BIOPRALINEN

oder die ontogenetische Porträtkunst der Mikroben

Agar AgarMikroben wie Pilze und Bakterien bilden eine Art biologischer Aura, die entsprechend der Klimazone, der individuell-physischen Konstitution, dem beruflichen Kontext, dem ökologischen Zustand der Umwelt oder den hygienischen Standards einen Gradmesser für das zivilisatorische Setting von Kultur, beziehungsweise ihrem Verhältnis zu Natur und Technik darstellt. Lebenswelten charakterisieren sich in diesem Zusammenhang über haptische Interaktionsfelder, die von biotischen Mikrostrukturen geprägt sind, die uns wiederum tangieren und durchziehen. Einer medizinischen Statistik zu Folge setzt sich der menschliche Körper aus der zehnfachen Menge an Fremdorganismen gegenüber der Gesamtzahl körpereigener Zellen zusammen, die in Summe etwa zehn Prozent des Körpergewichts betragen. In einem Körper von achtzig Kilogramm Masse tummeln sich rund acht Kilogramm Mikroorganismen, die entweder dem Immunsystem erbitterte Schlachten liefern oder symbiotisch ein Überleben erst ermöglichen. Wir teilen mit Bakterien, Pilzen und Viren unseren Lebensraum im doppelten Sinn, indem diese einerseits omnipräsenter Bestandteil unserer biologischen Umwelt oder unseres Biotops und andererseits konstitutives Ingrediens unseres Körpers sind.

Biopralinen

Für Thomas Feuersteins Ausstellung "Biogreen" wurden von Herbert Fuchs fünfzig Personen, die im Café Corso verkehren, ausgewählt, in ihrem beruflichen Umfeld aufgesucht und um den Abdruck des rechten Daumens in den Agar-Nährgrund einer Petri-Schale gebeten. Der Daumenabdruck hinterließ mit den auf der Haut befindlichen Keimen ein biozönotisches Profil der jeweiligen Person, das nach wenigen Stunden für das freie Auge sichtbar ein individuelles Porträt zu "malen" begann. In Analogie zu Herbert Fuchs Pralinen-Projekten, bei denen Personen eines bestimmten sozialen oder künstlerischen Netzwerks porträtiert wurden, generierten sich "Biopralinen". Nach Entnahme der Fingerabdrücke wurden die fünfzig Petri-Schalen versiegelt und fünfzig Tasten einer Computertastatur zugeordnet. Das Resultat ist ein Tastaturbild, das wie jene ab 1994 entstandenen Arbeiten aus der Reihe Welt als Tastatur den taktilen Umgang mit Welt als metaphorisches Grundprinzip für alles Hacken in Welt und Programmieren von Welt begreift. Wie für alle früher projektierten Tastatur-Arbeiten gilt, dass unabhängig davon mit welchen Körperteilen, Sinnen oder Instrumenten wir Oberflächen abtasten oder scannen, die Berührung von Welt ein interaktives Forschen (in der etymologischen Verwandtschaft zu Furche) oder "Hacken" in Welt bedeutet. Die "Benutzeroberfläche Welt", über die uns Realität entgegentritt oder besser uns als User zur Verfügung steht, ist aber nicht nur das Feld von Forschung oder eines allgemeinen Wahrnehmungsinteresses, sie dient uns auch zur Programmierung und Konstruktion selbstinduzierter oder besser 'kontra-induzierter' (Feyerabend) Weltbilder. Welt stellt sich somit als eine Schnittstelle dar, über die sich mittels Hacken Empfindungen, Erfahrungen und Messergebnisse und über Programmierung Manipula-tionen und Encodierungen erzielen lassen. Einerseits präsentiert damit Welt als Tastatur den "wissenschaftlichen" Umgang mit Welt als ein pragmatisch-semiotisches Gefüge, das es ermöglicht auf dem "Keyboard Welt" zu spielen und neue Kombinationen und Rekombinationen herzustellen. Andererseits zeigt Welt als Tastatur in ihrer biologischen Konnotation auf, wie unser Körper selbst wiederum einer Tastatur entspricht, über die auf molekularer und genetischer Ebene Interaktionen und Recodierungen erfolgen, die, wie u.a. Lynn Margulis gezeigt hat, Veränderungen in Gewebe und Erbinformation, hervorgerufen durch Viren und Bakterien, auslösen. In diesem Sinne erfährt Welt als Tastatur in Bezug auf die Biopralinen eine biologische Kontextualisierung und Codierung. Das Tastaturbild der Biopralinen verweist auf die ontogenetische Potenz von Mikroben und deklariert physische Körperwelten gleichzeitig als semiotische und biologische Schnittstelle, über die wir Wahrnehmungs-, Sinn- und Körpergrenzen sowohl symbolisch, somatisch als auch virulogisch erfahren und erzeugen.

Café Corso

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