Thomas Feuerstein
Der soziographische Kick

Soziale Physik

In Anlehnung an die Himmelsmechanik und Wahrscheinlichkeitstheorie des Astronomen und Mathematikers Pierre Simon de Laplace entwickelte dessen Zeitgenosse und vermutlich auch Schüler Adolphe Quêtelet die „Soziale Physik“. Laplace, der den gesamten Weltmechanismus auf mathematische Funktionen zu reduzieren hoffte, um alle Zukunftsereignisse vorhersehbar zu machen, inspirierte Quêtelet zu seiner Figur des „l’homme moyen“, dem berechenbaren Durchschnittsmenschen. Während Laplace von der Vorstellung ausging, dass ein Dämon Lage, Position und Geschwindigkeit aller im Kosmos vorhandenen physikalischen Teilchen zu einem bestimmten Zeitpunkt messen müsste, um vergangene und zukünftige Zustände determinieren zu können, ging Quêtelet in seiner „mécanique sociale“ von menschlichen Teilchen aus. In seiner 1835 erschienen „Physique Sociale“ beschreibt Quêtelet die quantitativen Gesetzmäßigkeiten des sozialen Geschehens: „Vor allem müssen wir vom einzelnen Menschen abstrahieren und dürfen ihn nur mehr als einen Bruchteil der ganzen Gattung betrachten. Indem wir ihn seiner Individualität entkleiden, beseitigen wir all das, was nur zufällig ist; die individuellen Besonderheiten, die wenig oder keinen Einfluß auf die Masse haben, verschwinden dann von selbst und lassen uns zu allgemeinen Ergebnissen gelangen.“[1] Dies bringt ihn zum Schluss: „Mit den moralischen Fähigkeiten steht es (...) ungefähr ebenso wie mit den physischen, und man kann sie unter der Voraussetzung schätzen, daß sie im Verhältnis zu ihren Wirkungen stehen.“[2] Quêtelets mathematische Mittelwert-Verfahren sind bis heute im Versicherungswesen in Gebrauch und bilden indirekt die Voraussetzung für den modernen Sozialstaat. Dass seine sozialstatistischen Methoden auch die Gastheorie James Clerk Maxwells und die Thermodynamik Ludwig Boltzmanns beeinflusst haben, ist nicht lückenlos gesichert, gilt aber als wahrscheinlich, womit die Korrespondenz zwischen Soziologie und Physik eine wechselseitige Resonanz aufweist.

Soziale Geographie

Quêtelet sammelte, korrelierte und visualisierte statistische Daten in Form von Graphen und Karten. Indem er beispielsweise die Verbrechensraten oder die Schulbildung kartographierte, folgte er einer Leidenschaft seiner Zeit, Mappierungen als Registrier- und Projektionsflächen jeglicher Art zu nutzen. Das seit der Neuzeit und der mit ihr anbrechenden frühen Globalisierung einhergehende Interesse für Geographie wandelte sich mit den voranschreitenden Entdeckungen und der Löschung unbekannter Gebiete. Die Terra incognita lag nicht mehr jenseits der Ozeane, sondern in den unbekannten Regionen von Psyche und Gesellschaft. Seit dem Barock übernahm die Kartographie Positionen sinnhafter Daseinsauslegung, indem reale Gegebenheiten mit imaginären Wünschen und Zielen überlagert wurden. Derartige Kartenwerke, wie etwa die Tabula Schlaraffia des Johann Baptist Homann, wo Äquator, Wendekreise und Pole einem moralisierenden Zweck untergeordnet werden, markieren den Funktionswechsel der Geographie. Nach Turgot und Kant sollte ab nun die Geographie wie Philosophie, Geschichte, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften zu den Moralwissenschaften gezählt werden.

