Transkulturalität geben kann. Meine Antwort lautet: Multikulturalität ist eine liberale „Augenauswischerei“; Interkulturalität funktioniert nicht mehr, weil wir nicht mehr in getrennten kulturellen Räumen leben; Transkulturalität wird eine Möglichkeit, wenn die Menschen lernen, Kontingenz auszuhalten. Erst wenn wir akzeptieren, andere Kulturen nicht gänzlich verstehen zu müssen, können wir unter Anerkennung der eigenen kulturellen Identität andere kulturelle Identitäten anerkennen.
Ich habe – wie haltbar das auch immer sein mag – die These vertreten, dass Fundamentalisten kontingenzunfähige Selbsterzähler sind. Sie sind aus vielen Gründen – psychologischen, sozialen, ökonomischen – nicht in der Lage, die nötige Flexibilität aufzubringen, einmal gewonnene Überzeugungen zur Disposition zu stellen. Bei Fundamentalisten sitzt man immer am kürzeren Hebel; denn ein Kulturalitätsmanagement greift nicht. Es kann kein demokratischer Diskurs geführt werden, da kreative Kontingenz unterlaufen wird. Das hat nichts mit politischer Inkorrektheit zu tun, das ist eine Beschreibung. Wenn jemand grundlegende Kommunikationsstrategien nicht anerkennt und von vornherein davon ausgeht, dass seine Kultur überlegen ist und zwar so überlegen, dass alle anderen bis hin zur Vernichtung unterlegen sind, dann endet der Dialog. In letzter Zeit mehren sich Stimmen aus der islamischen Welt, die sagen, ihr helft uns nicht mit eurer Liberalität, ihr müsst klar machen, dass in eurer Kultur solche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen inakzeptabel sind. Es geht dabei nicht um die Aufstellung eines absoluten Kanons, sondern um die Verteidigung eines Typs der Bearbeitung von Kontingenz, die sich für Problemlösungen in unserer Gesellschaft bewährt hat.
Wie können wir unterschiedliche Kulturalitätsvorstellungen soweit ausgleichen, dass wir, ohne einer Meinung sein zu müssen, miteinander leben können? Konsens alleine hilft hier nicht, Globalisierung auf McDonalds-Niveau oder unter einer imperialistischen Perspektive – hoffentlich begreifen dies die USA irgendwann – bieten keine Lösung. Es kann nur über eine systematische Bewusstseinserweiterung im Sinne einer kontingenten Kontingenzbearbeitung funktionieren.
Eigentlich müsste nach Claude Levi-Strauss‘ „Traurige Tropen“ klar sein, dass Gesellschaften nur im Zusammenspiel von Problem und Problemlösung verstanden werden können. Probleme und Bewertungskriterien für deren Lösungen müssen losgelöst von irgendwelchen Wertungen betrachtet werden. Dies gilt besonders für Problemlösungen unter Globalisierungsbedingungen. Wenn Probleme nicht mehr national gelöst werden können, indem sie an eine bestehende Identität delegiert werden, müssen die jeweils Betroffenen ihre jeweiligen Probleme selbst bearbeiten. Betrifft es alle, stellt sich die Menschenrechtsfrage, aber dies wird die wenigsten Problembereiche betreffen. Den großen Rest bilden verstreute Probleme, die sich im mittelfristigen und aus unserer Perspektive langfristigen Bereich ergeben: Wirtschaftsprobleme, soziale Probleme, Migration, Wasser, Ernährung u.s.w. Da gibt es für alle Betroffenen einen Problemdruck, der nach prozessorientierten Identitäten verlangt, die mit operativen Fiktionen problemlösungsorientiert vorgehen. Traditionelle Identitäten, die die ganze vorbelastete Geschichte der gegenseitigen Beziehungen – denken wir nur an Palästinenser, Israelis, Syrer, Türken, Kurden u.s.w. – als historisches Gepäck weitervererben, müssen scheitern. Menschen gehen im Alltag viel stärker von der Problemlösungsseite aus, aber wenn ich mir anschaue, wie Politiker operieren, dann rechnen die offenbar mit nichts weniger als mit der Vernunft der Menschen.
Operative Fiktionen sind reflexive Strukturen. Ich unterscheide dabei im Wissensbereich Erwartungserwartungen und im Motivations- und Intentionsbereich Unterstellungsunterstellungen. Wenn wir miteinander kommunizieren, unterstellen wir stillschweigend, dass die Kommunikationsmittel, die wir verwenden, ähnlich verwendet werden, dass die Themen, die wir behandeln, ähnlich interpretiert werden u.s.w. Wir unterstellen auch, dass die Intentionen, ein Gespräch zu führen, von beiden Seiten loyal und vergleichbar sind. All das können wir nicht überprüfen, und deshalb spreche ich von Fiktion. Es handelt sich um eine operative Fiktion, weil ohne diese Fiktion keine Sprache, keine Kommunikation, keine Kognition funktionieren würde. Funktioniert eine operative Fiktion, bewährt sie sich; funktioniert sie nicht, brauchen wir eine neue, um mit dem Scheitern umgehen zu können. Das heißt, es gibt keinen Punkt, an dem wir unsere Handlungen festmachen könnten: Es gibt nicht die eine Wirklichkeit, die eine Wahrheit oder die eine Moral. All das entsteht in den Prozessen, in denen wir uns befinden. Und all diese Prozesse setzen voraus, dass wir bei anderen Menschen und Kulturen ähnliche Intentionen, Erfahrungen und Semantiken voraussetzen.
