Thomas Feuerstein

Me, Myself and I: Das Selbst als Server*

In der scheinbaren Verworrenheit unserer rätselhaften Welt sind die Individuen so genau einem System und die Systeme wiederum ineinander und einem Ganzen eingepaßt, daß der Mensch, der einen Moment beiseitetritt, sich der entsetzlichen Gefahr aussetzt, seinen Platz auf immer zu verlieren.

Nathaniel Hawthorne, Wakefield

Von einem dämonischen Selbst-Experiment im Alltag morbider Banalität berichtet eine Erzählung des amerikanischen Romantikers Nathaniel Hawthorne. Eines Abends verabschiedet sich Wakefield, der Held der gleichnamigen Geschichte, von seiner Frau und verlässt das Haus, um eine Straße weiter eine kleine Wohnung zu beziehen. Ohne Ankündigung und beinahe unwillentlich vollzieht sich der Abgang in sein exzentrisches Exil. Nach gut zwanzig Jahren kehrt Wakefield, ebenso unvermittelt wie er gegangen war und ohne das Geheimnis seines Verschwindens selbst begriffen zu haben, wieder zurück. Das Beunruhigende dieser unspektakulären Entwicklung liegt im Verschwinden in eine Parallelwelt, die einen blinden Fleck innerhalb des geschäftigen Lebens darstellt. Wakefields Absenz entsteht durch eine minimale psychische und örtliche Parallelverschiebung, die ihn zu einer tragischen Figur, zum "Outcast of the Universe" werden lässt.

Wakefield unterscheidet sich von Modellen des dissidenten Scheiterns: Er ist kein Henry David Thoreau, kein passiver Verweigerer wie Melvilles Bartleby, kein "Dämon der Möglichkeit" wie Valerys Monsieur Teste und kein mysteriöser Fremder wie Hamsuns Johan Nagel. Er teilt eine unbestimmte Passivität mit all diesen Anti-Helden, aber sein Lächeln entspringt nicht der abstrakten Negation wie etwa bei Bartleby und dessen Formel "I would prefer not to", sondern einer grausamen Transgression. Der fatale Wandel vollzieht sich unbewusst und ohne Möglichkeit des Einspruchs. Wakefield befindet sich in einer teuflischen Warteschleife und steht unter dem Zwang der Wiederholung. Er spaziert täglich zu seinem Haus, beobachtet seine Frau, kann aber trotz seiner wachsenden Sehnsucht nach Rückkehr dem neurotischen Zwang nicht entrinnen.

Das derzeitige Gerede von Parallelgesellschaften antizipiert Hawthorne in der völlig anderen Dimension des paralysierten Selbst, das über die kleine Verrücktheit des Beiseitetretens aus allen Systemen fällt. Diese "entsetzliche Gefahr", "seinen Platz auf immer zu verlieren", ereignet sich in der psychischen Immanenz, die kein Außen zulässt und das Selbst unerbittlich in Rückkopplungsschleifen gefangen hält. Wird mit Parallelgesellschaft gemeinhin das Phänomen von "integrationsresistenten" Kulturen innerhalb der westlichen verstanden, verunsichert Hawthornes Parallel-Individuum mit einer symbolischen Abnabelung, die das Selbst sprach- und beziehungslos macht. War das 19. Jahrhundert von der Suche nach dem namenlosen Selbst bestimmt, das sagt, ich bin niemand, und sich verleugnet (wie der Königs- oder Vatermörder) mutiert diese psychische Misere im 20. Jahrhundert zu einer sozialen und im 21. Jahrhundert zu einer systemischen und aller Voraussicht nach in eine zukünftig maschinische.

