Kunst der Konfabulation und Kontingenz
Wir bezweifeln authentische Geschichten, wir glauben nicht mehr an die eine Wahrheit, wir fordern das Recht auf Kontingenz und Nichtwissen.
Kultur ist ein Ozean voller Geschichten. Wir werden von Geschichten geschrieben und getrieben und umgekehrt sind wir ständig mit der Formung und Erfindung neuer Geschichten beschäftigt. Geschichten verkörpern universelle Kulturprogramme, die einerseits über Ausdifferenzierung autonome Systeme erzeugen und andererseits in einem übergeordneten Sinn die konnektivistische Struktur innerhalb einer Kultur bilden sowie Kompatibilität und Komparabilität zwischen Systemen und Individuen gewährleisten. Institutionalisiert werden sie zu Diskursen, Politiken, Ideologien; moralisiert zu Dogmen, Religionen oder Fundamentalismen. Sie umfassen Verschwörungstheorien, Aberglauben und Esoterik genauso wie Tradition, Wissenschaft, Theorie und Philosophie. Sie verweben als soziopsychologische Programme Individuen zu Kulturen und dienen der Stimulanz und Legitimation von Existenz. In ihnen werden Neurosen geboren oder sublimiert und Triebkräfte wie Sexualität, Macht- oder Ruhmsucht ausgelebt. Indem wir uns in ihnen zu verwirklichen suchen, konstruieren wir sowohl die Identität unseres Ich als auch unserer Kultur.
Da das vermeintliche Ende aller Geschichten in Form der reinen Vernunft nicht stattgefunden hat und dies in einer aus und von Menschen gebildeten Kultur wohl nie passieren wird, bleibt nur der Umkehrschluss, dass aus Wissenschaft, Aufklärung und Technologie spezifische Geschichten und über diese wiederum unterschiedliche Obsessionen, Hoffnungen, Ängste und Träume zum Ausdruck kommen. Die nächste Revolution muss deshalb zum Selbst des Menschen und zu seiner Verstricktheit in Geschichten führen und u.a. zeigen, welches Begehren aus Medien und Technologien spricht.
Geschichten, die wir erzählen – von Kunst- und Kulturgeschichten über Medien- und Nachrichtengeschichten bis Lebens- und Sinngeschichten –, sind oft davon gekennzeichnet, dass wir andere Möglichkeiten dieselbe Geschichte zu erzählen, ausblenden. Auch wenn die Einteilung in inkludierende und exkludierenden Geschichten selbst eine vereinfachende Geschichte schildert, begreifen sich erstere als temporär, prozessual, vernetzend und gegenüber Widersprüchen affirmativ und adaptiv. Sie sind sich ihrer Modalität von Erzählung bewusst, beharren nicht auf Ewigkeit oder Wahrheit und erweisen sich gegenüber den Komplexitäten globalisierter Dynamiken offen. Sie entsprechen einem postmodernen Lebensstil und operieren viabel.
Exkludierende Geschichten behaupten sich dagegen durch den alleinigen Anspruch auf Wahrheit. Sie definieren sich über Einzigartigkeit bzw. mittels einer dualen Differenz gegenüber allen anderen Geschichten, besonders jener, die im Widerspruch zu ihnen stehen. Sie fürchten Vermischungen und das Fremde, was als Bedrohung und Desaster empfunden wird. Sie setzen auf Radikalität und Verdrängung und bedürfen totalitärer Notfallprogramme, um das System der Geschichte vor dem Absturz zu bewahren. Im Gegensatz zu inkludierenden weichen Geschichten müssen sich exkludierende harte Geschichten gegen ein Außen wappnen und stets ein Disaster Recovery ihres Systems bereithalten. Diese Geschichten funktionieren auf Basis eines blinden Flecks, einer selektiven Verdrängung und operieren als Kontingenz reduzierende und stabilisierende Kulturprogramme. Sie dienen einzig dem Zweck, jene über ihre Geschichte künstlich gestiftete Identität zu sichern und simplifizierende Orientierungshilfen zu diktieren. In der Medizin gibt es hierfür den Begriff der Konfabulation, der bei der Krankheit Anosognosie (Uneinsichtigkeit) zur Anwendung kommt. Patienten blenden neuronale Schäden aus ihrem Bewusstsein aus, indem sie ihre Gebrechen (z. B. Lähmungen) aktiv verdrängen und darauf hin angesprochen eine Geschichte bzw. Konfabulation bereit halten, die dies scheinbar logisch und ohne willentliche Lüge erklärt.
