Volkskultur rekodiert

[...] Das Boot lag ruhig an der Mole. Jacques und Hans schmierten den Tauchkompressor und Kapitän Fernandez fluchte im Maschinenraum. Seine Worte klangen von Kautabak und Dieseldampf verschluckt. "Halts Maul, du verdammte Tonta (spanisch: Schlampe)! Wenn ich noch einen falschen Ton von dir höre, setze ich dich auf Grund!" Lotte schlichtete gemeinsam mit dem kleinen Schiffsjungen Pedro Dosenschinken der Marke Spam in der Kombüse. Ihr blondes Haar und knappes Bikinihöschen machten den Jungen fast verrückt. Das Expeditionsteam war mit den Vorbereitungen so gut wie fertig, es fehlten nur noch 6000 Liter Diesel und Professor Leviath, der am nahe gelegenen Strand mit der Untersuchung einer Roten Staatsqualle im Laborzelt beschäftigt war. Es war gleich elf Uhr und die Sonne stach unerbärmlich auf die Planken. Die Stimmung an Bord war nervös und drängte auf Ablegen. Alles wartete auf Leviath, der nun endlich seine Ausrüstung im Laborkoffer zu verstauen begann und nach einem letzten nachdenklichen Blick aufs Meer Richtung Boot schritt. Leviath war ein emeritierter Meeresbiologe aus Monterey. Sein wallendes schwarzes Haar, das er offen trug, reichte ihm bis weit unter die Schultern. Er pflegte es mehrmals täglich mit von ihm selbst aus Seetang extrahierten Proteinen, wodurch es strähnig und fettig in der Sonne glänzte. Leviath war ein Exzentriker, der mit seiner umstrittenen Polypentheorie die Fachwelt spaltete und nach einem Selbstversuch mit transgenem Molluskengewebe der akademischen Laufbahn den Rücken kehren mußte. Kaum hatte er die Reling erreicht, küsste ihn Lotte leidenschaftlich. Ihre Hand verschwand unter seinem offen getragenen Hawaiihemd und glitt langsam in seine eng geschnittene Neopremhose. Der heisse schwarze Gummi auf seiner Haut weckte ihn ihr Gefühle, doch Leviath interessierte nur der Stand der Dieseluhr. Schnell tippte er noch die letzte Daten in sein Notebook und rief Pedro zu. "Mach die Leinen los, wir stechen in See!" Fernandez schaute mürrisch von der Brücke und steuerte die Apocalypso behäbig aus dem kleinen öligen Hafenbecken. Lotte stand achtern und ihr Haar wehte im Wind. Sie zog sich ihr Bikinioberteil aus und schmierte ihre kleinen festen Brüste mit Kokosöl ein. Lotte war Softwareingenieurin und stammte ursprünglich aus Quebec. 1992 holte sie mit der kanadischen Schwimmstaffel den nordamerikanischen Meistertitel im Flußtriathlon. Damals lernten sich auch Lotte und Leviath das erste Mal kennen, der anläßlich der Siegerehrung als messianischer Festredner wieder einmal vergeblich Publikum für seine Polypentheorie zu finden hoffte. Jahre später führte sie ein Forschungsprojekt in der Sargassosee zusammen, wo sie nach einem Schiffbruch über zwei Wochen einsam auf einer Rettungsinsel auf offener See es trieben. Seitdem waren sie ein Team, das gemeinsam mit den beiden Assistenten Hans und Jacques Projekte in allen Weltmeeren betreute.