Umso deutlicher den verschluckten Subjekten, die wie schwarze Sterne unsichtbar neben den funkelnden stehen, ihre Situation bewusst wird, desto verzweifelter beginnt die Selbst- und Sinnsuche um sich zu greifen. Die Lebensberatungsliteratur boomt, aber hier hilft kein "langer Lauf zu mir selbst", wie Joschka Fischer im Titel seines Buches glaubt. Wakefields Parallelisierung aktualisiert sich heute im subjektiven Gefühl, dass das gemeinschaftliche Leben im individuellen Kampf von Globalisierung und Kapitalismus keine Außengrenzen kennt und stattdessen vertrackte Grenzverwindungen des Gesellschaftlichen im Inneren des Selbst stattfinden. Wenn die Möglichkeit der Verweigerung, des Widerstands, der Subversion oder des Ausstiegs stirbt, gibt es nur die Exkludierung als Parallelisierung in Form einer Invisibilisierung innerhalb der Gemeinschaften und Systeme. Das Individuum, das etwa seinen Platz der Arbeit verliert oder von diesem überfordert und ausgebeutet wird, erfährt sich als Person paralysiert und parallelisiert; es steht neben der Gesellschaft und seinem Selbst, seinen Sehnsüchten und Lebenskonzepten. Das Dämonische von Kapitalismus und Globalisierungsmoderne liegt in der Ökonomisierung der Lebensstile, die das Individuum derart in eine endlose Schleife der Optimierung und Effizienzsteigerung verfängt, dass jedes Versagen der Systeme als persönliches Scheitern betrachtet werden muss. Wer sich den Konditionen globaler Marktwirtschaft entzieht, lebt gemäß dieser Logik keine Alternative, ist kein Aussteiger, kein Anarchist oder archaischer Träumer; er ist entweder wie Wakefield ein Verrückter im Irrsal seiner kleinen unbedeutenden Existenz oder Fundamentalist. Die (marxistische) Entfremdung hat sich in ein Befremden als Unzufriedenheit mit sich selbst gewandelt, indem sich die Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft in das Individuum verlagert. Das Regime des "Ego-Tunings", die "Pflicht zur Einzigartigkeit" und der Aufruf zur Eigenverantwortung werden zu Symptomen einer konformistischen Individualitätsdogmatik, welche die Differenzen von personaler und sozialer Identität einziehen. Im Unterschied zur Vorstellung eines globalen Selbst, dessen Zustand Psychologen mit dem Allmachtsgefühl "ozeanischer Entgrenzung" beschreiben würden, stellt das globalisierte Selbst das genaue Gegenteil davon dar, denn Globalisierung wird weniger als gesamtgesellschaftliches, vielmehr als persönliches Problem wahrgenommen. Fitness, Wellness oder Schönheitschirurgie sind nur die augenfälligsten narzisstischen Strategien dieser "Selbstkultur" und "Subjektzentrierung", die uns in einen narkotischen Kreislauf differenzloser Ich-Optimierung verstricken, um uns in den Netzen des Kapitals leistungsfähig und attraktiv zu erhalten. Das effiziente "neoliberale" Selbst bildet - überspitzt formuliert - für diese Netze das "kulturelle Kapital" (Pierre Bourdieu), in denen es als "lebende Münze" (Pierre Klossowski) das "Humankapital" (Gary Becker) der Systeme bildet.

Selbstbeschreibungen müssen sich gegenwärtig im prekären Zwiespalt von Gewissheitsverlust und Freiheitsgewinn innerhalb deregulierter sozialer und ökonomischer Bedingungen behaupten. Im Wesentlichen können hierfür drei Arten von Identitätspolitik beobachtet werden, die sich mitunter überschneiden: Erstens die hinlänglich diskutierte dualistische Identitätspolitik, die über konfliktreiche Wechselwirkungen zwischen Selbstidentifikation und exkludierender Fremdidentifikation nicht hinausreicht und unter deren Einfluss Subjekte fundamentalistisch regredieren. Zweitens die beschriebene monistische, bei der Individuen über Selbstoptimierungen zur Aushöhlung und Erschöpfung gelangen und am Ende der Ego-Konjunktur die völlige Demontage und Auflösung des Subjekts warten. Und drittens jene Position, die das Projekt der Aufklärung bis zur Abklärung weitertreibt und darauf setzt, dass sich Subjekte immer weiter und noch weiter entleeren und aushöhlen, damit so etwas wie "reine" Subjektivität hervortreten kann. Das heißt, erst wenn wir die Furcht überwinden, alle individuellen Eigenschaften an externe Systeme und intelligente Maschinen abzugeben und uns bis zur Selbstaufgabe entsubjektivieren, werden wir in der Lage sein, uns in der substanzlosen Leere der Subjektivität neu zu erfinden.

