Reinhard Braun

Radikale Theorie
und/oder „schmutzige“ Kunst?*

Die theoretischen Schwierigkeiten beginnen mit der Frage: Wie findet der Künstler die Wirklichkeit, an der er sich angeblich orientiert? Wo ist dieser Vergleichspunkt seiner Tätigkeit, und wie identifiziert er ihn? Er hat Instrumente, Ideen, Überzeugungen, er hat gewisse technische Fähigkeiten, er hat ein geübtes Auge, das die Welt auf bestimmte Weise sieht, er hat vor sich nicht nur die Werke älterer Künstler und Zeitgenossen, er hat auch noch die Werke von Wissenschaftlern, Theologen, Politikern …

Paul Feyerabend1

Was wie eine Frage nach einem möglichen Kontext der Kunst erscheint, ist bei Paul Feyerabend allerdings eine Frage nach der Wirklichkeit und der Wahrheit. Er überprüft die Forderung, „daß ein Kunstwerk oder eine wissenschaftliche Ansicht wahr sei oder der Wirklichkeit entspreche“, anhand von Darstellungsmethoden der Malerei, stellt damit allerdings eine philosophische Frage und argumentiert bereits dahingehend, dass, in seinem Fall, „Stile“ keine Wirklichkeit produzieren, sondern Modelle, die wiederum anhand von anderen Modellen überprüft werden. Was als Wirklichkeit bezeichnet wird, erscheint „in Wirklichkeit“ als Herstellung einer Konsistenz von Modellen – und diese Modelle sind niemals nur ästhetische oder in weiterem Sinn künstlerische Modelle, es sind vielmehr Modelle von Erkenntnis, Erfahrung, Aneignung, Reproduktion, Wissen und, nicht zuletzt, Macht.

In zahlreichen Serien, um nicht zu sagen Forschungsprojekten, hat sich Thomas Feuerstein in den letzten Jahren vor allem mit jenen „Modellen“ beschäftigt, die eine derartige Konsistenz zwischen „Wirklichkeit“ und Erfahrung, Politik und/oder Kultur herzustellen versuchen. Dabei zeigt sich, dass manche dieser Modelle einem erstaunlich fröhlichen Leben als Meta-Diskurse kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Lebens frönen, obwohl doch „große Erzählungen“ seit langem schon totgesagt wurden: Mediatisierung, Kybernetisierung, Biopolitik, Identitätspolitik. Alle diese hier nur schlagwortartig angeführten Konzepte diffundieren nach wie vor ununterbrochen als Ordnungsbegriffe gesellschaftlicher Makrostrukturen schließlich in Form von Lifestyle-Plots in Alltagskulturen, werden dabei nahezu unkenntlich, stellen aber gerade in ihrer verflüssigten Form durchaus hegemoniale Entwürfe für Politik und Identität dar. Die Implantatchirurgie stellt ein Symptom einer völlig überarbeiteten Körperpolitik dar, Kybernetisierung ist nur ein Wort für die durchgehende Fundierung gesellschaftlicher und kultureller Austauschsysteme auf (digitaler) Information und Repräsentation, Mediatisierung skizziert wiederum die Konzentration kultureller Repräsentation auf den „einen Schirm“ der Massenmedien (zu denen längst schon das Internet zählt). Das zugrundeliegende gesellschaftliche Konzept – die Neuauflage einer „großen Erzählung“ – lässt sich als durchgehende Technologisierung aller Lebens- und Wissenschaftsbereiche, der Ökonomie, des Militärs, der Verwaltung und nicht zuletzt der Körper selbst beschreiben, „als Zähmung und Nachbau ihrer [der Natur] Gesetze in Systemen, Programmen und Maschinen“.2 Die Erzählung der Moderne, aufgesplittert und in zahllose Diskurse zerstreut, scheint dennoch zu keinem Ende gekommen zu sein. Schreibt etwa Zygmunt Bauman über die Verflüssigung selbst noch der mikro-politischen Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft und postuliert einen Abgrund „zwischen der übergreifenden Ordnung auf der einen Seite und all ihren Agenturen, Vehikeln und Strategemen auf der anderen Seite“3, so lässt sich am Begriff der Technologisierung zeigen, wie dieser sowohl auf der Ebene der übergreifenden Ordnung als auch innerhalb der Agenturen, Vehikeln und Strategemen virulent ist – ohne dass dadurch ein Ordnungssystem beschrieben wäre, das „die kommunikativen Muster und Strukturen der Handlungskoordination, individuelle Lebenspläne an kollektives politisches Handeln“ bände.4 Wir sehen uns einer Situation gegenüber, in der sich Kohärenz durch Kontingenz einstellt, in der Mannigfaltigkeit zugleich eine Disziplinarmacht darstellt und sich Hegemonie als „Aufgabenbeschreibung im Pflichtenheft individueller Selbstverwirklichung“5 herausstellt.

