Thomas Feuerstein

Narrative der Kunst

Konfabulation

„Schriftstellern heißt nicht dichten, erfinden, was nie gewesen ist, sondern schriftstellern heißt erzählen, was man erlebt hat“, schreibt der junge August Strindberg in einem Brief an seine Schwester Elisabeth. Jahre später beginnt Strindberg leidenschaftlich ein Tagebuch zu führen, in das er „seltsame Zufälle“ notiert.[1] Das Erlebte ist geprägt von merkwürdigen Begebenheiten, in denen er Zeichen und Botschaften „unbekannter Mächte“ zu empfangen glaubt. In herabgefallenen Zweigen liest er griechische Buchstaben, die ihm geheime Mitteilungen machen, auf einem Stück Fels entdeckt er Besen und Bockshorn und fragt sich, „welcher Dämon es wohl war, der sie dort angebracht hatte“, in einer Walnuss erblickt er winzige, zum Gebet gefaltete Hände, die ihn mit Grauen erfüllen. Strindberg befindet sich in seiner „Inferno-Krise“ und leidet an Apophänie, einem neurologischen Zwang, aus zufälligen Daten Sinn zu produzieren. Insbesondere die rechte Hemisphäre neigt bei einem Überschuss an Dopamin zu semantischen Assoziationen, die das Gesehene zu bedeutsamen Bildern transformieren und Anlass zu absonderlichen Geschichten geben. In abgeschwächter Ausprägung ist Apophänie integraler Bestandteil menschlicher Wahrnehmung, ohne die wir phantasielose Wesen ohne Kreativität wären.

Gehirne sehnen sich nach Sinn, Beliebigkeit versetzt sie in Unruhe und echtes Chaos sind sie außerstande zu verarbeiten. Sinnesdaten werden mit bestehenden Erfahrungen, Gewohnheiten und mentalen Befindlichkeiten abgeglichen und in ein der Lebensgeschichte entsprechendes Verhältnis gesetzt. Ein neurologischer Dämon zwingt uns, zufällige Eindrücke in eine vermeintliche Ordnung zu bringen, um zu einer kohärenten Geschichte des Selbst zu gelangen. Die große Erzählung handelt folglich von uns selbst und heißt Ich. Sie gibt Sinn, ordnet die Welt, organisiert Wahrnehmung und schafft psychisch ein Zuhause. Verlieren wir den roten Faden in der Icherzählung, verlieren wir uns selbst und müssen uns in der Umwelt neu deuten, als Geschichte neu erfinden. Ohne Geschichte empfinden wir uns entfremdet, leben im Phantasma des Naturzustandes, sind Aliens, Zombies oder Caspar Hauser gleich psychisch und sozial isolierte Wesen. Das Ich-Narrativ ist die Voraussetzung unserer Identität, orientiert und stabilisiert uns, reduziert Komplexität und hilft alltägliche Kontingenz zu bewältigen.

Eine Geschichte zu erzählen, heißt auch, eine andere nicht zu erzählen. Werden irritierende Störungen des Selbst gefiltert und lückenhafte Erinnerungen zu neuen Erzählungen konstelliert, spricht die Medizin von Konfabulation. In Verbindung mit dem Krankheitsbild Anosognosie, bei dem sich die Patienten aufgrund einer Hirnschädigung die Krankheit oder den körperlichen Defekt nicht eingestehen, werden häufig „abenteuerliche“ Geschichten fabuliert. Betroffene behaupten etwa, „man habe ihnen über Nacht das linke Bein amputiert und ein fremdes Bein so fein angenäht, dass man die Nähte nicht mehr sehen könne. Wenn dieses Bein sich bewegt, behaupten sie, ein anderer als sie würde jetzt das Bein bewegen. Alle Argumente, es sei doch extrem unwahrscheinlich, dass man jemandem ganz unbemerkt ein Bein amputieren und ein fremdes annähen könne, lassen diese Personen nicht gelten, auch wenn sie hochintelligent sind.“[2]

Die Vermutung liegt nahe, dass ebenso „gesunde“ Gehirne konfabulieren, bestimmte Wahrnehmungen ausblenden und künstliche Kausalitäten konstruieren. Wir hören beispielsweise im Maschinenlärm Stimmen, sehen in geologischen Formationen ein Tier und neigen zu vereinfachenden pseudorationalen Auslegungen bis hin zu Verschwörungstheorien. Wir konfabulieren unentwegt, vor allem wenn wir wie Strindberg ins Chaos blicken. Ohne diesen neuronalen Trick könnten wir nicht träumen, in die Wolken schauen und vertraute Gestalten entdecken, ins Kino gehen oder eine Kunstausstellung besuchen. Konfabulation und Apophänie sind die Bedingung für die Möglichkeit von Kunst, ohne die Pinselstriche nur Farbe auf Leinwand wären.