Das ist freischwebend und macht viele Leute schwindelig. Aber wenn das auf einer breiteren Ebene begriffen würde, würde eine völlig neue Art von Denken entstehen: ein Denken, das endgültig Abschied davon nimmt, am Anfang beginnen zu wollen, mit Sicherheiten operieren zu wollen und das Ziel immer im Auge behalten zu wollen; ein Denken, das den Prozess beobachtet und fragt, was sind die Bedingungen des Prozesses und was ist das erwartbare Ergebnis. Was dabei herauskommt, unterliegt nicht der Wertung gut oder böse, wahr oder falsch, sondern der Anschließbarkeit, um über ein Ergebnis ein weiteres generieren zu können.
Bei operativen Fiktionen und prozessorientiertem Denken müssen wir Sinn nicht suchen oder eigens herstellen. Wir sind ständig über die Geschichten und Diskurse, in die wir verstrickt sind, mit Sinn beschäftigt. Sinn ist die Voraussetzung, um überhaupt etwas machen zu können. Wir sind alle Zeit unseres Wachseins und vermutlich auch in unseren Träumen mit nichts anderem beschäftigt, als Sinn und Wirklichkeit herzustellen. Die Frage ist nicht, was Wirklichkeit ist, sondern sie lautet: Was fangen wir mit den vielen Wirklichkeiten an, die wir erzeugen?
Kunst ist genau der Ort, wo Kontingenz kreativ bearbeitet wird, weil Freiräume in Anspruch genommen werden können, die aus pragmatischen Gründen ansonsten nicht zur Verfügung stehen. Die Erwartungen in Bezug auf Kunst sind traditionell andere und mit diesen Erwartungen kann man kreativ wuchern, indem die Erwartungen an traditionelle Geschichten nicht erfüllt, sondern konterkariert werden. Dieses Erzählen ohne Erfüllung von Erzählmustern – etwa bei Friederike Mayröcker – ist ein unendliches Fabulieren. Versuchen sie einmal zu erzählen, was in Mayröckers Buch „Die Abschiede“ steht!
In der bildenden Kunst versuchten u.a. die Neuen Wilden, Arte Ciffra oder Neoexpressionismus, Geschichten und Mythologien zu erzählen. Das sind für mich allerdings eher Moden, deren Überraschungseffekt genauso garantiert ist wie deren Abnutzung. Das ist vergleichbar mit der Nouvelle Philosophie von Glucksmann in Frankreich Ende der 1970er Jahre. Dies sind medieninduzierte Satyrspiele, die über den Problembestand der Moderne nicht hinauskommen.
Entscheidender ist erstens, wie das Paradox zwischen Komplexität und Reduktion bearbeitet werden kann und zweitens, wie neue Erzählmuster entdeckt werden können, die solange wie möglich offen und flüssig gehalten werden können. Für die erste Frage gilt, dass wir nicht endlos reduzieren können und andererseits aus kognitionspsychologischen Gründen eine Obergrenze an Komplexität benötigen. Für die zweite Frage gilt, dass wir aufgrund unseres Gedächtnisses und Erinnerungstrainings im Alltag mit fest installierten Erzählmustern operieren.
Innerhalb der bildenden Kunst gehören etwa Joseph Beuys oder Jochen Gerz sicherlich zu denjenigen, die fast schon systematisch Möglichkeiten des Erzählens durchprobiert haben. Dazu benötigt man ein relativ großes kunstgeschichtliches Wissen der letzten 150 Jahre. Im Grunde fängt die Suche nach neuen Erzählformen mit dem bürgerlichen Roman oder mit dem Briefroman im 18. Jahrhundert an. Das waren Versuche, radikal neue Erzählformen mit radikal neuen psychologischen Bedingungen zu verbinden und das in einem sozialen und politischen Kontext, der dafür eigentlich noch gar nicht aufnahmefähig war.
Komik ist für mich die historisch entstandene bürgerliche Form der Kontingenzbearbeitung. Traditionell ist Komik auf bestimmte Episoden und Bereiche begrenzt, wie etwa auf den Karneval, das Theater, das Witzerzählen und dergleichen. Komik war immer das Ventil, das sich die Gesellschaft ganz bewusst geschaffen hat, um im Augenblick, in dem Kontingenz sichtbar gemacht wird, nicht zu verzweifeln. Bei einer gut gemachten Komödie lässt uns dies den Schauer über den Rücken laufen, denn es tut sich ein riesiger, gefährlicher Spalt an Kontingenz auf. Es wird mit Mustern und Konventionen gebrochen und plötzlich gibt es kein oben und unten, vorn und hinten, schwarz und weiß. Deshalb muss am Ende der Komödie dieser Spalt wieder geschlossen werden – und er wird geschlossen im Konsens der Theatergemeinde. Komik und Kunst schaffen das Terrain, auf dem Kontingenzerfahrungen gemacht werden können, kurz aufleuchten dürfen, aber dann wieder im Konsens geschlossen und bewältigt werden. Kontingenzforscher ist daher die Ehrenbezeichnung für den Künstler, die ihm zukommt. Der Künstler ist kreativer Kontingenzerforscher und er hat daher auch das Recht, in allen Hinsichten zu scheitern.
* Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Siegfried J. Schmidt, das im Oktober 2005 stattfand. Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 221 - 226.