Es liegt nahe, dass auch „gesunde“ Gehirne verdrängen, um über Konfabulationen ein Ich und eine Identität zu organisieren sowie ein homogenes Weltbild künstlich zu generieren. Daraus resultiert für eine Kunst, die an der medialen Konstruiertheit von Wirklichkeit interessiert ist die Frage, ob der Begriff der Konfabulation über die Medizin hinaus Relevanz besitzt:
Können mittels Konfabulation soziale Systeme beobachtet und beschrieben werden? Können nicht nur individuelle Mythen, sondern auch Ideologien, Religionen, Wertsysteme als Formen kultureller Konfabulation erkannt werden? Sind Fundamentalismen und Dogmen Erscheinungsformen radikaler Verdrängung und dienen ultimative Konfabulationen der Sicherung bedrohter (individueller, politischer, religiöser) Identität? Sind Medien gigantische Konfabulationsmaschinen?
Seit der Moderne werden Geschichten vor allem über Technologien und Medien fabriziert. Mit jeder Technologie wird gleichzeitig eine neue Geschichte erfunden und eine alte fortgeschrieben. Technologien sind keine kontextlosen Wissens- und Innovationskondensate, aus ihnen sprechen vielfältige Geschichtsbezüge, die über kulturelle Sehnsüchte erzählen. Sie können als Special Effects wissenschaftlicher, politischer, ökonomischer usw. Geschichten interpretiert werden, welche die kulturelle Narration verdichten und diese in eine bestimmte Richtung lenken. Während Technologie auf Seiten des Realen ihre Effekte evoziert, arbeitet Kunst auf Seiten des Symbolischen. Als Symboldarstellungen fungieren Kunstwerke als Überschriften über Geschichten und Diskurse, die über Gesellschaften und den Zuständen in diesen berichten. Kunst und Technologie sind zwei diabolische Splitter einer Phänomenologie des Effekts, womit sowohl die Geschichte der Kunst als auch jene der Technologie als eine Geschichte der Special Effects gelesen werden kann. Worauf es dabei heute mehr als jemals zuvor ankommt ist, dass die Special Effects der Kunst nicht der Ordnung des Spektakels folgen, sondern jene die Ordnung konstituierenden Narrationen des Spektakels aufzeigen. Wenn über Massenmedien Konsum, Werbung, politische oder ökonomische Ideologien, Dogmen oder Fundamentalismen eine kulturelle Anosognosie als verschärfter Zustand der debordschen Gesellschaft des Spektakels im 21. Jahrhundert anvisiert wird, ist Kunst aufgerufen an der "Uneinsichtigkeit" zu laborieren. Mediale Kunst versucht dies, indem Special Effects der Technologie zu Special Effects der Kunst transformiert werden, um Geschichten und Diskurse hinter den Standards und Normen von Systemen, Programmen, Politiken, Ökonomien und dergleichen mehr zu dekonstruieren. Medialer Kunst kommt hier die Aufgabe zu, die technischen Konstruktionen der unterschiedlichen Kulturprogramme zu reflektieren und diese auf ihre Produktiv- und Transformationskräfte hin zu befragen. Der Mythos, dass Technologien frei von Werten und Konfabulationen seien, relativiert sich als eine von vielen Geschichten über Medien und Technologien. Arbeit in, mit und durch Medien heißt sowohl die Geschichten, die aus ihnen sprechen als auch jene, die sie verbergen oder produzieren, auf scheinbare Notwendigkeiten und mögliche Kontingenzen zu untersuchen. Die Formen der Untersuchung können von Analyse über Kontextualisierung bis Fiktionalisierung reichen. In diesem Sinne ist die Geschichte medialer Kunst voller Geschichten, die sich ständig neu erzählen lassen. Autismus, Scham, Onanie und Diskurs sind nachfolgend die Überschriften über vier kurze Geschichten, die von der Kunst der Medien und den Medien der Kunst berichten. Und selbstverständlich könnten sie auch ganz anders erzählt werden.
