Die Trennung von Begriffen wie Konfabulation, Ideologie und der guten alten Lebenslüge ist nicht einfach. Die Lebenslüge ist keine Lüge im Sinne einer bewusst erzählten Unwahrheit, sondern etwas, was nur von außen als Lüge erkennbar ist. Die Betreffenden glauben an ihre Lebenslüge und nur in Krisensituationen erfahren sie beim Analytiker, dass es eine Lüge ist. Das ist ein Thema des 19. Jahrhunderts und der beginnenden Psychoanalyse: Man soll eine authentische Persönlichkeit hervorbringen, wo Es war, soll Ich werden.
Im naturalistischen Drama etwa steht am Schluss ein nahezu kathartisches Moment, bei dem das Subjekt – nicht in einem hoffnungsvollen, aber in einem authentischen Sinne – von der Lebenslüge gerettet wird. Die Lebenslüge ist eine Krankheit des Subjekts, das danach ein ganz anderes ist. In dieser Beschreibung klingt bereits eine eher zeitgenössische Idee an, dass ein Subjekt gar nicht zu haben ist. Diese Position ist möglicherweise theoretisch richtig, aber von da aus wird es politisch kompliziert. Wenn alles Konfabulation, Lebenslüge, Ideologie ist – es gibt ja viele Positionen, die darauf hinsteuern –, können keine Unterschiede mehr beispielsweise zwischen faschistischen und angenehmeren Lebenslügen gemacht werden. Hier müsste ein anderer Maßstab gesetzt werden, der nicht jenem des 19. Jahrhunderts im Sinne von authentisch oder nicht authentisch, Lebenslüge oder redliche Selbsterkenntnis entspricht, sondern der danach vorgeht, welche Vor- und Nachteile eine Lebenslüge hat. Dies setzt allerdings ein schwaches, abgerüstetes Modell der Subjektivität voraus.
Trotz Kritik am Subjekt haben wir das Subjekt nicht hinter uns gelassen. Wir können nicht sagen, wir sind jetzt eine gallertartige postsubjektive technotanzende Amöbenstruktur und damit sind wir politisch befreit. Kritik des Subjekts kann nicht Durchstreichung des Subjekts heißen und Politisierung funktioniert nicht ohne politische Subjekte.
Ich beschreibe das Phänomen gerne als das Anwachsen der Erkenntnis der Subjekte über sich selbst bei gleichzeitigem Verlust der Kenntnisse über größere Zusammenhänge. Größere Zusammenhänge erscheinen nicht als Zusammenhänge, sondern die aktuelle wirtschaftliche Situation wird beispielsweise als Naturerscheinung empfunden oder erst gar nicht verstanden. Gleichzeitig steigen die Kenntnisse darüber, was zu mir passt, welcher Typ ich eigentlich bin, welche Kleidung ich tragen soll. Dies geht quer durch die Schichten und diese Situation ist ideal für Paranoia und Weltverschwörungstheorien. Das ist der Moment, wo ich viel von mir weiß, mein Selbst mit Urteilen über mich aufgeladen ist, wo ich selbst ein Gegenstand geworden bin, der sich als befriedigend erweist, weil ich kenntnisreich narzisstisch mit mir umgehe. Unbefriedigend ist dies aber dennoch, weil das urteilende Umgehen mit etwas ein Gegenüber verlangt und wenn ich mein eigenes Gegenüber bin, führt das in die klassische narzisstische paranoide Schlaufe. Das große Andere wird dann eben eine Weltverschwörung. Deswegen braucht es eine Art von Gegnerschaft und diese Konstruktion hat viel von der Gegnerschaft der Subkulturen geerbt. Die alten Subkulturen der Gegenkultur liefern nach wie vor die Posen für dieses Modell, obwohl ihnen die Gegner in Form eines bestimmten Systems oder einer bestimmten Weltlage abhanden gekommen sind. Die zu bekämpfende Gegnerschaft wäre das Weltverhältnis selbst. Das ist der Grund, weswegen alle Arten von Gegnerschaftsposen völlig unangebracht sind.
Wo über die Idee von Gegenkultur oder Gegnerschaft in einem anderen Sinne nachgedacht wird, findet eine Rekonstruktion von Zusammenhangsdenken, alten Humanismen etc. statt, also Sachen, die früher mit Staatlichkeit und Gesetzlichkeit verbunden waren. Diese Dinge tauchen sozusagen ohne Land auf. Was momentan das Imaginarium von gegenkultureller Bewegung in einem neuen und anderen Sinne ausmacht, ist der Versuch, Staatsgebilde ohne Land zu gründen. Man destruiert oder kritisiert nicht, sondern man gründet, was man bei Projekten von Christoph Schlingensief bis Carl Michael von Hauswolff sieht. Es werden Länder, Territorien, Parteien gegründet und die Phantasie ist auf das gerichtet, wo früher die Masken des zu Bekämpfenden waren. Das ist natürlich oft hilflos und bizarr, aber es ist interessanter als zu glauben, klassische nietenjackenartige Gegnerschaft hätte eine Gegnerschaft zum Inhalt.