In der Serie „Der Künstler als Avatar“ (selbst wiederum Teil des Projektes „Biophily“, 1995 – 2001) spielt Thomas Feuerstein mit dem Verschwinden des Künstlers in der Medienumgebung: in verschiedenen Versionen von Videoinstallationen erscheint der Künstler nur noch als (fiktive?) Figur „innerhalb“ eines auf einem Monitor wiedergegebenen Settings, das durchwegs an Laborsituationen erinnert (vgl. etwa „Only a Dead Artist is a Good Avatar: Der Künstler als Avatar # 25“, 1999) und das gleichzeitig die reale Umgebung für die Videoinstallation bildet.

Die durchgehende Transgression, wenn nicht gar Transsubstantiation des (Künstler) Subjekts steht im Raum: Bilder eines Ergriffen-Werdens durch Technologie, durch eine „instrumentelle Rationalität“, die das Reale und sein Double ununterscheidbar macht/zu machen gedenkt (Versatzstücke aus der Mythologie und der Pornografie finden sich als Bebilderung in diesen fiktiven Räumen und erscheinen wie ein Rückblick auf einen Körper, auf ein Körperkonzept, das sich nur noch mittels Bilddatenbanken und Archiven rekonstruieren lässt; vgl. bereits „Whatever: Der Künstler als Avatar # 01“, 1996). Jedenfalls erscheint die (mitunter bemitleidenswert inszenierte) Figur des Künstlers als exemplarisch für die „Vermischungen kultureller, mythischer und technologischer Felder“6. Die verschiedenen Umgebungen, in denen dieses Verschwinden in der Vermischung inszeniert wird, erscheinen wiederum als Räume, in denen die Methoden, Konzepte und Ideologien des Zugriffs auf den Körper und das Subjekt zu einer mitunter bedrohlichen Konstellation von Wissenschaft und/oder Kultur arrangiert werden. Zahllose Versatzstücke aus der Pharmazie, der Biologie, der Medizin, der Alltagskultur oder aber überbordende Staffagen außereuropäischer Kulturen gehen unheilvolle Verbindungen ein und erzeugen ein Environment, in dem das Subjekt nur noch als Fiktion, als Chimäre, als Produkt dieser kulturell/wissenschaftlichen Systeme ausgemacht werden kann. Die Räume, in denen der Künstler als Avatar erscheint, sind gekennzeichnet von Allianzen von Praktiken, wie sie sich hegemonial dem Alltag längst schon eingeschrieben haben, sie bilden den Ausgangspunkt der Frage nach der Herrstellung neuer Beziehungen und deuten diese im Ausgreifen auf verschiedenste kulturelle Systeme bereits an. In der Serie „Der Künstler als Avatar“ repräsentiert Thomas Feuerstein Wirklichkeit bereits als „verschmutztes“ Produkt hegemonialer Entwürfe durch Wissenschaft, Technik, Politik, Ökonomie, vor allem aber duch Technologie.