Dieses Projekt sollte sie zu den indischen Nikobaren führen. Das aus mehreren tausend Inseln bestehende Archipel war militärisches Sperrgebiet, was Leviath aber nicht von seiner fixen Idee den ultimativen Beweis für seine Polypentheorie zu finden abbringen konnte. Die Küste verschwand langsam im tropischen Dunst und die Apocalypso schaukelte im Rhythmus der Dieselmotoren auf Kurs Südsüdost. Die Stimmung an Bord war angespannt, denn alle wußten, dass diese Fahrt keine gewöhnliche werden würde. Schweigsam erledigte jeder wie in Trance seine Aufgaben. Fernandez leerte die zweite Flasche Bourbon und Jacques und Hans überwachten am Monitor des Echolots die Untiefen der von Seemännern so gefürchteten Gewässer. Pedro und Lotte sollten am Bug Ausschau nach Treibmienen halten, alberten aber stattdessen lieber herum und bespritzten ihre nackte Haut mit Dosenbier. Leviath arbeitete unter Deck an seinem Hammerhead Notebook, das über Satellit mit über 45 von ihm selbst installierten Tiefseeservern verbunden war. Mehrmals täglich chattete er mit seinen Freunden im Meer, den Delfinen, die über ein logosyntaktisches Interface in die Lage versetzt waren sowohl untereinander als auch mit Leviath zu kommunizieren. Der Aufenthalt in der Kajüte wurde zunehmend stickiger. Die schwüle Hitze und der knarrende Stahlrumpf trieben ihn zurück auf Deck, wo er Lotte und Pedro erspähte. "Mensch Lotte, schweint hier nicht so herum, ihr gefährdet unsere ganze Mission!" Die Oberlippe bis zur Nasenspitze hochziehend blickte Lotte herüber. "Nein, das stimmt nicht", entgegnete sie spontan. Die kleine Schnute stand dabei keine Sekunde still und rieb sich die Schenkel. Leviath befahl ihr mit einem strengen Blick in die Kajüte hinabzusteigen. Im dämmrigen Licht ihrer Koje streifte seine Hand flüchtig über ihre harten Nippel. Mit einer zärtlichen Bewegung schlüpften seine Finger in ihr Höschen und spalteten ihre Lippen. Lotte umfaßte seine Hoden und begann im Takt der 9-Liter-Maschine an seinen Eiern zu zerren. Seine Eichel, die sich in ihren Nabel presste, leuchtete rot. Seine starken Hände umklammerten jetzt ihre Popacken und mit einem festen Ruck hob er ihren zierlichen Körper in die Hängematte. Durch das grobmaschige Netz quoll üppig ihr rosa Fleisch. Ein schriller Signalton unterbrach die prickelnde Szene. In die Chatbox hatte sich Flipper der kluge Delfin eingeloggt und berichtete über die neuesten Ereignisse auf den Nikobaren. Ein prominenter österreichischer Politiker war dort gerade mit einem Tragflügelboot eingetroffen, um auf Swastika Island eine Abordnung von Surfnazis am runden Atoll zu versammeln. Swastika war die Fluchtburg hochdekorierter ehemaliger Nazioffiziere und Raketentechniker aus Peenemünde. Am Ende des Zweiten Weltkrieges waren sie mit Raketenboten auf der Suche nach den letzten Ariern nach Madras gelangt. Der Weisenrat der südostindischen Provinz Tamil Nadu verweigerte ihnen aber unter Führung von Cybaba Asyl, woraufhin sie im labyrinthischen Inseldschungel der Nikobaren Unterschlupf fanden. Aus Mangel an Frauen implantierten sie sich in den Mangrovensümpfen Gewebe von polysaprobionten Organismen. Nach einigen Fehlversuchen entstanden polyphyletische Lebewesen, die ein Hybrid aus Mensch und Polyp vorstellten. Ihre Fortpflanzung organisierte sich durch Knospung und nach nur wenigen Generationen waren sie in der Lage Medusen als selbständige Habitusform abzuschnüren. Diese Medusen piratierten seitdem als sogenannte Surfnazis den indischen Ozean. Leviath zerquetschte wütend die halbvolle Bierdose in seiner Faust. "Verdammt, dieser Ösi hat uns abgehängt. Wir müssen das Syndikat zerschlagen bevor es die Weltherrschaft an sich reißt. Fernandez, volle Fahrt, lass die Kolben rasseln!" "Ei, Ei, Professor!" "Ei, Ei?", fragte Lotte verdutzt, die noch immer lasziv in der Hängematte kauerte. "Lotte" sprach Leviath aufgeregt, "mach dich an die Arbeit". "Wir müssen den Code der Surfnazis knacken. Sie benutzen Walfischfrequenzen, um rund um die Welt verstreute Polypenstöcke zu mobilisieren. Wenn sie Medusen abschnüren und flottierende Habitusformen bilden, ist die Welt verloren!" Lotte schwang sich aus der Hängematte, die in ihre Haut das Muster eines Rollschinkens gedrückt hatte. Dies war für alle das Zeichen für Lunch. Sie packten Spamdosen auf den Kombüsentisch, öffneten sie mit einem spitzen Haifischmesser und steckten jeweils einen offenen Drillingshaken hinein. Pedro knotete geschickt die Haken an ein 25er Silk und schmiß die ganze Ladung leeseitig in den gierigen Rachen der tiefblauen See. Nach nur wenigen Minuten spannte sich die Langleine und er hatte Mühe rechtzeitig die Multirolle zu drosseln. Das Silk schoß von der Rolle und durchschnitt mit einem sirenenartigen Pfeifen die Stille des Ozeans. Fernandez goß Bier über die quietschende Angelwinde, das zischend verdampfte. Ein mächtiger Barrakuda durchbrach die schaumgekrönte Dünung und schnellte gut zwei Meter in die Luft. "Der Teufel hat mindestens 70 Pfund", schnaubte Fernandez und spuckte einen tischtennisballgroßen Kautabakklumpen in die See. Hans schnappte sich eine Harpune und forderte Pedro energisch auf den Fisch auf backbord zu drillen. Fernandez ging den dünnen Armen des Jungen zur Hand, der im Wald seiner haarigen Brust zu versinken drohte. Mit einem gezielten Stoß rammte Hans den Speer knapp hinter dem Kiemendeckel in die Breitseite des Fisches. Die See verfärbte sich blutrot und eine rosa Gischt kräuselte sich im Fahrtwasser des Schiffes. Jacques hievte mit einem Enterhaken den erschöpft zappelnden Fischleib über die Reling. Sein gezahntes Tauchermesser glitt unter die weiße Bauchdecke und mit einem glatten Schnitt öffnete er die Gedärme. Eine braunschimmernde Gallertmasse rann über die Planken des Bootes und benetzte seine Hände. Ein ganz und gar bizarrer und vor allem erschreckender Anblick. Denn Jacques glich einem schleimigen Fluidum, das schillernd glänzte und wie ein Ölfilm in der Sonne seine Farben wechselte. Die Gallertmasse setzte sich aus tausenden fadenartigen Polypen zusammen, die nun jeden Quadratzentimeter seines Körpers umflossen und in seine Körperöffnungen drangen. Doch Jacques schien dies nicht zu stören, im Gegenteil. "Heureka!", rief er. Seine Stimme klang dumpf durch den Gallertpanzer, der ihn wie eine zweite Haut aus lebendem Getier einhüllte. Leviath, der ein solches Schauspiel nur aus der Fachliteratur kannte, holte seine Kamera und sein Diktiergerät. "Schwellung der Mesenterial- und Hilusdrüsen deutet auf ein Eindringen der Polypen in das Lymphsystem. Heftige Reaktion des Intestinum rectum. Aus dem Anus entleert sich eine dunkelbraune Flüssigkeit von zäher Konsistenz; reagiert an der Luft mit Sauerstoff und härtet zu traubenartigen Schaumblasen aus." Nach wenigen Minuten hatte Jacques den gesamten Schleim absorbiert und dank seiner guten Verdauung zu einem Meerschaumstuhl ausgeschieden. Lotte machte es sich auf diesem sogleich bequem und schnitt aus dem noch immer zitternden Fischleib für die gesamte Mannschaft dünne Filetscheiben für ihr vielgelobtes Barrakuda-Sushi. Besonders Jacques dankte es ihr mit einem gesunden Appetit. Für Leviath war der Vorfall mit dem Barrakuda ein Warnsignal. Er wußte, dass höchster Handlungsbedarf bestand und sie noch heute Nacht Swastika erreichen mußten. Wenigstens war er sich jetzt der Wirkung seines Molluskenserums gewiß. Kein Polyp konnte ihm oder seiner Mannschaft etwas anhaben. Es bestand noch berechtigte Hoffnung die Welt vom braunen Polypenschleim zu retten.

