Durch die Eingabe eines Begriffes in das Dialogfeld werden über Google Bilder gesucht und aus dem Internet geladen, die dem Myzel als „Nahrung“ dienen. Das Pilzgeflecht folgt in seinem Wachstum den Strukturen der Bilder und macht diese flüchtig sichtbar, bevor sie zersetzt und kompostiert werden. Das Myzel generiert einen fließenden Prozess, der die Wahrnehmung zwischen abstrakten Mustern, Zeichen und ikonischen Formen gleiten lässt.
Serpula lacrymans in Nährlösung (links oben) und in Petrischale, 2002
Inkubation von Fichtenholz mit Serpula lacrymans, 2002
Thomas Feuerstein, One and No Chair (rechts)
Thomas Feuerstein, Schreibtisch Philipp Mainländer (links)
Schreibtisch Philipp Mainländer, Serpula lacrymans, Myzel auf Fichtenholz, 2003
Schreibtisch Philipp Mainländer, Serpula lacrymans, Myzel auf Fichtenholz, 2004
Schreibtisch Philipp Mainländer, Serpula lacrymans, Myzel auf Fichtenholz, 2005
Schreibtisch Philipp Mainländer, Serpula lacrymans, Fruchtkörper auf Fichtenholz, 2006
Klassische Ästhetik widmet sich der Wahrnehmung und Hervorbringung von Ordnungen, Proportionen und Strukturen. Im Gegensatz dazu beschäftigt sich die Ästhetik der Entropie mit der Vergänglichkeit von Information und Materie.
Ordnung geht nach dem Entropiegesetz mit der Zunahme an Unordnung einher[1]. Nimmt in einem System die Ordnung zu, nimmt sie in einem anderen ab. Zivilisation und Kultur definieren sich als Kampf gegen die Entropie und zielen auf die Schaffung von Werten. Je größer die Anstrengungen die Entwertung und Auflösung einzudämmen, desto stärker potenzieren und beschleunigen sich die entropischen Wirkungen. Information und materielle Gegenstände unterliegen der Abnutzung, des Zerfalls und der Verwesung. Sie steuern aus dem Sein dem Nichtsein entgegen. Je höher die Dämme der Moral, der Technologie, der ökonomischen Kapitalakkumulation, desto verheerender die drohenden Zerstörungen.
Die Ästhetik der Entropie folgt nicht der Negentropie, sondern der „Negontologie”. Ihr Untersuchungsgegenstand ist die Auflösung der Dinge und des Seins.
In der Biologie findet sich die Unterscheidung zwischen Produzenten und Destruenten. Zu Zweiteren zählen Pilze, die organisches Material abbauen und zersetzen. Das Myzel der Pilze bildet im Gegensatz zu Informationsnetzen Flechtwerke der Entropie. Die weitläufigsten Myzelien bringt der Dunkle Hallimasch hervor, der etwa in Oregon einen Landstrich von mehreren Quadratkilometern durchwächst und mit seiner auf 600 Tonnen geschätzten Biomasse das vermutlich größte Lebewesen ist.
Der Echte Hausschwamm (lat. Serpula lacrymans), der aufgrund seiner Tröpfchenbildung auf den Hyphen die lateinische Bezeichnung „der tränende Pilz” erhalten hat, zersetzt durch Lignin- und Zelluloseabbau Holz. Ausgehend von feuchten Kellerräumen wächst sein Myzel unbemerkt durch Mauern und breitet sich in Decken- und Dachbalken von Häusern aus. Wird der Pilz auf der Suche nach neuer Nahrung an Gebäudeoberflächen sichtbar, ist die Bausubstanz bereits stark geschädigt und bisweilen droht akute Einsturzgefahr [2].
Serpula lacrymans gilt als Kulturschädling, der Gebäude und Mobiliar angreift. In diesem Sinne agiert er als Entropiebeschleuniger, als radikales Individuum, Terrorist und Saboteur, der zivilisatorische Werte stört und zerstört.
Die Arbeit One and No Chair nimmt im Titel auf die Installation One and Three Chairs von Joseph Koshut Bezug. Koshuts Arbeit illustriert eine Passage aus Platons Der Staat und thematisiert die Relationen zwischen Sprache, Bild und Referent[3]. Die Arbeit One and No Chair geht dagegen von einem kulturellen Artefakt und informatisierten Stück Materie aus, das von Serpula lacrymans zersetzt und aufgelöst wird. Im Mittelpunkt steht nicht die Idee oder Information des Stuhls, sondern der Prozess der Dematerialisierung und Auflösung der Form. Der Stuhl, der in sich die Möglichkeit birgt, nicht mehr ein Stuhl zu sein, wird zu einem Übergangsobjekt des Verfalls. Er verweist auf eine universelle Logik des Lebens und entzieht sich kategorialen Ordnungen der klassischen Philosophie, indem Besitz, Identität und Ontologie der Kompostierung zugeführt werden.
Joseph Koshut, One and Three Chairs,
1965. Stuhl, Fotografie, Text
Philipp Mainländer (1841–1876) entwickelte in seiner zweibändigen Philosophie der Erlösung eine Metaphysik der Entropie. Aufbauend auf die Lektüre Schopenhauers und dessen aphoristische Rede vom Leben als Schimmelüberzug des Planeten geht Mainländer von einem unbeeinfluss-baren Willen aus, der von Anbeginn auf Abnutzung und Zerfall abzielt. Der gesamte Kosmos bewegt sich aus dem Sein in Richtung Nichtsein. Das Leben und all seine schöpferischen Potenzen sind Mittel zum Zweck, Verschleiß und Abrieb schneller herbeizuführen und den Zustand des Nichtseins zu erreichen. Die Philosophie Mainländers wehrt sich nicht gegen den Verlust des Seins, sie begibt sich nicht auf die Suche nach zeitlosen Werten, sondern denkt bedingungslos die Kadaverisierung der Welt, bei der moralische Dualismen von gut und böse verschwinden. Sie bejaht die entropische Fließrichtung des Existierenden und räumt mit allen Konservativismen und retardierenden Momenten auf, um dem Strom des Ruinösen freie Bahn zu gewähren.