Wie findet der Künstler/die Künstlerin nun im Rahmen gesamtkultureller Modelle, deren Synthetisierung und Kontextualisierung im großen Maßstab, vielleicht nicht „die“, aber immerhin eine Wirklichkeit, an der er/sie sich orientieren könnte? Mit Sicherheit nicht durch Darstellungsmodalitäten, wie auch immer kontextualisiert diese sein mögen (doch diese Debatte führt in Richtung einer Befragung der Rolle von Bildern, die hier nicht im Mittelpunkt steht). Eher schon gerät man auf deren Spur, orientiert man sich an einem Begriff wie „Artikulationslinien“, wie ihn Lawrence Grossberg vorschlägt. Für ihn stellen sich die kulturellen Objekte der Untersuchung „nicht so sehr als Praktiken, denn als Allianzen dar, als ein Beziehungsgeflecht zwischen den Praktiken (die nicht textuell, symbolisch, bezeichnend oder diskursiv sein müssen)“. Das heisst auch, dass dasjenige, das analysiert wird, nur durch die Praxis der Analyse hergestellt werden kann, dass dadurch möglich wird, Beziehungen herzustellen, „wo es keine Beziehung gab, oder häufiger noch, das Herstellen einer neuen aus einer anderen Beziehung“.7

Für Thomas Feuerstein sind diese neuen Beziehung durch eine Revision der Zusammenhänge zwischen Modernismus und gegenwärtiger Post-Postmoderne herzustellen. Das Herkuläische der Moderne beschreibt er dahingehend, eine Schlacht „gegen die Unordnung, das Chaos, das Altern und den Tod zu schlagen“.8 Gleichzeitig hat diese Schlacht zur Folge, dass das Subjekt vermehrt „in ein operatives Verhältnis zur Geschichte der Zukunft“9 und, wie hingefügt werden kann, in ein operatives Verhältnis zu sich selbst als Subjekt dieser Geschichte gesetzt wird. Und dieses operative Verhältnis erachtet Feuerstein als Umstellung von Kultur auf autopoietische Systeme. „Am auffälligsten wird dies am Beispiel der Umstellung von Subjekt auf System, von Nationalität auf global gouvernance, von Ordnung auf Komplexität, von Politik auf selbstregulierende Märkte, oder durch, um ein weiteres Mal Bauman zu bemühen, „das Lösen der Bremsen, der Beseitigung von Hemmnissen: der Deregulierung, Liberalisierung, Flexibilisierung, der zunehmenden Verflüssigung, der ungehemmten Entwicklung von Finanz-, Immobilien- und Arbeitsmärkten“.10 Diese fortschreitenden Transformationen sämtlicher Gesellschaftssysteme streben dem Klimax ihrer Autopoietisierung entgegen, „wo alles in einer Naturalisierung der Kultur und einer Kulturalisierung der Natur mündet“.11

Es scheint nun, dass Thomas Feuerstein im Rahmen eines „momentanen Aggregatzustandes der Moderne, in dem Materialisierungs- und Immaterialisierungsprozesse einer antagonistischen Logik folgen“, seine künstlerischen Praktiken als eine Praxis der Konstruktion von (unerwarteten, hypothetischen, programmatischen) Artikulationslinien versteht bzw. als Formulierung einer Kritik an Allianzen und Beziehungsgeflechten zwischen Praktiken, wie sie die Moderne als große Artikulationsmaschine produziert hat: Vermessung, Aufzeichnung, Kategorisierung, Mapping, Quantifizierung, Manipulation, Kontrolle – als Kritik an einer instrumentellen Rationalität, die nach wie vor die wirksame Metapher einer Wissenschaft und einer Gesellschaft darstellt, die sich, bar jedes Essenzialismus auf theoretischer Ebene, einem exzessiven Materialismus hingibt und Genome und subatomare Zusammenhänge in experimentellen Anordnungen rekonstruiert. Gerade die Erzählung der Moderne ist eine Erzählung der Materie und ihrer Analyse; zwar haben Freud und Lacan das Subjekt in semiologische und symbolische Komponenten dezentriert, die Medizin hat unbeeindruckt von dieser radikalen Dezentrierung des Subjekts dieses letztlich auf elektronische Leitfähigkeiten und Impulse, auf Rezeptoren und Botenstoffe reduziert. Der Körper ist kaum mehr ein historisches „Subjekt“, er ist ein Spielball genetisch einwandfreier Reproduktion oder genetisch bedingter Deformationen, mindestens aber einer pharmazeutischen Konditionierung. Sind dies die „Werke von Wissenschaftlern, Theologen, Politikern“, die es zu berücksichtigen gilt, wenn es um eine Wirklichkeit der zeitgenössischen Welt geht? Und wenn ja: Welche Artikulationslinien lassen sich daneben, dazwischen, gar dagegen, konstruieren, hypothetisch inszenieren oder entwerfen?