Kulturelle Narrative

Die Behauptung, dass Konfabulationen die Grenzen des individuellen Gehirns überschreiten und nicht nur für die psychische Identität des Einzelnen, sondern für ganze Kulturen konstitutiv sind, ist vielleicht selbst eine Konfabulation, allerdings eine operative, die Gemeinschaften als einen kollektiven Erzählprozess des „konarrativen“ Fabulierens beschreibt.[3] Gemeinschaft entsteht aus dem Verweben von Geschichten, über die wir uns untereinander und mit der Welt verstricken. „Eine Geschichte ist ein kleiner Knoten“, wie Gregory Bateson formulierte, aus dem sich soziale Netze knüpfen. Ohne gemeinsames Erzählen drohen Staaten zu zerfallen, und je heterogener Gesellschaften zusammengesetzt sind, desto verbindlicher müssen Geschichten arrangiert sein. Kulturelle Narrative liefern den Klebstoff in Form von Werten, Moral und Leitbildern. Insbesondere Massenmedien agieren dabei als mächtige Konfabulationsmaschinen, aus denen sich kollektive Gedächtnisse, Zuschreibungskonzepte sowie Stereotypisierungen speisen und mentale Globalisierung möglich machen.

Kulturelle Narrative sprengen literarische Erzählformen, historische Chronologien oder mythische Religionsgeschichten. In Zeiten, in denen soviel erzählt wird wie heute, bestätigt sich Roland Barthes' Einschätzung, dass sich die Erzählung nicht um gute oder schlechte Literatur schert. Talk und Reality Shows, Weblogs, psychotherapeutische Sitzungen, Gebrauchsanweisungen bis hin zu Protokollen und Programmen von Maschinen bilden narrative Ensembles, die Kultur gleichzeitig spiegeln, verhandeln und hervorbringen. Narrative lassen sich nicht auf das Fiktionale und Epische eingrenzen, und selbst die saubere Trennung zwischen Diskursen der Wissenschaft und mythischen Erzählungen des Alltags ist nicht frei von Konfabulation. Wissenschaft beansprucht zwar den Modus des Non-Fiktionalen, um mythische Selbstsetzungen zu dekonstruieren – die bekanntesten Korrekturen reichen von Kopernikus über Darwin bis Freud –, ihren Fortschritt aber ermöglicht die Bereitschaft, bestehende Geschichten zu lektorieren und anders zu erzählen. Daraus resultiert eine Konkurrenz der Narrative und ein Markt für Geschichten. Diese sich widersprechenden Beschreibungen von Welt eröffnen den Wissenschaften ihren Plural und erlauben die mit der Moderne ihren Ausgang nehmende Dynamik von Wissensproduktion.

Vereinfachend lassen sich für kulturelle Narrative strukturelle Unterscheidungen treffen, die Geschichten in präsente und latente, sowie in harte und weiche teilen. Präsente Geschichten drängen sich am Markt der Aufmerksamkeitsökonomie; sie wollen gelesen, gesehen, gehört und besprochen werden. Sie reichen von Literatur, Film, Theater, Kunst über missionarische Heilsgeschichten, Werbung, Unterhaltung, politische Wahlversprechen bis hin zu Theorien, Spekulationen, Hoffnungen von Wissenschaft und Technologie. Gemeinsam ist ihnen, dass sie erzählt werden müssen, um manifest zu sein.

Latente Geschichten basieren dagegen auf einem stillen Einverständnis. Sie brauchen nicht erzählt werden, um wirksam zu sein. Gerade aus ihrer Unausgesprochenheit entfalten sie ihre Macht an der Grenze zur Unbewusstheit. Sie stehen dem normierten Alltagswissen und dem Common Sense nahe und schaffen die Voraussetzung für soziale Anschlüsse und Vergleiche. Auch wenn die großen Erzählungen zerbrochen sind, tut dies der Konjunktur latenter Geschichten keinen Abbruch. Erzählungen kompensieren heute nicht einen Mangel an Sein, sie dienen vor allem der Komplexitätsreduktion und der Bewältigung von Informationsflut, stellen Orientierungen, Denkroutinen und Handlungsmuster bereit.