Illustration der Memex von Vannevar Bush,
LIFE Magazine, 1945
Schreibtische sind Stätten der Text- und Kulturproduktion, an denen Schlachten gegen die Entropie geschlagen werden. Seit Entwicklung von Informationstechnologien verschmilzt der Symbolarbeiter mit dem Schreib- tisch, der sich über den elektronischen Desktop virtualisiert. Paradigmatisch steht hierfür Vannevar Bushs Memex (Memory Extender), eine Maschine in Form eines Schreibtisches, der elektromechanische Kontrolleinheiten und Mikrofilmgeräte in sich vereinen wollte. Das Konzept dieses fiktiven Analogrechners als „vergrößerter Anhang des Gedächtnisses” antizipierte Hypertextstrukturen und myzelhafte Verlinkungen von Daten. Im Sinne der Metaphysik der Entropie verkehrt die Arbeit Schreibtisch Philipp Mainländer dieses Prinzip und transformiert den Memory Extender in einen Entropy Extender.
Wir sind keine Alltagsmenschen und müssen teuer bezahlen,
daß wir an der Tafel der Götter speisen.
Philipp Mainländer
One and No Chair und Schreibtisch Philipp Mainländer bereiten den Nährboden für einen parasitären Pilz, der im Kontext der Kunst als Informationsparasit Möbel verschlingt und ganze Gebäude zum Einsturz bringt.
Unter Parasit (griech. pará-sitos: neben, mit oder bei einem anderen essend; lat. parasitus: Tischgenosse) verstand man in der Antike einen geachteten religiösen Beamten, der zusammen mit den Priestern und Göttern das kultische Opfermahl einnimmt. Parallel dazu traten Parasiten als weltliche Unterhalter auf, die – vergleichbar der Rolle des Künstlers, Dichters und Intellektuellen in der abendländischen Salonkultur – herrschaftliche Gastmähler durch ihre Anwesenheit gesellig gestalteten. Der Niedergang des Begriffs Parasit im Sinne des „arbeitsscheuen Lebenskünstlers” beginnt in der griechischen Komödie, wo er auf Menschen angewandt wurde, die auf Kosten anderer leben. In dieser Bedeutung wird der Begriff im späten Mittelalter aus dem Lateinischen entlehnt.
In die Naturwissenschaften hält der Begriff 1646 mit Sir Thomas Browne Einzug, der Misteln als „parasitical plants” beschreibt. Mit den Seuchen des 18. und 19. Jahrhunderts drängen Parasiten ins medizinische Bewusstsein und werden zum universellen Synonym für alle erdenklichen Krankheiten. Sie gelten als Verursacher von Pocken, Masern, Röteln, Scharlach, Typhus, Influenza, Ruhr, Cholera oder Pest. Aufgeladen mit Assoziationen an Eingeweidewürmern und Seuchen wurde der Begriff erneut auf Menschen angewandt und benannte vermeintlich „defekte Menschen”, welche die soziale und kulturelle Symmetrie stören. Johann Gottfried Herder erklärte etwa die Juden zu einer „parasitären Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen” und mit Gründung der christlich-sozialen Partei 1878 in Deutschland, wo der moderne Antisemitismus in Erscheinung trat, wurde schließlich der „jüdi- sche Parasit” kreiert. Seitdem dienen Parasiten zur Beschreibung sozialer Probleme und bezeichnen „Schädlinge am Volkskörper”. Politik wird zu einer „medizinischen” Disziplin, die den Staatskörper vor „Sozialschmarotzern” reinigt und heilt. Die metaphorische Verwendung des Begriffs Parasit kehrt mit Michel Serres (Le parasite, 1980) in die Philosophie und mit Richard Dawkins (The Selfish Gene, 1976) und seiner Vorstellung der „egoistischen Gene” in die Biologie zurück. 1982 publizierte der Mitentdecker der DNS, Francis H. C. Crick, gemeinsam mit L. E. Orgel in der Zeitschrift Nature den viel diskutierten Artikel Selfish DNA: the Ultimate Parasite, in dem jener Teil der DNS, der keine Proteine produziert, als „junk” definiert wird.
Thomas Feuerstein, One and No Chair, 2002 - 2008. Holz, Serpula lacrymans, Plexiglasvitrine, Edelstahl, Aluminium, 170 x 65 x 65 cm. Courtesy Galerie Elisabeth & Klaus Thoman.
[1] Der Begriff Entropie (griech. entrepein umkehren) wurde 1865 von Rudolf Clausius (1822 - 1888) als Maß für die Umkehrbarkeit eines thermodynamischen Vorganges eingeführt. Da bei der Umwandlung Energie verloren geht, beschreibt das Entropiegesetz im Sinne des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, dass Materie und Energie sich ohne Eingriff nur in eine Richtung, von einem geordneten in einen ungeordneten Zustand verändern.
[2] Der Pilz wird bereits im Buch Moses (14, 33 - 55) beschrieben.
[3] Platon, Der Staat, 597b: „Es gibt also dreierlei Stühle. Der eine ist der wahrhaft existierende;” (...) „Der zweite ist das Werk des Tischlers.” (...) „Der letzte der des Malers?”