Zunächst muss man ins Kalkül ziehen, dass, selbst wenn es sich im Rahmen aktueller Fragestellungen über Gesellschaft und Kultur um nach wie vor virulente Artikulationen der Moderne handelt, diese gegenwärtig in völlig anderer Form kulturell wirksam werden, als es in der (ersten) Moderne – mit den beiden exemplarischen Massenmedien Radio und Fernsehen – der Fall war: Heute ist eine – nach-post-moderne, post-strukturalistische, post-semiologische etc. – „Verschmutzung“ von Kontexten zu konstatieren, die in einer geradezu epidemischen Verschaltung von Apparaturen, Strategien, Ästhetiken und Semantiken ihren Ausdruck findet: das Kennzeichen jener „anti-essentialistische[n] kulturelle[n] Produktion, die gleichsam vom Mischpult aus entsteht“12 und wilde Verbindungen unter den Dingen des Alltags, der Wissenschaft und der Politik herstellt und durch epidemisch wuchende Mikropolitiken gesellschaftliche Teilbereiche verknüpft.13 „Die Grenzlinie, die zwischen Werkzeug und Mythos, Instrument und Konzept, historischen Systemen gesellschaftlicher Verhältnisse und historischen Antinomien möglicher Körper, die Wissensobjekte eingeschlossen, verläuft, ist durchlässig.“14

Dieser Entgrenzung und Durchmischung ist mit der strukturalistischen Methode der Formulierung einer Kohärenz funktionaler Elemente, der Strukturen von Beziehungen, nicht mehr beizukommen, weder auf der Ebene der Inhalte noch auf der Ebene der Formen. Der Versuch, „in normativer Einstellung über ihre ‚Ordnung‘, d. h. die Weise der Koordination der in ihnen ablaufenden Prozesse nachzudenken bzw. diese zu erneuern“, stellt sich als „praktisch aussichtlos und daher methodisch inadäquat“ dar.15 Es geht vielmehr darum, sich klarzumachen, „wie spezifische Praktiken (die um Widersprüche herum artikuliert sind, die nicht alle auf dieselbe Weise, am selben Punkt und im selben Moment entstehen) trotzdem zusammen gedacht werden können“.16 In welcher Form lässt sich also Technologisierung (mit all ihren Folgeerscheinungen, parasitären Verzweigungen) denken, konzeptualisieren und in eine künstlerische Produktion einschreiben, ohne sie als Ideologie oder Teleologie einer Kultur zu verstehen (d. h. als klassisches Überbau-Symptom), sondern gerade als Artikulationslinie disparater Praktiken, widersprüchlicher Diskurse und nicht zuletzt Erfahrungen?