Leviath tippte hastig einen Aufruf an die Internetdelfine in sein Chatfenster. "Apocalypso an Delfi, wir benötigen dringend eure Hilfe. Formiert euch sternförmig um das Swastika-Atoll. Operation Submarine startet im Morgengrauen." Inzwischen hatte Lotte die Walfischfrequenzen der Surfnazis geknackt. Der österreichische Politiker war in Begleitung von Susi und Strolchi gekommen und hielt gerade einen Vortrag über Dr. Jörg Lanz von Liebenfels und seine ariosophische Tschandalentheorie, die die Größe des Penis indirekt proportional zur Höhe der Kultur in Verhältnis setzt. Das Überleben der Surfnazis auf Swastika würdigte er als eine Bestätigung der Lanzschen Kulturtheorie, deren zentrale These vom kurzen deutschen Schwanz ausgeht: Der Deutsche trägt seinen Schwanz deshalb kurz, da dieser ansonsten beim Marschieren bzw. beim Surfen nur im Weg ist. Die geschlechtslose Fortpflanzung der Surfnazis durch die onaniale Erfindung der Raketentechniker aus Peenemünde, die eine Teilung und Knospung durch Abhacken beliebiger Körperteile garantierte, pries er als revolutionär. Jede Feindeinwirkung würde die Armee der Surfnazis nur explosionsartig vergrößern. Lotte, die Schwänze in allen Größen und Formen liebte und gerade einen Bildband über die Morphologie des Phallus im berühmten Seefahrer Verlag Triton veröffentlicht hatte, stimmte der Vortrag des österreichischen Politikers wütend. Fernandez, Pedro, Jacques, Hans und auch Professor Leviath beruhigten Lotte, indem sie das Tschandalenlied intonierten, sich an den Hoden faßten und einen ausgelassenen Vogeltanz performierten. Von dieser Vorführung erheitert, machten sich alle wieder konzentriert an die Arbeit. Dunkle Wolken kündigten ein Sumatratief an, das über die Nikobaren Richtung Norden zog. Im Westen versank die Sonne als glühender Feuerball im Meer. Eine steife Brise kam auf und am Horizont zuckten Blitze. "Macht die Luken dicht", brüllte Fernandez, "ein Sturm zieht auf!" Pedro schloß die Schotten zwischen Maschinenraum und Kombüse und Leviath erläuterte Lotte die Navigation bei getrübten Sternenhimmel. "Um einen lichtschwachen Stern zu erkennen, mußt du von ihm wegsehen; blickst du ihn direkt an, verschwindet er. Das nennt man extrafoveales Sehen..." Lotte unterbrach ihn und las von ihrem GPS die genaue Position der Apocalypso ab. Leviath blickte verständnislos, denn obgleich Naturwissenschaftler verstand er sich als Philosoph. Er wollte gerade auf den blinden Fleck und Heinz von Foersters operative Erkenntnistheorie eingehen, doch Lotte, die in der Guerillaschule von "El Sub" Marcos ihre Ausbildung genossen hatte und zusammen mit Luther Blissett vor Jahren eine Co-Identität eingegangen war, entgegnete ihm mit Taktiken der Camouflage, des Sniping und Subvertising. "Angesichts der realpolitischen Situation befinden wir uns in einem Kommunikationskrieg Liebling, der nur durch gezielte "Chumbawamba"-Taktik zu gewinnen ist. Die proklamierte Volkskultur muß durch subversive Praktiken recodiert werden. Nur eine derartige Recodierung des Mainstream garantiert eine dauerhafte Destabilisierung der Macht und eine politische Aufklärung des Volkes." Jetzt mischte sich Hans in die Unterhaltung ein und berichtete über seine Erfahrungen als ehemaliger österreichischer Bundeskurator und seine Begegnung mit Fidel Castro. Pedro sammelte emsig alle Wörter, notierte sie in sein kleines rotes Notizbuch aus japanischem Reispapier, faltete die beschriebenen Seiten nach alter Seemannstradition zu flinken Nixen und setzte sie vorsichtig auf die Meeresoberfläche, wo sie quietschend und zappelnd in den schaumgelockten Wellen der andamanischen See verschwanden. Leviath rauchte sich einen dicken Joint an und begann in alten Erinnerungen zu schwelgen. Im Alter von fünfzehn Jahren begab er sich mit seinen Freunden Christopher und Timothy auf den legendären Hippie Trail. In Kabul wären sie beinahe von der Ruhr dahingerafft worden und seine Hepatitis plagt ihn seit Delhi bis heute. "Die Dinge sind nicht so einfach oder so kompliziert wie sie scheinen. Wir begriffen in Indien erstmals, dass wir in einer Umwelt leben, und wenn wir diese Umwelt wahrnehmen, dann erfinden wir diese auch. Wir durchlebten einen fundamentalen Perspektivenwechsel, der es uns erlaubte das Universum nicht als etwas Vorgegebenes, sondern als ein offenes Spektrum von Möglichkeiten zu betrachten. Von der Analyse des 'Was ist' kamen wir zur Synthese des 'Was könnte sein'. Christopher, der ein paar Jahre älter war und einige Semester Physik studiert hatte, erkannte, dass die Physik zum größten Teil die Wissenschaft des Notwendigen ist. Sie hat die grundlegenden Naturgesetze aufgedeckt und festgestellt, was angesichts dieser Gesetze richtig sein muß. Mir wurde dadurch klar, dass die Biologie die Wissenschaft des Möglichen ist. Ihr Gegenstand sind Vorgänge, die unter Voraussetzung der Gesetze möglich, aber nicht notwendig sind. Deshalb ist die Biologie viel schwieriger als die Physik, aber ihr Potential ist auch viel reichhaltiger, nicht nur für das Verständnis des Lebens und seiner Geschichte, sondern auch für die Erkenntnisse über das Universum und seine Zukunft." Lotte wurde unruhig und forderte realpolitische Aussagen. Im Gegensatz zu Leviath war sie eine semiotische Kriegerin und eine subversive Aktionistin. Sie glaubte an die Veränderung der Welt auf einer sozialen und symbolischen Ebene, wohingegen Leviath von einem biologisch determinierten Sozialverhalten ausging, das nur durch Anschläge auf das Genom zu ändern war. Jacques, ein alter Lacanianer versuchte vermittelnd einzugreifen und erinnerte an den borromäischen Knoten des Realen, Symbolischen und Imaginären. Pedro, der auf der Kadettenschule alle Knoten gründlich studiert hatte, schaute verdutzt auf und erkundigte sich nach Technik und Nutzen des borromäischen Knotens. Aber als Jacques gerade mit seinen Beschreibungen ansetzte, war Pedro bereits in einen gordischen Knoten verfangen, was Lotte schamlos ausnützte, indem sie ihn mit Nestle Tubenmilch klistierte.