Autismus
Willkommen in der Weltflucht, in der Befreiung der Sexualität von Liebe, im egozentrischen Hedonismus, in der Disco für xenophoben Welthass und Fundamentalismus. Wir feiern heute die grenzenlose Paranoia. Unsere Grammatik heißt Glamour.
Als die gesellschaftlichen Produktivkräfte von metaphysischer Transzendenz auf physische Introszendenz umschalteten, schlugen technische Medien in die Kultur des 19. Jahrhunderts wie ein Meteorit ein. Die Kunst des 19. Jahrhunderts war ein Jurassic Park mit exotischen Sauriern, möbliert mit träger Salonkunst und bestückt mit politischer und religiöser Repräsentations- und Dekorationskunst. Auf die Saurier-Kunst folgte mediale Techno-Kunst, denn im neuen Klima der Industrie und Technologie herrschten ab sofort andere Gesetze. Durch die Fotografie verlor die Kunst ihr Bildmonopol. Der Künstler war nicht länger Intendant und Herr der Bilderwelt. Wissenschaften und Massenmedien übernahmen die Produktion, Innovation und Distribution von Images und Bildwirklichkeiten aller Art. Plötzlich war traditionelle Kunst nur mehr Nostalgie, eine romantische Reminiszenz an eine verlorene Welt.
Kunst durchlebte eine Katharsis, eine Reinigung vom Schmutz der Fremdreferenzen und eine Befreiung von der Instrumentalisierung und Versklavung durch die gegenständliche Welt und den Fetischismus des Schönen. Kunst entledigte sich aufoktroyierten Zwängen, stand nicht mehr im Dienst fremder Konfabulationen – der Politik, Religion oder Naturwissenschaft –, sondern begann sich mit eigenen Fabulationen und medialen Konstruktionen zu beschäftigen. Kunst kondensierte in ihre Bestandteile und änderte ihren Aggregatzustand. Medien waren nicht länger Euphemismen und blinde Flecken der Kunst, die sich Glanz und Glamour zu unterwerfen hatten, stattdessen wurden Materialitäten und reale Bedingungen wie Bildträger, Farbe, Form, Faktur usw. zum Selbstzweck der Analyse und Reflexion.
Kunst war ab nun frei und autonom, aber gesellschaftlich marginalisiert. Die neue Freiheit war ein Kampf der systemischen Ausdifferenzierung, wobei an erster Stelle die Beschäftigung der Kunst mit sich selbst stand. Dieses autistische Stadium der Kunst diente der Aufarbeitung jenes durch Technomedien zugefügten Traumas.
Scham
Das Desaster beginnt mit der Auflösung territorialer und biologischer Begrenzungen, der Entfesselung der Märkte und Genome, der digitalen und genetischen Vernetzung der Kommunikationen. Es ist die Gesellschaft, in der alles gleichzeitig passiert - es ist die Kultur der Schizophrenie unserer Natur. Nichts ist fremder als das Natürliche, nichts natürlicher als die Fiktion.
Neben dem Autismus gab es einen zweiten Effekt, den der Scham. Die technischen Apparate waren derart perfekt, dass es den Malern die Röte ins Gesicht trieb. Was blieb, war die staunende Darstellung technischer Eigenheiten damals noch neuer Medien und selbst die Fehler und Mankos der Apparate wie etwa Unschärfe, Bildpunkte, Geräusche und dergleichen mehr vermochten zu faszinieren. Es entstand eine bis heute andauernde Maschinenkultur, die sich in den Exkrementen des Maschinischen suhlt. Das Furzen und Kotzen der Maschinen war die angemessene Demütigung, mit der die Scham psychopathologisch der antiquierten Menschenkultur inkorporiert werden konnte.