In „EUGEN – Hire all my Information“ ist der Künstler ebenfalls nur in Form einer Information seiner selbst anwesend, nicht als Bild, aber als zu bestellende Samenspende aus einer kalifornischen Samenbank. Der Künstler als Material der Kunst? Der Künstler als exemplarisches Individuum, das sich stellvertretend von der Technologie durchströmen lässt, wie einst das Subjekt von der Macht durchdrungen wurde, wie Michel Foucault schrieb? „Die für die Installationen und Modelle entworfenen ‚Texte‘ beziehen sich auf den Zustand des von Diskursen und Informationen durchströmten mediatisierten Individuums. Sie versuchen über die Verwebung einzelner diskursiver Fäden einen Knoten zu bilden, der die Situation des Künstlers als symptomatisch für die zunehmend kontingent erfahrene Welt vorstellt.“17 In den neueren Arbeiten wandelt sich diese Idee des Textes und des Subjekts als Knoten in Richtung einer von kontingenten Singularitäten gekennzeichneten Netzstruktur, die in ein Schwarmgebilde übergeht, wie etwa in „fiat::radikale individuen – soziale genossen“, das in einem als eine Art Comic gestalteten Storybord die Qualle als Synonym für ein biomorphes Netzwerk einführt, die dann auch als Licht-/Kristallobjekt ausgeführt wird. Im „fiat“-Projekt tauchen auch bereits Bioreaktoren mit Tumorzellen bzw. echtem Hausschwamm auf. Die Figur des Künstlers wird sozusagen durch Biosysteme ersetzt, die zumindest für die Dauer der Ausstellungsprojekte als geschlossene Kreisläufe und damit als autopoieitische Systeme funktionieren. Und der Text wird im Begriff der „Konfabulation“ zu einem hypothetischen System fiktionaler Erzählung, womit die Frage nach einer Wirklichkeit bei Feyerabend endgültig zu einer Fiktion kultureller Texte wird, die sich vollständig jenseits von Wirklichkeit etablieren und fortschreiben.

Zunächst geht es Thomas Feuerstein grundsätzlich darum, die Dichotomisierungen der Moderne „durchzuarbeiten“, die Antagonismen zwischen „schneiden und samplen, partikularisieren und hybridisieren“, „trennen und mischen“18, die für ihn das spezifisch Moderne der Moderne darstellen, zu negieren und dem ein vernetztes Vorgehen entgegenzusetzen, „das sich in alles involviert“19 und das den Gegensatz zwischen Teilbereichen der Gesellschaft, die Partikularisierung von Diskursen zurückweist, etwa jene zwischen Kunst und Wissenschaft. Und diese Zurückweisung zielt nun gerade nicht auf eine – para-wissenschaftliche – Meta-Theorie, ein neues Ordnungssystem, eine neue Totalität (Kunst?), geformt aus den Bruchstücken einer gescheiterten Moderne, sondern gerade auf die Verunreinigung von Diskursen, auf die epidemische und radikal kontingente Transgression von Disziplinen und nachgeordneten Theorien, auf „Mischungen und Hybridisierungen von Kunst mit Leben, Politik, Wissenschaft und Ökonomie20. Es geht nicht darum, die Verflüssigung der Moderne zu revidieren, zielte diese doch immer auf die Etablierung von neuen, verbesserten Ordnungen im Rahmen der erwähnten instrumentellen Rationalität, sondern die Idee der Entfremdung von einem Ursprung zurückzuweisen, das Normative von Totalitäten aufzuzeigen und darauf zu bestehen, dass alles entzwei, geborgt oder gestohlen ist und jede Vorstellung einer Normalität dem zugrunde liegt, was uns unterdrückt.21 Es geht möglicherweise um die Vorstellung, dass Auflösung und Fragmentierung positive, affirmative, ja sogar unterhaltsame Zustände sind.22