Wie in vorhergegangenen Epochen erfuhr die Kartographie im 18. und 19. Jahrhundert einen Aufschwung, als neues Wissen und dessen Verarbeitung zur Disposition stand. Die Umrüstung der Geographie zu einer politisch-moralischen Wissenschaft gebraucht die Karte als Instrument der Ordnung, Sicherheit, Überwachung und Transparenz, mittels dem sich die herrschende Macht Übersicht und Kontrolle verschafft. Indem Karten nicht als verkleinerte Doubles der Wirklichkeit, sondern als Projektionsflächen und Masterpläne fungieren, gehen sie über die Transformation von Welt in Oberfläche und Bild hinaus und spiegeln ein aus Rationalismus und Aufklärung gespeistes Begehren. Karten ordnen nicht nur Kenntnisse, sie unterziehen Erfahrungen und Daten einer Neustrukturierung. Als soziale Baupläne übernehmen sie gesellschaftsnormierende Funktionen und werden in gewandelter Form zum Projekt einer Soziographie, die heute durch Innovationen elektronischer oder biometrischer Technologien in ein neues Stadium eintritt.

Soziographie

Der inzwischen selten gebrauchte Begriff Soziographie wurde vom niederländischen Soziologen Rudolf Steinmetz Anfang des 20. Jahrhunderts geprägt und in Deutschland von Ferdinand Tönnie übernommen, der über die Errichtung „soziologischer Observatorien“ die Einarbeitung empirisch ermittelter und statistisch aufbereiteter Fakten für die systematische Soziologie forderte. Aufbauend auf die empirische Sozialforschung eines Quêtelet ging es um die Zusammenführung quantitativer und qualitativer Verfahren zur Sichtbarmachung von Sinnstrukturen. Quêtelets „Moralstatistik“ oder jene in Großbritannien und in den USA gebräuchlichen „Surveys“ und „Spot maps“, die primär amtlich erhobene Daten in Beziehung setzten, wurden durch Methoden ergänzt, um „die Lücke zwischen den nackten Ziffern der Statistik und den zufälligen Eindrücken der sozialen Reportage“ auszufüllen.[3] Dafür brauchte es eine „integrale Soziologie“ (Lazarsfeld), die statistische Daten und Techniken des Samplings mit Interviews, Beschreibungen von Einzelfällen und speziellen Untersuchungen verknüpfte, die psychologische und habituelle Parameter wie etwa die Gehgeschwindigkeit betrafen. Das Zentrum der Soziographie bildete die vom Mathematiker Paul Lazarsfeld und von der Psychologin Charlotte Bühler in den späten 1920er Jahren in Wien gegründete „Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle“. Wie der Name vermuten lässt, verwebte das Institut Methoden der Statistik und Psychologie und erhob zunächst über Umfragen Verhaltensmuster und Konsumgewohnheiten bezüglich Lebensmitteln, Toilettartikeln oder Kleidern. Nach Lazarsfeld sollte gezeigt werden, „daß komplexe sozialpsychologische Begriffe quantitativ fassbar sind – eine typische Kombination des Einflusses der Bühlers und des logischen Positivismus, repräsentiert durch den ‚Wiener Kreis’“.[4] Damit wandelt die Soziographie, wie Hans Zeisel, ein Mitarbeiter Lazarsfelds ausführt, in den Spuren der „Physique sociale“, indem der „Quêteletsche Gedanke einer die Gesamtheit des sozialen Geschehens umfassenden quantifizierenden Soziographie seiner Vollendung näher gebracht“ wurde.[5] Anfang der 1930er Jahre gesellten sich als Untersuchungsfelder das neue Massenmedium Radio, das Freizeitverhalten und das politisch akute Problem der Langzeitarbeitslosigkeit hinzu. Die Stellung der österreichischen Bevölkerung zur RAVAG (Radio-Verkehrs-Aktiengesellschaft) wurde über zehntausende an Kiosken verteilte Fragebögen erhoben[6] und nach der Schließung einer Textilfabrik in einem östlich von Wien gelegenen Ort wurde die bis heute oft zitierte Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ erstellt. Im Hintergrund stand die politisch brisante Frage, ob Massenarbeitslosigkeit zur Radikalisierung oder zur Resignation führt. Da eine gesamte Dorfgemeinschaft betroffen war, schien Marienthal für eine Feldforschung mit klar formulierten Zielen zur Entscheidung der in der Sozialdemokratie umstrittenen Frage prädestiniert. Der soziographische Ansatz des Wiener Instituts war weniger an sozial-topographischen Sonderfällen als an signifikanten Beispielen interessiert, die über eine erweiterte historische Perspektive interpretiert und politisch kontextualisiert werden sollten. Dementsprechend wurden die Erhebungen in Marienthal generalisiert und auf einen gesamtgesellschaftlichen Nenner soziopsychologischer Dynamiken gebracht. Arbeitslosigkeit bringt demnach keine Revolutionäre, sondern paralysierte Subjekte hervor. Lazarsfeld spricht von „müder Gemeinschaft“, „Schrumpfung des psychologischen Lebensraums“ oder „Zusammenbruch der Zeitstruktur“.[7] Nicht der Wille gegen die soziale Ordnung zu rebellieren, sondern Resignation und Apathie sind die Folge und zersetzen Psyche und Gemeinschaft, womit Lazarsfeld zum Schluss gelangt: „Die apathisierende Wirkung der totalen Arbeitslosigkeit hilft rückblickend verstehen, warum die Führer-Ideologie des heraufziehenden Nationalsozialismus so erfolgreich war.“[8]