Ausgehend von der (foucaultschen) Vorstellung des Subjekts als trauriges Endprodukt von Abrichtungs- und Unterdrückungstechniken werden im Folgenden Fragen nach den Möglichkeiten eines sich selbst konstituierenden Subjekts am Beispiel der Kunst gestellt. Gibt es ein (systemisches) Selbst der Kunst, über das sich das psychische Selbst in seinem Selbstfinden, Selbsterfinden und Selbstbefinden beobachten und konstruieren lässt?

Das Selbst der Kunst

Das Modernwerden der Kunst geht mit ihrer Selbstwerdung einher. Kunst wird selbstreferentiell und autonom, indem sie nach Luhmann zu einem sich selbst bestimmenden, sich selbst hervorbringenden sowie an inneren Kohärenzen und Widersprüchen orientierten System wird. Kunst wird zu einem Parallel-Universum innerhalb des Gesellschaftlichen und erst diese Abgegrenztheit ermöglicht die Selbsterfahrung als Immanenzerfahrung. Nicht die Transzendenz eines Außen, wie es in der Kunstgeschichte zuvor etwa Götter, Mythen oder die Natur waren, sondern jene Elemente, aus denen Kunst in ihrer Beschränktheit besteht, produzieren ab nun die Elemente, aus denen Kunst sich zusammensetzt. Es resultiert die für selbstreferentiell-geschlossene Systeme spezifische Unendlichkeit der Selbstsetzungen, aus denen sich Autopoiesis konstruiert. Seitdem steht Kunst in einem Dialog mit sich selbst, der entweder eine "Verselbständigung gegenüber der Gesellschaft" (Adorno) oder eine "Verselbständigung in der Gesellschaft" (Luhmann) vorantreibt. Während zweitere über strukturelle Kopplungen Kommunikationen mit anderen Systemen in Aussicht stellt, begibt sich erstere in eine doppelte Immanenz, in der das System im System zum Programm gemacht wird. Psychisch wäre dies das Stadium des Autismus, künstlerisch jenes von L'art pour l'art.

Sobald Kunst erkennt, dass sich ihr Selbst in den ihr zugrunde liegenden Elementen findet, beginnt der Prozess der Analyse. Kunstwerke kondensieren in ihre Bestandteile, die, von äußeren Referenzen und Funktionszusammenhängen gereinigt, zu konstitutiven Elementen einer "reinen" Kunst werden. Sind es zunächst Fragen nach der reinen Farbe, Form und Materialität, die das abstrakte Selbst begründen, sind es später Medien und Kontexte der Hervorbringung und Präsentation von Kunst und schließlich der Künstler, sein Körper, seine Psyche und soziale Stellung, die als Konstitutionsfaktoren erkannt und zum elementaren Material werden. Diese Ankunft beim Künstler selbst markiert den Endpunkt des analytisch reinigenden Zerlegungsprozesses und gleichzeitig den Wendepunkt zu schmutzigen Hybridisierungen. Damit tritt die Wechselwirkung zwischen Kunst und Künstler in ein neues Stadium ein. Die Kunst ist nicht nur Medium des Künstlers und der Künstler ist nicht nur Medium der Kunst - wie die Legende des malenden Evangelisten Lukas oder allgemein der Mythos des besessenen Künstlers erzählt -, sondern es entsteht eine paradoxe schizophrene Situation als Schnittpunkt zwischen Bewusstsein und Kommunikation. Systemtheoretisch dürfte dies nicht sein, denn das psychische Selbst des Künstlers, das sich durch Bewusstsein, und das systemische der Kunst, das sich durch Kommunikation reproduziert, können nicht in einem gemeinsamen System aufgehen. Es benötigt immer Transfervehikel wie Symbole, Kunstwerke oder Sprache, um eine strukturelle Kopplung selbstreferentiell-geschlossener Systeme zu erzielen. Diesem Theorem folgend ist das Kunstwerk - in einer mechanistischen Metapher gesprochen - ein Transmissionsriemen und der Künstler sein Maschinist, der diesen ständig wartet, nachjustiert, verbessert und ölt, um eine optimale Übertragung seiner Selbstdarstellungen auf Betrieb und Markt zu gewährleisten.