Linda Singer beschreibt diesen Zustand in ihren „Überarbeitungen der Macht“, um die es zweifellos geht, stellen sich doch die Moderne wie die Postmoderne als mächtige Maschinen der Signifikation und der Durchsetzung gerade der skizzierten Antagonismen zwischen Ordnung und Auflösung der Ordnung, Norm und Entgrenzung dar, mit dem Begriff der „Verseuchung“ als „zentrale Figur in sozialen Beziehungen und sozialer Produktion“.23 Sie bestimmt „die als wuchernd vorausgesetzte Logik der Epidemie als eine beständige epistemische Matrix für die disziplinarische Produktion kulturellen Wissens im allgemeinen“24, als ein permanentes In-Umlauf-Bringen von Differenz als Teil der gegenwärtigen Diskursindustrie. Doch kann diesem Diskurs der Epidemie kein hierarchisches System der Wissens- und Erfahrungsverteilung entgegengesetzt werden: das „Scheitern“ der Moderne (und ganz gewiss das Scheitern der Postmoderne) besteht in der Überproduktion von Differenz – und zugleich hat diese Überproduktion von Differenz den Eindruck erweckt, es hätte sich damit gleichzeitig die Frage nach der Macht erledigt.

Linda Singer folgt jedoch gerade dieser Macht, der „disziplinarischen Produktion kulturellen Wissens“ bis in die mikro-sozialen Verästelungen und vor allem bis hin zur Produktion der Körper. Die prekäre Frage ist immer jene nach der Macht der Diskurse, gerade wenn diese scheinbar durch ihre Verflüssigung in zahhlose alltagskulturelle Zusammenhänge ein unübersichtliches Ausdifferenzierungspotential erreicht haben und sich ihrer Benennung entziehen. Stellt also die Strategie, sich in alles einzumischen, die Verschmutzung von Kontexten, eine adäquate Vorgangsweise dar, um der Verflüssigung und der Epidemie, der Verschleierung hegemonialer Artikulationslinien etwas entgegenzusetzen? Ergeben sich daraus neue Beziehungen, wo es vorher keine gab? Oder wird dadurch das Lösen der Bremsen, die Beseitigung von Hemmnissen nur weiter vorangetrieben?

Denn: Erscheint nicht gerade der postmoderne „Diskurs ohne Zentrum“, der alle Ideologien abgestreift zu haben scheint, ein theoretischer „sprawl“ ohne Zentrum, eine namenlose verstreute Praktik, gekennzeichnet durch Zerstreuung, ein „herrenloser Raum“ der Deregulierung und Destabilisierung, wie es Zygmunt Bauman25 beschreibt, als post-modernes, post-strukturelles Konstrukt einer technologisierten Gesellschaft, die funktioniert, ohne der Macht zu bedürfen?

Die Zerstreuung der Macht innerhalb dieses herrenlosen Raumes lässt sich nicht durch ihre Lokalisierung in zahllosen Diskursen aufheben, sie hört nicht auf, wirksam zu sein, nur weil man ihre Prinzipien versteht, und sie lässt sich auch nicht aushebeln, indem man das Prinzip der Zerstreuung exzessiv verdoppelt. Es scheint vielmehr bedeutsam, „den (kulturellen) Prozeß als ‚komplexe, dominante Struktur‘ zu verstehen, die durch die Artikulation miteinander verbundener Praktiken entsteht, von denen jede in ihrer Unverwechselbarkeit erhalten bleibt und ihre spezifische Modalität, ihre eigenen Existenformen und -bedingungen hat“.26 Aus diesem Grund ist auch die Praktik der Vernetzung, die sich in alles involviert, nicht mit einer Attitude der Auflösung oder eines Cross-Over misszuverstehen: es geht nicht allein darum, der Macht in ihren Verästelungen zu folgen oder alle Grenzen von kulturellen Kategorien zu sprengen. Dieser Diskurs ist über Foucault bis hin zu Linda Singer ein Diskurs der Aufklärung, der Sichtbar-Machung, der Herstellung von Wissen, der davon ausgeht, dass dieses Wissen als ein strategisches Moment gegen „die Macht selbst“ gewendet werden kann. Heute sehen wir jedoch, wie „das Wissen selbst“ längst zu einem strategischen Moment in der Herstellung von Macht geworden ist, auch ein Wissen, das zirkuliert, das zugänglich ist und Sichtbarkeiten herstellt. Es geht also vielmehr darum, nicht nur bis in die Mikrodiskurse der Zerstreuung und der Epidemie hinein die diskursiv wirksamen Modalitäten von Bedeutungsproduktion aufzusuchen und deren Funktionsprinzipien, wenn man so will, zu enttarnen: es ginge darum, der Zerstreuung und der Epidemie selbst eine „andere Form“ zu geben, neue Artikulationslinien, neue Beziehungsgeflechte zu etablieren, die, ebenfalls epidemisch, auf anderen Knotenpunkten der Verschaltung von Wissen und Erfahrung folgen. (In gewisser Weise geht es um die „Aufhebung von Wissen“, zumindest aber um die Zurückweisung der Entstehungsbedingungen dieses Wissens.)