Was wäre nun aber die zentrale zeitgenössische Konfabulation? Man ist versucht zu sagen, der Westen oder die Kultur. In der FAZ gab es ein Gespräch zwischen H.U. Gumbrecht, Frank Schirrmacher, Martin Meyer von der NZZ und Henning Ritter von der Wissenschaftsredaktion der FAZ, die verschiedene Positionen zum Konflikt zwischen Islam und Westen eingenommen haben.1 Gumbrecht meinte, der Westen müsse verstehen, dass man bereit sein muss, für seine Werte zu sterben. Dies erinnert an die Argumentation von Kardinal Ratzinger gegen Derrida, welcher davor warnte, die Vernunft zu weit zu treiben, denn an irgendeinem Punkt muss man eben sehen, dass man die Möglichkeit zur Dekonstruktion ganz konstruiert verteidigen muss. Weiters gab es die Position, dass an der Analyse von Huntington etwas dran ist. Es gibt den Kampf der Kulturen, aber man muss ihn sozusagen nicht in dieser Frontstellung begreifen. Die dritte Position empfand den terroristischen Islam als etwas ganz Schönes. Er ist zwar barbarisch, aber an sich ist der Mann, der nichts anderes als den Wüstensand und sein Zelt hat und von da aus die Welt zerstört, eine wunderbare Vorstellung. Dieser Fächer ideologischer Vorstellungen war nicht kohärent in einer Person, die Personen changierten auch.
Es wurde aber nicht die Triftigkeit der Grunddiagnose vom Kampf der Kulturen in Frage gestellt, d.h. Kulturen waren das unbestrittene Kriterium für alle zentralen unhintergehbaren Unterschiede in der Welt. Dies blieb vollkommen unangezweifelt, man konnte nur unterschiedlich damit umgehen: man konnte tolerant sein, für seine Werte sterben, man konnte die anderen um ihre Authentizität beneiden, alles war möglich. Aber dass diese Diagnose auf einer irrsinnigen Grundlage aufsaß, fiel niemandem auf. Das gab es zuletzt, als im klassischen Sinne von einem falschen Bewusstsein gesprochen wurde und es noch eine kritische Theorie gab, die Wirkungsmacht hatte und von einem Verblendungszusammenhang ausging, an dem Kritik geübt werden konnte, um ihn loszuwerden. Darauf folgte eine lange poststrukturalistische Phase, in der man sich darüber einig war, dass falsches Bewusstsein nicht zu lokalisieren ist, alles ganz anders laufen muss, Aufklären nicht hilft und es keine Leute gibt, die im Recht oder Unrecht sind. Seit dieser Rekonstruktion einer binären Welt oder einer Welt, die wie der Kalte Krieg seit den 1950er Jahren funktioniert, scheint es tatsächlich einen realen Verblendungszusammenhang zu geben und der heißt Kultur: Kultur im Sinne unserer eigenen Kultur und all der anderen Kulturen.
Mit dieser Zuordnung der Fundamentalismen zu den Kulturen habe ich Probleme. Was sind denn eigentlich Fundamentalismen? Ein Fundamentalist hat keine andere Möglichkeit der Selbstbehauptung als das Dogma. Es ist ja nicht so, dass Fundamentalismus in irgendeiner ideologischen Konfiguration oder Konfabulation angelegt wäre. Es gibt keine Erzählung, die aus ihrer Logik heraus verlangt, fundamentalistisch oder pluralistisch zu sein. Wer sich pathologisch an eine Geschichte wie an eine Waffe klammert, versucht nur mit seinen eigenen Schwächen umzugehen. Deswegen stimmen Trivialdiagnosen wie „umso ärmer desto fundamentalistischer“ nicht. Es ist eine vulgär linke Idee, Terror nicht durch Invasion, sondern durch Entwicklungshilfe bekämpfen zu wollen. Die Nöte, die ein Fundamentalismus löst, sind nicht die Nöte der Armen selbst, sondern es sind die Nöte der Intellektuellen, die Probleme mit Entmachtung und Demütigung haben. Das ist ein klar erkennbarer kognitionspathologischer Tatbestand. Ihn mit bestimmten Inhalten zu verknüpfen, ist bizarr. Dazu würde sich jeder beliebige Text eignen. Die Leistung, die eine Gegenposition im Sinne einer Geschichtsschreibung beziehungsweise Soziographie übernehmen müsste, wäre eine der unglaublichen Gemeinsamkeiten. Nicht im Sinne „wir sind doch alle gleich“, sondern im Sinne der Ähnlichkeiten der Ursachen für zeitgenössische Bewusstseinstypen.