Aber was geschieht, wenn das Bewusstsein nur in der Kommunikation existiert und der Künstler vergleichbar einem Maler, der seine Welten in Form von Bildern auf die Leinwand überträgt, nun Subjekte in die Figur des Künstlers projiziert. Das Subjektive wird dann nicht als Anschauungsobjekt vom Künstler in seiner Kunst repräsentiert, sondern das Subjekt entäußert sich als Projekt der Kunst. Der Künstler schafft sich Doubles, künstliche Künstler, die ihm die Bearbeitung von Subjektivität im Feld der Kommunikation ermöglichen. In dieser entäußerten Form glaubt Subjektivität weder an die euphemistische Ordnung des Subjektbegriffs noch an jene des Kunstbegriffs, denn Lacan paraphrasierend wird einsehbar, dass der Künstler lediglich ein Mensch ist, der sich selbst für einen künstlerischen Menschen hält und dessen Kunst lediglich ein Objekt ist, welches das Kunstsystem für ein künstlerisches Objekt hält. In diesem Sinn arbeitet eine derartige Kunst exzessiv an der Aushöhlung des Subjekts, um nach den Bedingungen des Systems zu fragen, innerhalb dessen sich Subjektivität manifestiert. Kunst wird zu einer Operation am Phantasma, bei der das Subjekt zwar gequält und seziert wird wie in der Medizin, in Rollen gepresst und versklavt wird wie in der Ökonomie, instrumentalisiert und ideologisiert wird wie in der Politik, aber nicht zum Zwecke der Unterwerfung und Optimierung, sondern der Entleerung. Aus dieser Leere erwächst eine Pluripotenz der Subjektivität, die dem Subjekt kontingente Selbstbeschreibungen zur Seite stellt oder wie Fernando Pessoa sagt: "Um erschaffen zu können, habe ich mich zerstört; so sehr habe ich mich in mir selbst veräußerlicht, daß ich in mir nicht anders als äußerlich existiere." Und Bernardo Soares, eines der zahlreichen von Pessoa erfundenen Heteronyme, legt hierfür die Methode fest: "Sich bewußt nicht kennen - das ist der Weg! Und sich gewissenhaft nicht kennen ist praktische Ironie."

Nicht Selbst- und Sinnsuche, sondern Selbstironie weist den Weg zu einer Selbstkultur, die auf die experimentelle Zucht von Identitäten abzielt und das Subjekt zum Nährmedium erklärt. Nicht die Identität zwischen Künstler und Werk, zwischen expressivem Gestus und Person, sondern die Differenz zählt, über die wir uns als Gespenst oder Monster erfahren. Menschen haben keine Identität, kein Subjekt oder Selbst an sich, sie müssen - jenseits clownesker Extravertiertheit - konstruieren, inszenieren, performieren, um sich in der Differenz selbst zu wählen. Und erst über die iterative Rückfütterung dieser Differenzen ereignet sich ein Akt selbstreferentieller Selbst-Setzung. Die Funktion der Kunst liegt hier einmal mehr in der Herstellung von Kontingenz, die über die Fiktionalisierung von Realitäten, harten Identitäten und kernigen Subjekten diese der Konfabulation überführt. Vermeintliche Fakten, Dogmen und Dualismen werden als Erzählweisen erfahrbar und das Selbst wird zu einer Geschichte unter vielen.

Lynn Hershman und ihre "zweite Identität" Roberta Breitmore, die ein eigenes Bankkonto eröffnete und regelmäßig ihren Psychiater aufsuchte, Peter Weibels Gruppenausstellung mit sechs fiktiven und sich in ihren Werken widersprechenden Künstlerpersönlichkeiten oder Monochroms Parade-Avantgardist Georg Paul Thomann, dessen umfangreicher Werkkatalog den treffenden Titel Wer erschoss Immanenz? trägt, sind Beispiele veräußerlichter Existenz, die in den jeweiligen Systemen reüssieren. Die Verunsicherung liegt dabei nicht in der Fiktionalisierung oder im Fake, sondern in der Dekonstruktion des Systems. Nur in ontologischen Kategorien gemessen, befinden sich gefälschte Geschichten und Biografien im Widerspruch mit dem Realen. Der Konflikt eskaliert in symbolischen und imaginären Ordnungen und dies gilt gleichermaßen für psychische als auch soziale Identitäten - wie etwa die ironische Inszenierung des virtuellen Königreichs Elgaland-Vargaland von Carl Michael von Hausswolff und Leif Elggren oder fiktive Staatenbildungen wie The State of NSK und SOS-State von Sabotage aufzeigen. Identitäten, die sich im Sinne Pessoas über die praktische Ironie "gewissenhaft nicht kennen", stellen selbstlegitimierte Instanzen in Frage und bedrohen die Macht. Keine noch so starke Souveränitätsproklamation und mächtige Identitätspolitik kann sich dieser Ironie entziehen, wenn unerwartete Alternativen und Möglichkeiten dem Fiktiven entwachsen und die selbst gewählte Geschichte parallel zum herrschenden Narrativ erzählt wird. Ironie ist zu einer fundamentalen Überlebensfrage geworden, Fundamentalismen ihren Glauben an Identität und sich selbst zu rauben.