Harte Geschichten sind Dogmen, Gebote, Fundamentalismen und Axiome. Sie sind nicht verhandelbar, berufen sich auf eine Wahrheit und legitimieren sich über eine höhere Instanz, die im Fall der Gottgegebenheit sprichwörtlich ein blinder Fleck ist. Im Zentrum stehen reglementierte Sinnmodalitäten in Form moralischer Leitbilder und Orientierungsmuster, denen sowohl der Mythos des Faktischen als auch faktische Mythen entspringen. Verkürzt gesprochen, reduzieren sie Realität ohne realistisch zu sein.

Weiche Geschichten temporalisieren Wahrheiten und nutzen diese als „operative Fiktionen“[4], die nur solange von Nutzen sind, bis sie widerlegt oder von neuen Erkenntnissen korrigiert werden. Ihrer Logik entsprechend sind sie adaptiv, Falsifikationen gegenüber offen; sie streben nach Entwicklung und zielen auf Fortschritt. Weiche Geschichten sind selbst für harte Naturwissenschaften unumgängliche Notwendigkeit ihrer Evolution. In Mode, Design und Werbung sind weiche Geschichten harte Währung. Ohne sie wäre eine Ökonomie, die Befindlichkeiten an Waren und ihre Versprechungen des Neuen an das fortschreitende Andere koppelt, nicht denkbar. Weiche Geschichten vervielfältigen Realität und sind realistisch ohne Anspruch real zu sein.

Zum Teil überlagern sich die Kategorien, indem tendenziell harte Geschichten latent und weiche präsent sind; zum Teil sind sie durchlässig, sodass präsente Geschichten latente beinhalten oder weiche zu Dogmen erstarren.

Natale Narrative

Eine Sonderstellung nehmen Narrative ein, die über beschreibende, aufzählende oder erinnernde Funktionen hinausgehen und den Gegenstand ihrer Erzählung selbst hervorbringen. Das Narrativ wandelt sich von einer „Erzählkraft“ zu einer Produktivkraft. Vergleichbar der Unterscheidung zwischen Natura naturata (geschaffene Natur) und Natura naturans (schaffende Natur) betreffen klassische Narrative mediatisierte (gesprochene, geschriebene, inszenierte, verbildlichte usw.) Erzählweisen, natale dagegen generierende. Sie sprengen das Symbolische und zielen auf materielle Einschreibungen in Form molekularer und genetischer Schriften. In der Wortmagie begegnen uns derartige Praktiken im Kabbalismus, wo das Sprechen einer Zauberformel Dinge hervorbringt oder verschwinden lässt. Im Bereich des Technischen müssen Worte nicht wesensidentisch mit Objekten gedacht werden, um Kopplungen des Alphanumerischen und Symbolischen mit dem Materiellen zu erreichen.

Die Logik der Moderne ist von einer doppelten Buchführung geprägt, durch die Geschichten nicht alleine im Buch der Natur gelesen, sondern auch geschrieben und neu erzählt werden können, was im Zeitalter von Bio-, Gen- und Nanotechnologie zunehmend bestimmend ist. Derartige Sprechakte mit John Austin als illokutionär und perlokutionär zu fassen, greift zu kurz. Bereits die algorithmische Formulierung eines Objektes in einem digitalen Code, der über die Steuerung eines 3D-Druckers das Objekt materialisiert, verlangt sprachphilosophisch nach einer neuen Kategorie. Natale Narrative veranschaulichen, dass „fictio“ gemäß seiner Etymologie neben dem Erfundenen auch „etwas Hergestelltes“ bezeichnet, womit Weltliteratur eine neue Bedeutung zukommt. Das Sprechen über Welt konstruiert ab nun Wirklichkeiten - über das Kognitive hinausgehend - in Artefakten und zeugt eine Maieutik der Maschinen. Lag die technische Revolution im 20. Jahrhundert in virtuellen Welten, findet sie im 21. in realen Umwelten statt. Wir verdinglichen Geschichten und die Dinge beginnen animistisch Geschichten zu erzählen. Neben der oralen und literalen Kultur ist eine Parallelkultur der Maschinencodes herangewachsen, zu der gegenwärtig eine neokabbalistische tritt.