Fernandez drosselte die Maschinen und rief mit bedeckter Stimme von der Brücke. "Land in Sicht." Wie geplant erreichten sie im Morgengrauen Swastika Island. Tillanchong und Camorta lagen hinter ihnen und vor ihnen erstreckte sich ein mächtiges Riff. Am dunklen Horizont zeichneten sich eine Silhouette von Kokospalmen ab. Das drohende Unwetter lag bleiern über dem Atoll und tauchte die Szene in eine dramatische Atmosphäre. Fernandez zückte sein Fernrohr mit Restlichtverstärker und installierte den Parabolspiegel seines Sennheiser Mikrofons, das er vom österreichischen Innenminister zur Rastafari-Fahndung auf Jamaika zur Verfügung gestellt bekommen hatte. Gründlich scannte er den Strand nach feindlichen Aktivitäten. Alles schien ruhig, aber plötzlich erspähte er Susi. Flink lief sie zur Lagune hinüber, und da der österreichische Politiker noch schlief, entledigte sie sich der wenigen Kleider, sprang in das kühle Naß und wusch sich ungeniert. Kaum war sie fertig, bellte Strolchi laut auf. Da wurde Susi aufmerksam und drehte sich um. Es war der österreichische Politiker, der schon so zeitig unterwegs war und sich furchtlos zu dem kläffenden Hund hinabbeugte, um ihm den Kopf zu kraulen. Doch Strolchi schnappte zu und biß ihm zärtlich in die Hoden, sodass der Politiker Mühe hatte, sich aus dem zupackenden Fang des Tieres zu befreien. "Was wollen S' schon so zeitig bei mir in der Lagune?", fragte Susi den Politiker, der seine speicheltriefenden Hoden im trockenen Sand panierte. "Mit Sie brauchst mich net anzureden, Dirndl, auch wenn ich dein Chef bin. Komm her und hilf mir!" "Ich bin es net gewohnt, dass schon knapp nach Sonnenaufgang einer daherkommt, der am End eine Bedienung erwartet", sagte sie ungnädig. "Eigentlich hab ich das net im Sinn gehabt, aber nachdem Strolchi mich geleckt hat, wärs wohl richtig, wenn du mir mein Schwänzlein reiben würdest. Oder meinst, dass ich damit zuviel verlang?" Susi errötete. Freilich, das konnte der Politiker wohl von ihr erwarten, und während sie aus der Lagune Polypengel fischte, begab er sich auf allen Vieren kriechend in eine bequeme Stellung. Strolchi beschnupperte ihn am Hintern und Susi setzte sich auf ihren Melkschemel und begann mit der Arbeit.