Jene Identität, die dabei in der Kunst verletzt wird, liegt im Kurzschluss von Originalität und Subjektivität, Werk und Künstler. Dieser im Kunstverständnis verbreitete Fundamentalismus sieht im Subjektiven die Quelle des Authentischen und Genialen. Während der Kunstmarkt Künstleridentitäten als Marken organisiert, benötigt das bürgerliche Kunstgenießen einen Ersatz für den Verlust des souveränen Subjektbegriffs im Alltag. Die kompensatorische Sehnsucht nach authentischer Kunst, nach malenden Künstlern und gepinselten Werken ist die Suche nach einer verlorenen Welt in der Welt, denn die Autopoiesis der Systeme ist wenig tröstlich und offenbar ein schlechter Ersatz für die Poesie der Menschen. Parallel zur Ausrufung des 21. Jahrhunderts als Zeitalter der Respiritualisierung und Religion, könnte gemutmaßt werden, dass ein gewichtiger und kommerziell erfolgreicher Teil der Kunst weiterhin dem Subjektiven über Identitätsbekundungen huldigen und am Fortbestand der Illusion eines originären und genialen Selbst arbeiten wird.

Das Selbst des Menschen

Das Selbst ist außer sich und zum Gespenst geworden. Obgleich es durch alle Köpfe geistert, ist es dort nicht auffindbar und weder neurologisch zu lokalisieren noch moralisch zu retten. Bis heute wird die Vorstellung eines materialistischen Ich, dass Denken und Fühlen Funktionen des Gehirns sind, als obszön empfunden. Zu tröstlich erscheint der Dualismus zwischen unstofflichem Geist und stofflicher Natur, der uns über den Schmutz der Materie erhebt. Descartes' zweifelhafter Analogieschluss "ich denke, also bin ich", der das europäische Menschenbild prägte wie kein anderer Aphorismus und die Idee eines souveränen Ich als herrschaftlicher Sitz der Ratio, des freien Willens und der Seele in unsere Ganglien einbrannte, erfährt aber zunehmend eine monistische Korrektur. Aus dem Dualismus zwischen Körper und Geist resultiert neurobiologisch keine Ontologie des Selbst, keine Seele und kein Gottesbeweis, sondern eine nüchterne Diagnose: Die Trennung von Ich-Gefühl und Körper liegt medizinisch in einer Sauerstoffunterversorgung des Partialcortex, der uns einen ätherisch-schwebenden Geist suggeriert. Wenn Persönlichkeit als naturhaftes Ereignis definiert wird und das Ich Produkt seines Gehirns ist, wird der Mensch zum Tier. Der Tod wird zum unvermeidlichen Ärgernis, der nicht nur mit dem Finale des biologischen Lebens, sondern auch mit der Endlichkeit des immateriellen Bewusstseins und der "Seele" aufwartet.