Natale Narrative sind der bildenden Kunst vertraut, werden aber erst seit der Romantik bewusst reflektiert. Der Künstler verwirklicht der romantischen Vorstellung nach seine Ideen in toter Materie und schafft belebte Werke, wie „Das Marmorbild“ von Eichendorff oder „Das Bildnis des Dorian Gray“ von Oscar Wilde veranschaulichen. Kunstwerke werden nicht wie in der Natur vorkommende Konstanten entdeckt, sie werden erfunden, wodurch eine Geschichte aus ihnen spricht oder fetischistisch formuliert, ein Schöpfergeist in ihnen haust. Im 20. Jahrhundert sind natale Narrative vor allem bei Handlungsanweisungen in Dada und Fluxus, Konzeptkunst, algorithmischer, generativer und interaktiver Kunst anzutreffen.

Künstlerische Narrative

Den Narrativbegriff derart zu erweitern, strapaziert aus Perspektive der Literaturwissenschaft seine Schärfe. Wenn „alles“ zum Narrativ werden kann, entgleitet der Fokus der Beschreibung und Analyse, die sich nur innerhalb abgegrenzter Felder und definierter Terminologien vollziehen lassen. In der Kunst verhält es sich umgekehrt. Das Interesse gilt nicht dem Herauslösen, Isolieren und Sezieren des Werkes, sondern seiner Vernetzung. Kunstwerke sind wie Geschichten kleine Knoten, die uns untereinander und mit der Welt verweben und semantische Netze spannen. Erst die Verstrickung mit Wirklichkeiten verwandelt einen Gegenstand in ein Kunstwerk und macht ihn zu einem Bedeutungsträger. Selbst abstrakten Kunstwerken, die referenz- und bedeutungslos sein wollen, gelingt dies nur innerhalb einer bestimmten Geschichte. Ohne Geschichte fehlt der Kontext, sind Bilder lediglich dekorative Farbflächen. Dennoch besteht eine Phobie vor Narrativen, die nicht allein das Problem von L'art pour l'art ist, sondern aus einem Missverständnis der Moderne resultiert.

Die Flucht vor der Bedeutung wurzelt in der anti-narrativen Haltung der Moderne, die das bürgerliche Erzählen durch Techniken der Fragmentierung und Montage zu zertrümmern hoffte. Kunst wollte selbstreferentiell sein und bis auf die Immanenzerfahrung von Form, Farbe und Material nichts darstellen. Das Erzählen, wie es in der mimetischen Kunst etabliert war, sollte gestört werden, um die Materialität der Kommunikation sichtbar zu machen. Alles andere stand unter dem Verdacht des Scheins und „falschen Bewusstseins“. Ein „Schwarzes Quadrat“ von Malewitsch oder „Reine Farbe Rot, Gelb, reine Farbe Blau“ von Rodtschenko erschließen sich jedoch nicht ohne entsprechende Erzählung. Die Moderne erweist sich als latente Geschichte, die auf Verstehensunterstellungen beruht und zu manifesthaften, harten Geschichten tendiert.

Werden modernistische Kunstwerke wie Rodtschenkos Monochrome zudem als die „letzten Bilder der Kunstgeschichte“ proklamiert, tritt ein apokalyptisches Moment hinzu, wie es für Fundamentalismen charakteristisch ist. Unabhängig vom ironischen Abgesang überkommener Bildtraditionen offenbart sich ein ultimatives Ende, das jede weitere Erzählung verunmöglicht. Das Absolute der Kunst liegt im apokalyptischen Akt der Künstler, die sich am Ende der Kunstgeschichte wie die Auserwählten im christlichen Mythos am eschatologischen Bankett versammeln. Doch im Paradies haben sich die Menschen nichts zu sagen und verspeisen selbstvergessen ohne Zeit und Geschichte die Trümmer der Welt. Der Modernismus glaubte, dass das Leben und die Kunst dort beginnen, wo die Geschichte endet, der Film reißt, die Fiktion zerbricht. Im Alltag findet das Leben aber ohne Erzählung nicht statt, und das Ende der Erzählung ist nur eine Geschichte unter vielen.