„Braucht eine globale Sozietät eine einheitliche Identität, wie das menschliche Gehirn ein Ich konstruiert; d. h. braucht der vernetzte Leviathan einen souveränen Kopf oder eignen sich herumschweifende, anarchische Singularitäten besser, um auf chaotische Prozesse, Kontingenz und Unordnung zu reagieren? Sind Singularitäten mit biologischen Schwärmen vergleichbar, die ohne Anführer ein gemeinschaftliches Handeln organisieren?“27 Diese Frage richtet sich nicht auf Fragen der Analyse, sondern auf Formen der Bedeutungsproduktion, auf die Konstruktion von Artikulationen, die sich jenseits der Zerstreuung um einen Begriff der Organisation und der Konstruktion bemühen, ja, auch um einen Begriff der Ordnung, der sich allerdings auf das Prinzip der Kontingenz, der Singularität, der Koalition, der Allianz, der Strategie, der Beziehungsgeflechte und Impulsnachbarschaften bezieht. Nachdem Thomas Feuerstein also den Künstler zu einem Avatar verwandelt hat, dessen genetische Form bereits entäußert wurde, beziehen sich die aktuellen Arbeiten unter Verwendung von Biosystemen, Fliegenkolonien, Algenkulturen etc. auf die, wie es mir erscheint, schwierige Frage, inwiefern sich eine glaubwürdige und tragfähige Strategie entwerfen lässt, sich radikal kritisch, doch jenseits von Ordnungsfantasien auf diejenigen Prozesse zu beziehen, die Natur, Mensch, Technik, Wissenschaft, Ökonomie, Politik etc. in gleicher Weise durchdringen und weniger auf die Vollendung des Projektes der Moderne zielen als vielmehr auf die Vollendung der Zähmung und des Nachbaus der Natur und der Umcodierung ihrer Gesetze in Systemen, Programmen und Maschinen. Diese Strategie folgt gewissermaßen der Idee, auch noch die unscheinbarsten Ablagerungen dieser gar nicht versteckten Ideologie einer Revision zu unterziehen – und dies nicht in From einer Kritik, die die kulturellen Texte auf ihre Wahrheit hin überprüfen, sondern die sozusagen in die Semantik ihrer Entstehung intervenieren, die die Textur der Texte selbst, die sich epidemisch ausdifferenzieren, zurückweist und, wenn man so will, an einer – ebenso epidemischen, ausdifferenzierten, aber – „anderen“ Textur arbeiten. Thomas Feuerstein sucht sozusagen diejenigen Momente einer zeitgenössischen wissenschaftlichen und kulturellen Erkenntnis auf, in denen Differenz zu normativen Konstellationen gerinnt.