Jede Fremdheitserzählung ist immer eine Erzählung aus einer bestimmten Perspektive. Von der Fremdheit leben alle möglichen Dinge, nicht nur die ideologischen Erzählungen großer Weltblöcke, sondern auch der Tourismus oder der Popsong. Sobald man dort hingeht, wo es scheinbar fremd ist, wird Normalität sichtbar. Wenn man durch die Welt reist, ist das erste, was man in der Fremde findet, die Normalität der Fremde. Trotz Hungersnot, Heckenschützen, komplett unerträglichen Situationen ist dies die Erfahrung schlechthin. Von außen ist es schwer zu begreifen, dass alles Fremde nur Organisation von Normalität, Standardisierung und Alltag ist.
Es geht mir nicht darum zu betonen, dass alle Menschen gleich sind, zu argumentieren, dass es aus einem humanistisch-strategischen Grund besser wäre, die Gemeinsamkeiten zu betonen, sondern es geht darum, den Irrsinn der Verknüpfung einer perspektivischen Wahrnehmung mit einem essentialistischen Inhalt zu zeigen. Es ist fatal anzunehmen, dass der Inhalt unverändert bleibt, wenn ich die Perspektive wechsle. Der Fall von Verblendung setzt immer da ein, wo das Perspektivische für aperspektivisch gehalten wird. Das ist ein verbreiteter Denkfehler. Man sitzt in seinem Studierzimmer und vergleicht die Kulturen und ihre Inhalte, schaut auf sie aber nur aus dem Blickwinkel des Fremden. Natürlich haben Ethnologen und andere oft gefordert, die eigene Kultur anzuschauen, um auf diese Weise das Beobachterproblem loszuwerden. Aber wenn man von einem Gegenstand redet, kann man nicht dauernd das Beobachterproblem mitreden und da ist diese Relativierung schnell vergessen. Es ist keine sensationelle Erkenntnis zu sagen, die Verwechslung von Perspektive und Tatbestand ist ein Problem, sondern es geht darum, wie stark das Ignorieren eines solchen einfachen Tatbestandes in solchen Reden von z.B. deutschen Intellektuellen auffällig ist.
Natürlich gibt es inhaltliche Unterschiede in den Programmen verschiedener Kulturen. Es gibt auch verschiedene Kulturen, zumindest in einem schwachen Sinne, das würde ich gar nicht abstreiten, nur jedes dieser Programme wird in einer Normalität gelebt. Das Leben in der Normalität lässt auf Dauer keinen Fundamentalismus zu. Wenn Fundamentalismus unter der Beobachtung eines Außen steht, kann er nicht praktiziert werden. Nur in Afghanistan oder Nordkorea kann ohne jede Art von Außenkommunikation ein Taliban-Projekt oder Kim-ismus durchgezogen werden.
Es gibt sehr viel Kunst, die Begriffe wie „Kultur“ gezielt ansteuert. In vieler Hinsicht ist das keine normative Frage mehr, sondern das ist der Status quo. In den meisten Fällen ist eine Kunst, die das macht – nehmen wir jemanden wie Shirin Neshat –, total verfangen in das Problem. Diese Kunst hat Probleme, den spezifischen Inhalt einer Kultur, der objektiviert, fixiert und reifiziert wird und die Tatsache, dass sich das Ganze einer bestimmten Perspektive verdankt, auseinander zu halten, in eine Beziehung zu setzen und damit zu arbeiten.
Es gibt eine Grauzone verschiedener Grade von Bewusstheit und Offenheit der Werke, wie sie gelesen werden wollen. Kunst stößt immer auf ein bestimmtes Publikum, eine bestimmte Atmosphäre und Stimmung der Zeit, was als Interpretationsschwerkraft bezeichnet werden kann. In Richtung dieser Schwerkraft werden Arbeiten interpretiert. Und in der Huntington-Welt, die auch auf der Documenta herrscht, gibt es die Tendenz, Arbeiten essentialistisch und kulturalistisch zu lesen. Deswegen kommt es oft zu grauenhaften Rezeptionsergebnissen.
Traditionellerweise wird ein Film mit seiner Erzählung identifiziert. Die Unterscheidung zu anderen Filmen passiert über die Narration. Das Sprechen über Special Effects oder über das Filmische im Film jenseits der Kritik ist relativ neu. Die Filmkunstspießer der 1950er Jahre sagten, der neue Antonioni sei wunderbar fotografiert. Das war die erste Anerkennung der Special Effects.