Als die politische Lage Österreichs für den Austromarxisten Lazarsfeld zunehmend prekär wurde, emigrierte er in die USA, um ein Stipendium der Rockefeller-Stiftung anzutreten.[9]

Biographie

Eine der einflussreichsten Forschungseinrichtungen dieser Zeit war die Rockefeller-Stiftung in New York. Unter dem Primat der Biologie sollten interdisziplinär Physik, Chemie, Medizin, aber auch Soziologie und Psychologie zu einem philanthropischen Projekt der Menschheitsverbesserung integriert werden. Wissenschaft war aufgerufen, ein neues Welt- und Menschenbild in Aussicht zu stellen, um Gesellschaft grundlegend zu erneuern. Eine ganze Generation von Wissenschaftlern, speziell Biochemikern und Molekularmedizinern, ging daraus hervor und prägte das 20. Jahrhundert. Der in den 1930er Jahren vielleicht bekannteste Paradewissenschaftler des Rockefeller-Instituts war Alexis Carell. Ihm gelang die In-vitro-Kultivierung von Hühnerzellen, die er angeblich immortalisierte, um den Beweis für die Möglichkeit des ewigen, unsterblichen Lebens zu erbringen. In seinem Traktat „Man the Unknown“ schlug er vor, dass unsterbliche Gehirne einen Rat der Weisen bilden und Politiker beraten. Diese Langzeitgehirne könnten Erfahrungen akkumulieren und unterschiedliche Ressourcen und Daten des Gesellschaftlichen routiniert verarbeiten.

Derartige Hoffnungen und Vorstellungen, die Menschheitsentwicklung durch Wissenschaft und Technologie zu steuern, standen unter dem Eindruck modernistischer Leitbilder, wie sie vom britischen Statistiker Francis Galton, einem Neffen Darwins, stammten. Galtons Leidenschaft bestand in der Korrelation statistischer, technischer und sozialer Fragen. Im Gegensatz zu seinem Onkel ging Galton von der Unveränderlichkeit des Erbguts aus, das bei der Fortpflanzung gleichsam einer Gaußschen Glockenkurve verteilt wird. Deswegen müsse jede Generation ihre natürliche Elite filtern und fördern sowie am unteren Spektrum der soziogenetischen Kurve die biologisch Minderwertigen selektionieren. Galton visionierte einen eugenischen Idealstaat, den er in Anlehnung an eine Insel in Gullivers Reisen „Laputa“ nannte. Auf Laputa wird keine genetische Dekadenz geduldet und Biologie und Anthropologie verbünden sich zum Zwecke des optimierten Menschen. Der egalitäre Idealismus sollte durch biologische Gesetze verdrängt werden, wofür er 1883 den Begriff „Eugenik“ prägte. Sie wurde als Heil- und Kampfmittel gegen wirtschaftliche Rezession, intellektuelle und physische Mängel, Alkoholismus und schwache Moral propagiert. Der neue Mensch sollte einem Herkules gleich dem eugenisch gesteuerten Auslesemechanismus entwachsen, damit „Menschen Göttern gleich“, wie H.G. Wells, ein Anhänger Galtons, in seiner utopischen Erzählung „Men like God“ schreibt, nach hundert Generationen ohne Krankheiten und Laster ihr Leben verbringen könnten.