Für Leviath war dies die beste Gelegenheit die Operation Submarine zu starten. Schnell spritzte er Lotte zur Sicherheit noch eine Dosis seines Antipolypenserums, zog ihr den von Rudi Gernreich speziell für derartige Abenteuer entworfenen Pubikini an und verabschiedete sie mit einem saugenden Kuß in die wogende See. Die dunklen nassen Zungen der Wellen beleckten gierig ihren Körper und Flipper der kluge Delfin schulterte sie auf seinen Rücken auf dem er sie lautlos Richtung Küste spedierte. Unbemerkt von den an der Riffkante kreuzenden Surfnazis landete Lotte sicher auf Swastika, wo sie in Camouflage geübt an den Strand robbte. "Hallo Kleines!", sagte eine tiefe Stimme. "Zum Glück hast du den einzigen echten Mann auf der Insel getroffen, du schönes Nordlicht!" "Geh mir aus der Sonne, du kleiner Furz!", erwiderte Lotte. Der Muskelmann, der sein gelocktes Haar vorne kurz und hinten lang trug und unter dessen Boxernase ein ungepflegter Schnurrbart wucherte, hatte offenbar keine Lust mehr zu flirten. Er ließ lieber die Fäuste sprechen. Die Rechte des Hünen krachte auf Lottes Kinn. Die Kleine jaulte auf. Jetzt wurde es der "El Sub"-Agentin zu bunt, Tarnung hin oder her. Außerdem mußte sie den Kerl loswerden, wenn sie weitere Informationen suchen wollte. "Finger weg", sagte Lotte mit gefährlicher Ruhe. "Noch mal sage ich es nicht." "Oh, jetzt kriege ich aber einen steifen Schwanz!", höhnte der 200 Pfund Extropianer. Lotte antwortete nicht. Sie tänzelte einen Schritt zurück, nahm die Kampfstellung ein und setzte zum "Schattenlosen Kick" an - ein Tritt, der so schnell geführt wird, dass man ihn nicht kommen sieht. Der Bodybuilder wurde zurückgeschleudert, als wäre er gegen einen Bus gerannt. Sein Schädel platzte wie eine reife Melone. Zahllose Polypen verwandelten seinen Kopf in ein Medusenhaupt. Binnen Sekunden war das schöne Mädchen im braunen Polypenschleim gefangen. Die klebrige Gallertmasse härtete an der Luft spontan zu einem kokonarigen Glassarg aus, in dem Lotte wie Schneewittchen gefangen lag.