Eine andere Strategie mit der Scham fertig zu werden, versuchte es mit Ablass und Verbrüderung. Sie war begleitet von einer emphatischen Begrüßung und Verherrlichung der technischen Verheißungen. Soziale Techno-Utopien, maschinische Existenzweisen und futuristische Lebensdispositive wurden beschworen. Das Programm modernistischer Konfabulation in Form künstlerischer, gesellschaftlicher und technologischer Weltverbesserungen nahm seinen Ausgang: Kollektive Intelligenz durch Vernetzung, gigantische Megacities, Transparenz durch panoptische Kontrolle, endloses Wachstum und unbeschränkte Machbarkeit bildeten das Faszinosum des Technokünstlers.
Onanie
Die Gesellschaft, ihre Symbole und Systeme haben sich vom Menschen so weit abgekoppelt, dass sie eigene Sterne bilden: Wir sind Aliens in unserer eigenen Kultur.
Zusätzlich zu Autismus und Scham gab es - diese gleichsam auf einen gemeinsamen Höhepunkt bringend - die Onanie. Die Onanie ist der interessanteste Aspekt sogenannter harter Medienkunst, denn sie erfüllt die Introszendenz der Modernität, das Hinabsteigen in den Urgrund der Materie, ihren Säften und Kristallen aus Silizium und Galliumarsenit am besten. Aus dem Urgrund soll sich ein technoider Geist erheben. Die Kunst soll intelligent und Medien sollen selbst zum Sprechen gebracht werden. Der Künstler wird zum Demiurgen, der seine Lust aus der Amputation seiner selbst erfährt. Nicht der Künstler erzählt Geschichten, sondern seine Medien, Werkzeuge, Systeme beginnen zu autofabulieren. Kunst wird in dieser Phase algorithmisch, zu einer pataphysischen Maschine, die von ihren eigenen Produktionsbedingungen erzählt bis der Künstler in ihr vergeht. Dies ist der Sieg und das Finale der Medienkunst, das eigentliche und letzte Ejakulat der natürlichen Evolution und der Beginn der maschinischen Autoevolution.
Diskurs
Wir leben im Zeitalter großer Transformationen. Wir leben im Zeitalter der Re-Evolution. Wir waren noch nie so aktuell, wie wir es heute sind. Wir heißen die Anarchie, die Unordnung und das Chaos willkommen. Wir sind vorbereitet! Wir verabscheuen die Flucht ins Subjekt und noch mehr in die Religion. Wir setzen auf Vernetzung, Divergenz, Interdependenz, Entwurzelung und Heterogenität. Lasst die Hoffnung auf Identität, Heimat, Nation, Ideologie, Religion und die Illusion auf ein eigenes Ich fahren. Es gibt keine Moral, Ordnung und absolute Notwendigkeit. Es gibt nur die Amoralität des Ganzen.
Jetzt sind wir in der Gegenwart, was nicht heißt, dass im Zeitalter der Archive, Retromechanismen und Parallelitäten Autismus, Scham und Onanie nicht weiter existieren. Technokunst hat vieles antizipiert, doch das Erträumte sieht realiter völlig anders aus.
Utopien sind zum Minenfeld geworden. Die einst so kühnen Cyberspace-Visionen orientieren sich heute mehr an Shopping Malls als an Yoshua Trees, Indras Netz oder Gibsons Neuromancer. Das Internet ist keine Hippie-Geschenksökonomie, sondern wurde über die Dotcoms zum Synonym für die neue Ökonomie der entfesselten Märkte. Der Cyberspace hat nichts futurologisches, er ist ein Synkretismus aus linken und rechten Mythen, Neoliberalismus, staatlicher Kontrolle, unternehmerischem Kapitalismus und Esoterik.