Die Eugenik war ein Zukunftsprojekt, das in vielen Aspekten Francis Bacons Vorstellung der neu-atlantischen Wissensgesellschaft entsprach. Die neuen Menschen sollten von vollkommener Gestalt, höherer Moral und überragender Intelligenz sein. In einem geschlossenen Biotop sollten sie einer wissenschaftlichen Ordnung der Zuchtwahl und modernen Erziehung gehorchend reproduziert werden. Obgleich Galton ein spezielles Composite-Verfahren zur Überlagerung von Personentypen gebrauchte, standen nicht der Durchschnittsmensch und seine Bedürfnisse im Mittelpunkt, sondern der Elitemensch „von höherer Artung“. Die Möglichkeit, Inseln als Bioreaktoren sozialbiologischer und sozialpolitischer Utopien zu errichten, wie sie William McDougall mit seiner Insel „Eugenia“ fabulierte, ließen sich nicht literarisch beschränken und waren willkommene Landnahme faschistischer Ideologie. Soziale Parameter wurden auf genetische rückgebunden, womit sich das soziographische Anliegen des Studiums der „sozialen Anatomie“ auf Ebene des biologischen Bauplans erweiterte. Die Eugenik begann dort, wo die Soziographie endete. Sie wollte sich nicht mit der Beschreibung und Analyse sozialer Zustände begnügen, sondern setzte auf biologisch-statistische Einschreibungen in das Erbgut, um eine neue Gesellschaft über einen neuen Menschen zu züchten.

Egographie

Die Soziographie diagnostiziert den Volkskörper und ihr analytischer Blick folgt der Idee des Armaturenbretts zur Beobachtung und Steuerung der Gesellschafts- und Staatsmaschine. Bis heute wird dieses Armaturenbrett laufend mit neuen Analyse- und Kontrollinstrumenten bestückt, womit der Traum von Laplace und die Vorstellung Quêtelets einer universellen Verhaltenspositionierung aller sozialer Teilchen näher rückt.

Als 1890 eine Volkszählung in den USA anstand, bei der man sich gegenüber dem Kongress verpflichtete, wesentlich detailliertere Informationen über die Bevölkerung zu erheben, wurde eine effiziente und schnelle Methode der Auswertung gesucht. Der junge Ingenieur des statistischen Zentralamtes, Hermann Hollerith, entwarf eine auf Papier- beziehungsweise Lochkarten basierende elektromechanische Datenverarbeitungsmaschine, die bereits nach nur zweieinhalb Jahren – ein Drittel der benötigten Zeit der manuellen Auszählung von 1880 – zu einem Endergebnis gelangte. Die Erfolgsgeschichte der 1896 von Hollerith gegründeten Tabulating Machine Company, die 1924 unter Thomas J. Watson in International Business Machines (IBM) umbenannt wurde, ist hinlänglich bekannt. Entscheidend ist die ursächliche Verknüpfung von Informationstechnologie, Statistik und Demographie, die sich seitdem rasant entwickelt hat. Maschinen und ihre Sensoren nehmen heute nicht nur punktuell und sporadisch Messungen vor, sondern alle Punkte im System streben einer permanenten Datenkontrolle zu, die ein universelles Tracking des Konsumenten und Bürgers, seiner Arbeitsmoral, Launen oder Aufmerksamkeitspotentiale anvisiert. Telefonate, E-Mails, Zahlungen mit Kreditkarten, Cookies in Browserprogrammen und dergleichen mehr verzeichnen Spuren sozialer Interaktionen. Sämtliche Tätigkeiten innerhalb eines digital immer enger gewobenen Netzes generieren Daten, die für jeden Verbraucher ein Archiv seiner Gewohnheiten anlegen. Die Einzelperspektiven bilden damit in Summe den Input für den soziographischen Blick elektronisch vernetzter Systeme.