„Daher besteht Cyborg-Politik auf dem Rauschen und auf der Verschmutzung und bejubelt die illegitime Verschmelzung von Tier und Maschine. Solche Verbindungen machen den Mann und die Frau problematisch, sie untergraben die Struktur des Begehrens, die imaginierte Macht, die Sprache und Gender hervorgebracht hat und unterlaufen damit die Strukturen und die Reproduktionsweisen westlicher Identität, Natur und Kultur, Spiegel und Auge, Knecht und Herr, Körper und Geist.“28 Noch im Exzess der Verflüssigung finden sich Spuren von Normativität und Legitimisierung, einer übergeifenden Ordnung – es geht darum, jene Beziehungen herzustellen, die die Legitimität dieser Ordnung überschreiten, zurückweisen. „Und folglich ist diese Kunst eine schmutzige Para-Kunst, eine Kunst als Wissenschaft, als Philosophie, als Soziologie, als Politik etc., die außerkünstlerische Kräfte infiltriert, um fremde (Immun-)Systeme zu unterlaufen. Diese Art von Kunst ist eine Möglichkeitsform, die gleichzeitig (!) Kunst sein, etwas anderes und Kunst sein oder auch nicht Kunst sein kann.“29

*Erstabdruck in: Klaus Thoman (Hg.), Thomas Feuerstein. Outcast of the Universe, Wien 2006, S. 13 - 23.

  1. Paul Feyerabend, Wissenschaft und Kunst, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1984, S. 40.
  2. Thomas Feuerstein, „Plus ultra. Zwischen Ekstase und Agonie“, in: Stefan Bidner, Thomas Feuerstein (Hg.), Plus ultra. Jenseits der Moderne?/Beyond Modernity?, Revolver: Frankfurt 2005, S. 139 – 166, S. 140.
  3. Zygmunt Bauman, Flüchtige Moderne, Suhrkamp: Frankfurt/Main 2000, S. 11.
  4. Ebd., S. 12.
  5. Ebd., S. 14.
  6. Vgl. Thomas Feuerstein, http://www.myzel.net/biophily/dka/text_de.html
  7. Lawrence Grossberg, „Was sind Cultural Studies?“, in: Karl H. Hörning, Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Suhrkamp: Frankfurt/Main 1999, S. 43 – 83, S. 62, 63, 65.
  8. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 140.
  9. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 146.
  10. Zygmunt Bauman, op. cit., S. 12.
  11. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 148.
  12. Dick Hebdige, „Heute geht es um eine anti-essentialistische Kulturproduktion vom DJ-Mischpult aus“, in: Kunstforum International 135/1996-97: „Cool Club Cultures“, S. 160 – 164, S. 163.
  13. Vgl. Gilles Deleuze, Félix Guattari, Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Merve: Berlin 1992, S. 17.
  14. Donna Haraway, Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Campus: Frankfurt/New York 1995, S. 51.
  15. Claus Offe, zit. n. Zygmunt Bauman, op. cit., S. 11.
  16. Stuart Hall, „Die zwei Paradigmen der Cultural Studies“, in: Widerspenstige Kulturen, op. cit., S. 13 – 42, S. 35.
  17. Thomas Feuerstein, http://www.myzel.net/biophily/dka/text_de.html
  18. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 165.
  19. Ebd.
  20. Ebd., S. 166.
  21. Steven Shapiro, Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne, Bollmann: Mannheim 1997, S. 18 – 19.
  22. Ebd., S. 23.
  23. Judith Butler, „Überarbeitungen der Macht. Linda Singer und die Logik des Epidemischen“, in: BüroBert, minimal club, Susanne Schultz (Hg.), copyshop 2. geld.beat.synthetik. Abwerten bio/technologischer Annahmen, Edition ID-Archiv: Berlin 1996, S. 112 – 126, S. 118.
  24. Ebd., S. 123.
  25. Zygmunt Bauman, op. cit., S. 83.
  26. Stuart Hall, „Kodieren/Dekodieren“, in: Roger Bromley, Udo Göttlich u. a. (Hg.), Cultural Studies, Lüneburg 1999, S. 92-110, S. 93.
  27. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 163.
  28. Donna Haraway, op. cit., S. 67.
  29. Thomas Feuerstein, „Plus ultra“, a. a. O., S. 166.

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