Medienkunst befindet sich in einem Srukturwandel: Traditionelle Kategorien, die mediale Kunst als rein technologiebasierte Kunst betrachtet haben, greifen heute zu kurz. Zunehmend geht es um kontextuelle Reflexionen von Medien und Technologien. Soziale, ökonomische, politische oder wissenschaftliche Konditionen werden mit Medien und Technologien korrelativ und situativ verwoben und hinterfragt. Dabei stehen künstlerische Konzepte im Vordergrund, die in, über, durch spezifische Medien realisiert werden.
Jüngere Positionen medialer Kunst unterscheiden sich deutlich von einer Medienkunst der 1980er und 1990er Jahre: Der Pathos der Maschine oder einer leistungsstarken Workstation, die in Echtzeit Interaktivität suggeriert, erinnert nur noch an die Naivität eines Hype. Heute zeigt sich mediale Kunst abgeklärter, sie benötigt keine sportlichen Spitzentechnologien der Industrie mehr. Sie will nicht Futter des Konsums sein.
Kunst ist allgemein wieder diskursiver geworden und mediale Kunst insbesonders. Künstler und Künstlerinnen operieren zunehmend hybrider und immer öfter auch in Kollektiven, wo sie als multiple Personen in Gruppen aus Theoretikern, Technikern und Wissenschaftern miteinander und transdisziplinär kollaborieren. Genau hier sprengt Kunst die Grenzen ihres Systems und läuft Gefahr, ihr eigenes Metier zu demontieren. Medienkunst wird zum Medienaktivismus, zu einer Kunst, die Bilder und Werke gegen eine Haltung tauscht und Gegenkultur über digitale Mikropolitiken anvisiert. Taktische MedienkünstlerInnen verstehen sich als Hacker, Prankster, Rapper oder Terroristen, die gegen ein verhasstes Establishment kämpfen, wozu selbstverständlich neben den Konzernen, den Macht- und Kontrollpolitiken auch das Kunstsystem mit seinem Markt, Galerie- und Museumswesen zählt.
Die Entwicklung der medialen Kunst vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis heute beschreibt einen Bogen von der Autonomisierung und Abstrahierung zur Politisierung und radikalen Reklamation gesellschaftlicher Felder. Der Künstler wandelt und emanzipiert sich vom kunsthandwerklichen Waren- und Bilderproduzenten zu einem sozial und medial Handelnden.
Supramoderne
Globale Effekte erzwingen intergalaktische Steuerungsregime.
Kunst ist in den Geschichten ihrer Zeit verwoben. Wenn immer weniger von traditioneller bildender, sondern präzisierend von medialer, elektronischer, digitaler usw. Kunst die Rede ist, zeugt dies vom Bedürfnis, aktuelle Geschichten des neuen Paradigmas der Informatisierung, Vernetzung und Globalisierung zu verhandeln. Hatte die klassische Moderne ihre Avantgarden, die Postmoderne ihre Transavantgardia und Neuen Wilden, formieren sich seit längerem Bewegungen medialer künstlerischer Strategien, die aufbauend auf eine konzeptuelle und situationistische Kunst der 1950er und 1960er Jahre die Konditionen der technokapitalistischen Kultur zu ihrer Geschichte machen. Diese Strömungen haben rechtzeitig erkannt, dass nicht nur neue Medien und Inhalte in der Kunst eine Rolle spielen, sondern auch Kunst eine neue Rolle in der Gesellschaft einnimmt. Die Funktionszusammenhänge und Produktionsbedingungen mutieren, denn das Spiel von Notwendigkeit und Möglichkeit, Sein und Schein hat sich aus der Kunst in die Medienkonzerne, Labore, Polit- und Wirtschaftsbüros verlagert, die einen Transmissionsriemen zwischen Wirklichem und Unwirklichem, Wissen und Nichtwissen antreiben. Der eigentliche Unterschied zwischen Kunst und Medien besteht seitdem im Umgang mit Systemabstürzen. Während Medien bemüht sind, Komplexitäten zu reduzieren und über die Quote einen Commonsense beschwören, versucht Kunst Unordnungen und Komplexitäten bzw. Nichtwissen und Kontingenzen produktiv zu machen. Kunst wird zur Kontingenzforschung, die sich mit alternativen Möglichkeiten innerhalb technomedialer Dispositive auseinandersetzt. Sie entwickelt eine Leidenschaft für Geschichten, die sich über das Technologische ins Reale einschreiben und das Zusammenleben der Menschen verändern. Fragen nach der kulturellen Befindlichkeit und den Konditionen der Moderne, ihren Revisionen in der Postmoderne und den aktuellen verschärften Bedingungen in der Gegenwart, stehen zur Disposition.