Bei einer Ausstellung ist es in der Regel genau umgekehrt. Das Betonte oder Markierte sind die einzelnen Objekte. Erst seitdem es einen bestimmten Grad der Selbstreflexivität gibt, wird thematisiert, dass Objekte in einer Installation hängen. Das ist eine neue Erkenntnis, die von den Werken selbst ab einem bestimmten Zeitpunkt verlangt wurde. Wenn man vom Experimentalfilm absieht, beginnt spätestens mit Godard die Einsicht, dass Narration nicht alles im Film ist. Ungefähr zeitgleich beginnt bildende Kunst über das Zusammenspiel der Objekte im Raum nachzudenken und es nicht mehr als ein unmarkiertes Verhältnis zu begreifen. Das immer schon Narrative einer Ausstellung, durch die man linear läuft, die Wände hat, an der Dinge nebeneinander hängen, kann nicht mehr ausgeblendet werden. Dies gehört thematisiert und verarbeitet wie sozusagen das Nicht-Narrative im Spielfilm. Das ist eine chiastische Situation zwischen Film und bildender Kunst.
Für Sammler wird es wichtig, ganze Installationen zu kaufen. Raumbezogene Kunst beispielsweise entspricht diesem Bedürfnis. Da Site-specific Art nicht transportierbar ist, sollte ursprünglich der Warencharakter unterlaufen werden. Aber in dem Moment, wo Kunst von ihren materiell technischen Gegebenheiten her ausschließt, zur Ware zu werden, wird sie als Ware am begehrtesten. Hier hat der Markt immer schon Mittel und Wege gefunden. Der Sammler von heute kauft nicht aus einem Ensemble etwas heraus. Er sammelt in der Tat Spuren, Rekonstruktionen oder ganze Installationen.
Die Diskursivierung von Kunst ist ein zunehmendes Phänomen. Ein anderes ist, dass man immer mehr Dinge kennen, wissen und berücksichtigen muss, die nicht unmittelbar in der Arbeit sichtbar sind. Beide Phänomene spielen zwar einander zu, aber auf verschiedenen Ebenen. Man kann Arbeiten machen, indem man sehr viel z.B. über den Raum wissen muss, in dem man sich befindet und die trotzdem nicht diskursiv sind, sondern allenfalls zu diskursiver Arbeit einladen. Seit den 1960er Jahren gibt es in den Neo-Avantgarden alle möglichen Strategien und Praktiken, wo dies eine große Rolle spielt. Seit den 1990er Jahren ist aber Theorie expliziter Bestandteil von Arbeiten geworden, wodurch das Hintergrundwissen immer wichtiger wird. Die Arbeiten sind nicht abgeschlossen, sie wollen weiter gelesen und moderiert werden.
Diskursivierung muss aber nicht unbedingt mit Narration als Befragung des Verhältnisses von Objekten im Raum zu tun haben, die sich aus strukturellen Gründen narrativ anordnen. Es gibt noch eine andere Ebene von Narration, die mit Fiktion arbeitet. Diese künstlerische Strategie nutzt die Bereitschaft des neuen jungen Publikums, in eine Geschichte einzusteigen. Das ist eher ein Phänomen der Einbeziehung von Massenkultur und Spielfilm als ein Phänomen, das auf die Selbstbezüglichkeit der Kunst zurückgeht. Die Affinität zur Narration hat keine Berührungsängste zu einer an industriellen Produkten orientierten Kultur.
Ein weiteres Phänomen ist, autobiographisch zu arbeiten. All die gesicherten Dinge der Moderne werden subjektiviert, aber nicht wirklich weiterentwickelt oder gelöst. Zeitgenössische Kunst steht vor dem Problem, entweder risikoarm zu arbeiten und auf bestimmte Klassiker der Moderne Bezug zu nehmen oder einen vulgären Gegenwartsbezug zu machen. Hier gibt es wohl keine Lösung und auf keinen Fall bewältigt man das Problem, indem man es vermeidet.
Das Problem, weder Risiko vermeidend noch trivial zu arbeiten, muss in der Struktur der Werke selbst gelöst sein. Dies wird nicht durch Eingrenzung des Gegenstandsbereichs oder des historischen Bezugrahmens erreicht, sondern das ist eine Frage der Qualität. Markt und System sind aber auf das Risikoarme eingestellt, weshalb man als Künstler dafür eine Witterung haben sollte, um erfolgreich zu sein.
* Auszüge aus einem Gespräch zwischen Thomas Feuerstein und Diedrich Diederichsen, das im Juni 2004 stattfand. Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 209 - 214.