Der österreichische Politiker hielt gerade einen Vortrag über die Dekadenz der "Internetgeneration". Obgleich niemand wußte, was er damit meinte, begrüßten alle seine Forderung nach einem Propagandaministerium. Bill Gates wurde einstimmig als neuer Minister gewählt und sofort angelobt. "Bei ganz großen Wenden in der Geschichte der Völker ist die innere Haltung zum Lebensschicksal, in der Kunst, im Staatswesen und im weltanschaulichen Denken stets dieselbe. Es kann sich hierbei um Epochen eines großen Unterganges oder um Epochen eines großen Aufstieges handeln, immer ist die eine oder andere Erscheinung die Äußerung entweder eines fortschreitenden, allgemeinen inneren Zusammenbruchs oder einer willenhaften, allumfassenden Neugeburt. Unser Volk benötigt eine innere politische und biologische Stärke sowie aufrechte Künstler und Denker. Nur so können wir gegen die Verwirrungen der Zeit vorgehen, denn fünfzig Jahre Komplexität sind genug." Bevor er über den Willen zum harten Staat, der einstmals das römische Imperium geschaffen hatte und über den Fall des deutschen Volkes im Dreißigjährigen Krieg zu sprechen kam, ereilte das Auditorium die Botschaft über die Gefangennahme einer feindlichen Internetagentin. Lotte wurde in das Kongreßzentrum Walhalla gebracht, wo sie zwischen Fackeln tragenden Kandelabern vom österreichischen Politiker und seinen Begleitern als reale Vertreterin und als lebender Beweis für die niederträchtige Intriganz dieser von ihm angeprangerten Internetgeneration aufgebahrt wurde.