Projekte wie „lifelong log“ von Steve Mann, „MyLifeBits“ von Gordon Bell oder das inzwischen gestoppte „LifeLog“ der Defense Advanced Projects Agency (DARPA) stellen egographische Pilotversuche dar, die weit über amtliche und geschäftliche Vermerke hinausgehen. Umfassende Protokolle menschlichen Verhaltens werden über Videokameras, GPS-Daten oder biomedizinische Sensoren angelegt und erreichen nahezu alle Aspekte des Lebens. Der soziographische Blick wird panoptisch und verfolgt akribisch alle physischen, psychischen und ökonomischen Bewegungen und Befindlichkeiten der einzelnen sozialen Korpuskeln in den Netzen des Kapitals und der Staatssicherheit. Die von der DARPA angestrebte „Total Information Awareness“ rückt in Zeiten des „Patriot Act“ bedenklich nahe an Szenarien, wie sie im Film „Minority Report“ zum Albtraum werden. Die Egographie des Bürgers verdichtet sich zu einem psychogrammatischen Muster, über das zukünftiges Handeln des Individuums interpoliert werden kann und so gleichzeitig der Verbrechensprävention von Einzeltätern als auch in Interferenz der einzelnen Muster untereinander der Prognose makroskopischer Entwicklungen ganzer Gesellschaften dient. Alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ereignisse und Handlungen sind in diesem Stadium vom soziographischen Dämon vorhersagbar und von der Quêteletschen „mécanique sociale“ im Simulationsstadium des Computers berechenbar.

Mediographie

Aber auch ohne Orwellsche Transparenz nehmen in Verbund mit Massenmedien empirisch erhobene Umfragedaten einen wachsenden Stellenwert ein. Die Möglichkeit der Messung menschlicher Verhaltensweisen stimuliert die Begierden von Politikern, Spin Doctors, Trendforschern und CEOs und macht die Demoskopie zur neuen Astrologie der Mächtigen. Im Mittelpunkt steht die Suche nach Mediokrität, von der aus Kontingenz, Nichtwissen und Komplexität zugunsten einer vermeintlich ableitbaren Notwendigkeit reduziert werden kann. Das Geschehen auf der Erde und das Schicksal der Menschen soll aus bestimmten Konstellationen gedeutet und interpretiert werden, wofür die Demoskopie seit den frühen 1940er Jahren aus Meinungsumfragen Prophetien verfasst und Horoskope erstellt. Doch ohne massenmediale Rückkopplungsschleifen wären all diese Verfahren nutzlos, und da der Schwerpunkt auf dem Rückfluss liegt, sind wissenschaftliche Kriterien der Verifizierbarkeit sekundär. Die Wirkung liegt im Glauben, weshalb für die Systemtheorie die Selbstkorrektur eines operativ geschlossenen Systems im Vordergrund steht und nicht die Evidenz der in Zahlen gegossenen Meinungen. Die Komplizenschaft zwischen Massenmedien und Meinungsforschung erzeugt Stimmungen und Atmosphären, die primär Common Sense schaffen und weniger diesen messen. Meinungsforschung liefert Zuschreibungskonzepte für zerstreute Subjekte, offeriert Identitätsangebote und stiftet letztlich sowohl für die Auftraggeber von Umfragen als auch für die Befragten – für Wähler und Politiker, für Konsumenten und Produzenten – gleichzeitig Sinn und verwirrendes Rauschen. Die Frage nach der Validität als auch nach den Inhabern, Drahtziehern oder Manipulatoren von Meinung tritt in den Hintergrund, da die beteiligten Interessen sich im vorauseilenden Gehorsam des zu diagnostizierenden Zustands wechselseitig konstituieren. Nach Siegfried J. Schmidt leitet dies Prozesse der Stereotypisierung ein: „Je weniger Bereiche unserer Wirklichkeitsvorstellungen von direkten und nicht medial vermittelten Erfahrungen geprägt sind, desto wichtiger werden Meinungen und Vorstellungen, die wir uns auf Grund der Nutzung von Medienangeboten von Personen, Institutionen, Parteien, Städten, Ländern und Völkern machen. Gerade weil wir uns diese Meinungen und Vorstellungen unter Nutzung von Medienangeboten machen, unterstellen wir, daß auch andere sich ähnliche Meinungen und Vorstellungen machen, wir also durchaus sozial akzeptabel operieren, wenn wir unsere eigenen Meinungen und Vorstellungen als kollektives Wissen einschätzen. Kurzum: Medial vermittelte Stereotype liefern Individuen wie gesellschaftlichen Gruppen im öffentlichen Diskurs schematisierte Meinungen in Gestalt von fiktiv unterstelltem kollektiven Wissen.“[10] Annahmen gründen mediale Setzungen, die wiederum zur Voraussetzung von Meinungen werden. Medienangebote von Film und Fernsehen bis Theater und Kunst sind sprichwörtlich gut gemeint, das heißt publikumswirksam und erfolgreich, wenn sie den Gesetzen von Durchschnitt und Mittelmaß entsprechen. Dies kennzeichnet den Zustand von Mediographie, dem Zusammenspiel demographischer Erhebungsmethoden mit massenmedialem Sendungsbewusstsein.