Traditionelle Geschichten, Orientierungsmuster und Sinnsysteme, die in der Moderne noch zum Teil über die Robustheit ihrer Verblendungen auf Einheit und Identität zielten und der Fraktalisierung des Kulturellen etwas entgegen setzen konnten, kommen ins Schwanken. In einer expandierenden Welt- und Wissensgesellschaft, die durch Globalisierung und Komplexität getrieben wird, schlägt jeder Versuch, Unordnung über Geschichten zu disziplinieren, in sein Gegenteil um und schafft Verwirrung. Traditionelle Symbolsysteme sind daher nicht mehr geeignet, aktuelle Geschichten zu erzählen und einer komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Heute leben wir im Zeitalter des symbolischen Anarchismus, in dem Zeichensysteme nicht eindeutig bestimmte Dinge denotieren, sondern zeit-, moden- und kontextabhängig gegensätzliche Wertsysteme konnotieren. Geschichten oszillieren derart schnell, dass sie sich von ihren Erzählern lösen, wodurch sich die Gesellschaften, ihre Systeme und Symbole von den Menschen entfernen. Es entsteht ein schizophrener Gesellschaftstyp, der von der Distanz zwischen Individualität und Sozietät geprägt ist und wo Sozietät die Illusion eines systemisch entkoppelten Individuums darstellt. Geschichten werden von Systemen und nicht mehr von Menschen erfunden und kommuniziert.
Postmoderne Theorie, welche die Moderne zu redigieren und auf ihre Verfehlungen hin zu korrigieren hoffte, hatte richtig erkannt, dass gesamtkulturelle Konfabulationen in Form großer Metaerzählungen weitgehend zerbrochen sind. Niemand kann den Anspruch erheben, das Ganze verstehen und in eine Ordnung bringen zu können. Diese Vielfalt und Unübersichtlichkeit konstatierend schloss die Postmoderne kulturkritisch auf eine neue Beliebigkeit. Dies war falsch. Es verschwand lediglich aller Streit um die Wahrheit, um die einzig wahre und richtige Geschichte, um die absolute Souveränität des Diskurses. Es gibt keine Unübersichtlichkeit, es gibt nur ein mangelndes Management von Nichtwissen. Beliebigkeit ist lediglich unbewältigte Kontingenz.
Geschichten haben zwar niemals einen Anfang und ein Ende - es gibt keinen Kreissaal und Friedhof für Geschichten -, aber da Daten einer Rhetorik und Übersicht des Erzählens förderlich sind, begann die Postmoderne nach Charles Jencks am 15. Juli 1972 in St. Louis mit der Sprengung der Prinzipien der Moderne in Form der Hochhaussiedlung Pruitt Igoe. Wer will, findet im Datum des 11. Septembers 2001 mit dem Einsturz des WTC in New York ihren Todestag und die Geburt eines neuen Stadiums der Moderne, das die alte Moderne samt Nachmoderne weit übertrifft: Die Supramoderne. Eine Welt, in der alles gleichzeitig und zudem systemisch passiert, wird supranational, suprakomplex und supraleitend.
Mit einem ordentlichen Denker der Moderne, Theodor W. Adorno, gesprochen, bleibt der Schluss: „Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“
* Erstabdruck in: Gerhard Johann Lischka, Peter Weibel (Hg.), Die Medien der Kunst - Die Kunst der Medien, Bern 2004, S. 105 - 118.