Für die Mannschaft der Apocalypso, die alles über Rastafari-Überwachung mitschnitt, bestand allerhöchste Alarmstufe. Pedro hißte die Che-Guevara-Flagge und die zu tausenden um das Atoll versammelten Delfine verspeisten alle Surfnazis, sodass das Schiff ohne Mühe das Riff überwinden und vor Swastika ankern konnte. Leviath forderte über das Bordmegaphon alle Bewohner der Insel auf sich kampflos zu ergeben. "Achtung, Achtung, hier spricht die Apocalypso! Ihr seid umstellt! Geht mit erhobenen Händen zum FKK-Strand und haltet eure Ärsche in die Sonne!" Susi, Strolchi und der österreichische Politiker kamen der Aufforderung Leviaths nur zögerlich nach. Immer wieder versuchten sie anstatt ihre Hintern gegen die Sonne zu strecken ihre Köpfe in den Sand zu stecken. Susis Beine strampelten grotesk aus dem verkehrt über ihren Kopf zusammengefallenen Dirndlkleid empor. "Euch Haderlumpen werd ich schon noch den Landler blasen!" mokierte sie, während Strolchi ihr mit langer Zunge den Schoß leckte und ihr anschließend ans Bein pinkelte. Hans und Jacques knackten mit einer Tiefseehummerschere den glasharten Kokon und befreiten Lotte. Angeekelt vom Polypenschleim nahm sie ein erfrischendes Bad im türkisblauen Meer. Bunte Fische umströmten ihren cremefarben gebräunten Körper auf dem die Sonne das Spiel der Wellen zeichnete. Rudi Gernreichs Tangakreation kam jetzt voll zur Geltung. Der österreichische Politiker glaubte nun endlich den wahren Wert hoher Kunst entdeckt zu haben und ergoß sich über den farblichen Kontrast des roten Höschens zur blauen See. Er lobte die kontextintensiven Eigenschaften und die Solidarität mit den Seesternen. Seine Ekstase kannte keine Grenzen. Ab nun wollte er unbedingt eine blau-rote Koalition. Er berauschte sich am Gedanken einer konservativen Kulturrevolution und lobte die suizidale Ideenkraft des Mythos, die in Zukunft alle großen Denker, Dichter und Künstler dahinraffen werde. "Eine neue Popkultur wird entstehen, die alle kulturellen Subsysteme überschreiten und eine neue völkische Dimension bilden wird!" Von seiner Rede völlig enthemmt, nahm er renitent seinen Hintern aus der Sonne, den von Susi in die Arme und sprang zu Lotte ins Meer. Zielstrebig kraulte er Richtung Apocalypso, bestieg die Brücke und rief, "Atlantis, Atlantis, ich komme!". Strolchi eilte den beiden hinterher und wurde ein unerwartetes Opfer seiner Treue, denn genau in dem Moment als er den Bug des Schiffes erreicht hatte und nach einem herabhängenden Tau faßte, verschwand er im Rachen eines riesigen Haifisches. Susi, von den sich überschlagenden Ereignissen sichtlich mitgenommen, übergab sich mehrmals und taufte das Schiff auf "Helena Blavatsky - Queen of Pop" um, bevor der Fisch das Boot am verschluckten Tau auf offene See zog.