Kunst und Soziographie

Im Dispositiv der Massenmedien schrumpft der freie Wille sozialer Korpuskel zu einer romantischen Illusion, mit der gute Geschäfte in Unterhaltung und Wirtschaft gemacht werden. Selbststilisierungsangebote, die Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit versprechen, feiern Konjunktur, da der Individualismus zum Konformismus geworden ist, wie selbst die Trendforschung erkennen muss. Trends sind vom Kapital getriebene Bewegungen, die Defizite nicht verwirklichbarer Lebenskonzepte kompensieren. Überspitzt formuliert sind Trends Methadonprogramme für gescheitertes Suchtverhalten nach Leben. Was bleibt, ist ein leeres Subjekt als Untersuchungsobjekt der Soziographie und als Bühne für Inszenierungen der Kunst.

Das Interesse an subjektiven Befindlichkeiten und Einzelschicksalen findet sich in der Soziographie in Adolf Levensteins Erhebungen zur „Arbeiterfrage“, in der Persönlichkeit und Seelenleben das zentrale Anliegen bilden. Durch eigenwillige Fragestellungen wurden psychische Momente des durch die Industriekultur um 1900 entfremdeten Arbeiters erkundet: „Gehen Sie oft in den Wald? Was denken Sie, auf dem Waldboden liegend, ringsumher tiefe Einsamkeit?“ Die Art der Fragestellung entbehrt dabei vielleicht wissenschaftlicher Kriterien, besitzt aber durchaus eine gewisse poetische Qualität, die auf einen Symbolarbeiter wie Henry D. Thoreau zugeschnitten erscheint. Bereits ein halbes Jahrhundert zuvor lieferte dieser in seinem Journal Walden ein entsprechendes Protokoll, das Inventar, Budget und subjektive Empfindungen des Aussteigerlebens auflistete. Thoreaus Versuchsanordnung wollte zeigen, wie die freie Entfaltung der Persönlichkeit mit geringstem Aufwand erreicht werden kann. Er war sein eigener Proband und zählt zu den ersten Literaten, die soziographische Ansätze in ihre Arbeit einfließen ließen. Wenn er die Kosten für Bretter, Nägel oder Rübsamen aufzählt, erinnert seine Methode an den vom französischen Soziologen Frédéric Le Play entwickelten Gedanken des Inventars. Le Play, der als Zivilisationsflüchtiger bei Bauern oder einem Kärntner Köhler lebte, untersuchte in Familienmonographien das einfache Landleben, indem er vor allem die Budgets der Haushalte registrierte. Was die Zeitgenossen Thoreau und Le Play verbindet, ist die konfliktreiche Überlagerung von Rationalismus und Romantik, die zumindest für ersteren noch die Alternative zwischen autonomer Verwaltung und staatlicher Kontrolle aufzeigte. Thoreau agierte als Soziograph in eigener Sache und stellt einen frühen Modellfall für künstlerische Gegenentwürfe zu etablierten Lebensformen dar, wie sie in der Kunst des 20. Jahrhunderts erprobt wurden.