Verstand man in der Moderne unter narrativer Kunst Werke, die innerhalb eines bestimmten Mediums eine Handlung figurativ zeigen und chronologische Abläufe verräumlichen, geht sie ab den 1960er Jahren mit einem konzeptuellen Denken einher. Konzeptuelle Narrationen stehen dabei nicht in Tradition des Storytellings, sondern nutzen spezifische Eigenschaften bildender Kunst, Bezüge innerhalb eines Settings nonlinear und polykausal zwischen einzelnen Objekten aufzubauen. Eine Ausstellung will keine bloße Akkumulation singulärer Meisterwerke sein, sie entwirft ein semantisches Netz narrativer Zwischenräume, die aus der Verschränkung verschiedener Werke und ihren Wechselwirkungen resultieren und Bilder, Texte, Videos, Software, Installation und Musik einbezieht, ohne sich dem Pathos und der Totalität des Gesamtkunstwerkes zu unterwerfen. Im Unterschied zu klassischen Erzählformen befindet sich der Erzähler, anstatt an einem Ort außerhalb der Geschichte, mitten in ihr, wodurch sich der Betrachter involviert und sich die Differenz von Person, Raum und Zeit aufhebt. Im Medium der Ausstellung erzeugen konzeptuelle Narrationen eine neue Topologie der Kunst, die gegenüber Literatur, Theater und Film auf vielfältigen Ebenen Fäden synchron aufnimmt und zu Geschichten ohne Anfang und Ende verknüpft. Konzeptuelle Narrationen verbinden eigene und fremde, faktische und fiktionale Geschichten und fungieren als Methode, Inhalte und Formen in Werken und Prozessen zum Sprechen zu bringen.

Die künstlerische Methode konzeptueller Narration löst die auf Aristoteles zurückreichende binäre Unterscheidung zwischen Inhalt und Form aus der kausalen Ableitung „form follows function“. Da Inhalt und Form keine ontologischen Größen sind, wird die Geschichte ihrer Differenz im Narrativ der Kunst erzählt und umgekehrt identifiziert genau diese Unterscheidung jene Bezüge, die im Narrativ das einzelne Kunstwerk hervorbringen. Für Praxis und Methodik bildender Kunst wird eine ternäre Struktur wirksam, ohne die der kontextuelle Erzählmodus ausgeblendet bleibt und weder eine Unterscheidung noch ein Verhältnis zwischen Inhalt und Form möglich ist.[5]

Die konzeptuelle Arbeit am eigenen Narrativ wird für eine Kunst bestimmend, die nicht nur an „Special Effects“ der Form, des Materials, der Farbe interessiert ist und sich über die engen Grenzen des subjektiven Gestus, die Regelwerke der Disziplin und den Glamour des Marktes hinaus mit den Menschen und ihren Geschichten verstricken will. In Anlehnung an Strindberg muss man „nicht dichten, erfinden, was nie gewesen ist“, man muss konfabulieren, was die Geschichten einem diktieren. Hierfür braucht es keinen Stil und keine Delegation an ein Genie. Welt zu verstehen heißt, Geschichten zu erzählen; Welt zu verändern heißt, bestehende Geschichten anders zu erzählen oder mit Wilhelm Schapp gesprochen: „Aus einer Geschichte und im Rahmen einer Geschichte ist der Zugang zu einer Welt gefunden, die mit tausend Widersprüchen behaftet ist.“[6]


[1] August Strindberg, Okkultes Tagebuch. Die Ehe mit Harriet Bosse, Hamburg 1964.
[2] Gerhard Roth, Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2003, S. 33.
[3] Der Begriff „Konarration“ verdankt sich dem Vortragstitel CONARRATION von Gerhard Johann Lischka.
[4] Vgl. Siegfried J. Schmidt, Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus, Reinbek bei Hamburg 2003.
[5] Für die künstlerische Praxis gilt hier dasselbe wie für kulturwissenschaftliche Theoriebildung, die nach Wolfgang Müller-Funk „ganz entschieden auf der ternären Struktur des Erzählens bestehen (muss), weil nur dadurch das Erzählen selbst als eine kulturelle Praktik begreifbar wird, das Handlung und Sinnkonstitution in einer bestimmten Epoche und in einer konkreten Kultur modelliert.“ Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative, Wien/New York 2008, S. 55.
[6] Wilhelm Schapp, Philosophie der Geschichten, Leer 1959, S. 254.

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