Leviath war von den Manieren des österreichischen Politikers und seiner Begleiter völlig entsetzt und starrte fassungslos auf seine am Horizont mit einem Öltanker kollidierende ehemalige Apocalypso. Seine Polypentheorie mußte er nochmals gründlich überarbeiten. Der Polyphyletismus der Surfnazis barg noch eine biologische Hoffnung, aber die ariosophische Inzucht konnte nur als biologische, kulturelle und philosophische Entropie gewertet werden. Lotte machte es sich am weissen Korallensand bequem und spielte eine neue Cd der Anorchoband Chumbawamba in ihrem Discman. Jacques und Hans tanzten dazu Reggae und Prof. Leviath sang in sein Diktaphon...

DER KÜNSTLER ALS RECODER

Für die Arbeitsserie Der Künstler als Avatar wurden fiktive Subjekte entworfen, die als virtuelle "Texte" in realen Räumen agieren. Der Künstler informiert nicht Werke, sondern "programmiert" künstliche Künstler, die als Dämonen oder Agenten Handlungen performieren. Diese Praxis nimmt ironischen Bezug auf Funktion und Operationsweisen von intelligenten Agenten in elektronischen Netzwerken sowie auf Computerspiele, in denen Spielcharaktere entweder bestimmte Handlungen vorantreiben oder in Warteschleifen verharren. Das Künstlersubjekt gerinnt zu einer multiplen Persönlichkeit, in der sich unterschiedlichste Diskursfelder vermengen und aus der häretische Stimmen sprechen. Insofern versteht sich der künstliche Künstler als ein polyvalenter Text, der modellhaft Funktionen und Möglichkeiten des künstlerischen Subjekts im Kontext sozialer und technischer Dispositive erkundet. Das künstliche Subjekt kann dabei wie in den Arbeiten Der Künstler als Avatar ein aus realen Versatzstücken und Videomodulen gesampeltes Konstrukt oder wie in der Arbeit Tausch des Öffentlichen reiner Code sein, der als ein neuronales Netzprogramm an der Nahtstelle von privater Erinnerung und medialem Weltgeschehen agiert, indem er Nachrichtenmeldungen einer Presseagentur online rekontextualisiert und die Agenturmeldungen über Referenztexte (Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) "interpretiert" und sie permanent zu einem neuen Roman als Chronometer des Gesellschaftlichen recodiert.

AVATARIUM: RE-EVOLUTION (Der Künstler als Avatar #24, Performance, Kunsthalle Wien, Wien 2000)

In der Arbeitsserie "Der Künstler als Avatar" (Avatar=virtuelle Präsenz eines Users in einer Multiuser-Domain; urspr. im Hinduismus Bezeichnung für eine vom Himmel herabgestiegene Gottheit) videografiert eine im Inneren der Modelle montierte Überwachungskamera das Geschehen in und vor den Installationen. Der Blick auf den Monitor zeigt den Betrachter zusammen mit dem "Künstler", der mittels Computer als "Avatar" in das Videobild eingerechnet wird. Die Arbeitsserie Der Künstler als Avatar setzt sich aus 25 Installationen zusammen und ist Teil des Projektes Biophily. Die einzelnen Arbeiten verstehen sich als nonlineare Sequenzen bzw. installative Storyboards eines Films, der in Bollywood (Mumbais Filmindustrie) realisiert werden soll.

In der Arbeit RE-EVOLUTION: Der Künstler als Avatar #24, tauscht das technische Setting, indem der Künstler real anwesend ist und die Räume in die Bluebox eingeblendet werden. Sound- und Video-Module werden live gemischt und zusammen mit Textbausteinen, die re-codiert/re-writed "volkskulturelle" Erzählstrukturen und Mythen verarbeiten, performiert.

Thomas Feuerstein, Re-Evolution. In: Toni Kleinlercher (Hg.), Decodierung:Recodierung, Wien 2000, S. 156 ff.

avatarium mp3

avatarium: der künstler als avatar #24
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Avatarium