Jede Kunst, die nicht im Raum sozialer Referenzlosigkeit operiert, reflektiert oder verzeichnet Momente des Gesellschaftlichen. Dem soziographischen Blick der Gegenwartskunst bieten sich im Wesentlichen zwei Perspektiven, wobei die eine dem subjektiven Blick folgend Singularität bearbeitet und die andere dem modernistischen Prinzip der Totalübersicht nachkommend gesellschaftliche Zusammenhänge und Dynamiken behandelt. Erstere untersucht entweder Subjekte in bestimmten Kontexten und Lebenszusammenhängen oder performiert Selbstdarstellungen, erprobt Extreme am eigenen Körper, nimmt die Figur des Künstlers als exemplarisches Sample und sucht nach alternativen Existenzformen. Zweitere beschäftigt sich mit Zusammenhängen und Relationen von Subjekten in bestimmten Räumen und Strukturen.

Besonders elektronische Räume digitaler Vernetzung konstellieren ein kulturelles Dispositiv, das gleichzeitig neue Verbindungen und Barrieren schafft. Diese Ordnungen, Standards, aber auch Transformationen sind Gegenstand einer medialen Kunst, die Soziographie als Mapping aktualisiert, indem systemische Konditionen und Verhaltensweisen von Nutzern in diagrammatische Bildwelten projiziert werden. Aus kunsthistorischer Sicht wandelt ein überwiegender Teil dieser Datenwerke auf modernistischen Pfaden: Informationen werden ästhetisch recodiert, abstrakte Strukturen visualisiert, medienimmanente Aspekte thematisiert. Empirische Soziologie und Datenepistemologie bündeln sich zu einem Blick auf verborgene Formationen von Kommunikationsbedingungen. Wie ein soziographischer Blick auf diese Systeme erfolgen kann, der das Künstlersubjekt in die Lage versetzt, jene die soziale Matrix bestimmenden materiellen, ökonomischen, politischen und semiotischen Instanzen zu adressieren, um eine Vernetzung von Singularitäten abseits mediokrer Verschaltung anzudenken, bleibt abzuwarten.

[1] Adolphe Quêtelet, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914, S. 103.
[2] Ebenda, S. 141.
[3] Paul F. Lazarsfeld, „Vorspruch zur neuen Auflage“, in: Maria Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt 1975, S. 15.
[4] Ebenda S. 20.
[5] Hans Zeisel, „Geschichte der Soziographie“, in: Maria Jahoda, Paul F. Lazarsfeld, Hans Zeisel, Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch, Frankfurt 1975, S. 141.
[6] Die erfolgreiche Hörerstudie gilt als erste Untersuchung eines Massenmediums. Lazarsfeld entwickelte „Koeffizienten der Meinungsrichtung“, die über „Kreuzvalidierung“ unterschiedliche Parameter wie Berufsstand, Wohnort oder Hörgewohnheit untereinander in Beziehung setzten. Da sich die Hörer von Kultursendungen wie Sinfonien und Opern belästigt fühlten und sich mehr Unterhaltungsmusik im Programm wünschten, überstieg der Rücklauf der Fragebögen die Erwartungen. Von etwa 400 tausend Radioabonnenten retournierten 38 tausend die Bögen.
[7] A.a.O. S. 17.
[8] Ebenda S. 22f.
[9] Lazarsfeld wertete dort zunächst für Max Horkheimer Fragebögen aus und ab 1937 leitete er das erste amerikanische Radioforschungsprojekt, für das er Theodor W. Adorno als „music director“ gewann. Im Rahmen des „Princeton Radio Research Project“ entwickelte er basale demoskopische Methoden, was ihm den Ruf an die Columbia University verschaffte, wo er gemeinsam mit Karl Merton die New Yorker Schule der empirischen Sozialforschung begründete.
[10] Siegfried J. Schmidt, Zwiespältige Begierden. Aspekte der Medienkultur, Freiburg im Breisgau 2004, S. 62f.

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