Sobald sich das Bewusstsein als physiologischer Zustand erweist und sich das Denken offensichtlich mit den Organen entwickelt, endet das cartesianische Schisma zwischen determiniertem Fleisch und freiem Geist. Die Annahme eines materialistischen, monistischen Ich taucht unter verändertem Vorzeichen auf und La Mettries radikale Aufklärungspolemik erscheint in einem neuem Licht: "Da nun aber einmal alle Funktionen der Seele dermaßen von der entsprechenden Organisation des Gehirns und des gesamten Körpers abhängen, daß sie offensichtlich nichts anderes sind als diese Organisation selbst, haben wir es ganz klar mit einer Maschine zu tun." Nach La Mettrie, der sich gegen den Glauben an ein souveränes Ich und somit gegen jede Form des moralischen Verhaltens wandte, ist Seele "nur ein leeres Wort, von dem man keinerlei inhaltliche Vorstellung hat". Ethik und Religion werden durch eine Relativität der Werte ersetzt, aus der eine für das 18. Jahrhundert skandalöse Zukunftsvision des aufgeklärten, anarchisch-demokratischen Subjekts resultiert, das seine Normen selbst setzt und nicht von einer höheren Instanz empfängt.

Aus der unbehaglichen Konsequenz des Materialismus stellt sich mit Deleuze die Frage: "Wie ist ein freier Akt des kausalen Netzwerkes materieller Interdependenzen möglich?" Bereits für David Hume war das einheitliche Ich eine Täuschung und entsprach mehr einem fluktuierenden Etwas - einem emotionalen Auf und Ab, einer Hausse und Baisse von Empfindungen. In Vorwegnahme des Libin-Tests fühlen sich nach Hume Menschen frei, wenn sie das tun können, was sie zuvor wollten, oder mit dem Neurobiologen Michael Gazzaniga gesprochen, ist unser bewusstes Ich "die letzte Instanz, die erfährt, was in uns wirklich los ist". Das Ich korreliert und bündelt bei Hume verschiedene Ich-Formen (heute sprechen Psychologen und Neurowissenschafter vom Körper-Ich, Verortungs-Ich, Kontroll-Ich, autobiografischen Ich, selbstreflexiven Ich etc.), lokalisiert aber nicht Urheberschaft in einer zentralen Steuereinheit. Das Ich als Grundkonstante des abendländischen Denkens, das mit dem Sitz der Ratio, des Willens und der Seele verbunden war, verflüchtigt sich. Das Ich wandelt sich in einen Server vielfältiger "Streams" von Ich-Empfindungen, die über Synchronisationen ein "virtuelles cortikales Netz" (Gerhard Roth) bilden. Die virtuelle Konsistenz des Selbst fungiert folglich als Scheininstanz, als Entität ohne substantielle Dichte und harten Kern; ein Oberflächeneffekt, hinter dem sich nichts als das Netzwerk einer selbstlosen Maschine befindet.

Das Selbst ist ein Server, in dem sich Werte, Konditionierungen, Normen, Diskurse, Ideologien etc. "einloggen". Insofern unterliegt das Selbst kulturellen Strömungen der Konjunktur und Depression. Mit steigender Komplexität von Gesellschaften nimmt die Bedeutung des Selbst zu, um sich als sozialer Knoten innerhalb von Beziehungsnetzen zu begreifen. Als Kultur- und Psychotechnologie gehorcht das Selbst einer Doppelstruktur, die über die Verschaltung und Integration von Hirnregionen - etwa des limbischen Systems mit dem Neokortex – sprichwörtlich hinausgeht: über den Kognitionsraum in unseren Mesokosmos hinaus, um reziprok unsere persönliche und soziale Befindlichkeit stabilisierend zu koordinieren. Einerseits funktioniert das Selbst als Server im eigentlichen Sinne von Ministrant und Diener, als Subjekt im Sinne von "subjicere" (sich unterwerfen). Andererseits operiert das Selbst als "emanzipatorischer" Imperativ, um sich zu individualisieren, zu separieren, als Entität zu begreifen, der eigenen Befindlichkeit und dem Bedürfnis der Selbsterhaltung entsprechend zu manifestieren, gegen das Dogma zu verstoßen oder delinquent oder terroristisch gegen einen Gesellschaftsvertrag und das Gemeine vorzugehen. Im Selbst tobt der Kampf zwischen Anpassung und Revolution, zwischen Individualität und Sozietät.

Das Selbst vermittelt zwischen den verschiedenen Ich-Formen sowie zwischen System und Umwelt und übernimmt im Wesentlichen die Funktion eines Zuschreibungskonzeptes von Erfahrungen, Wirklichkeiten und Erlebniswelten. Es sorgt für Korrelationen und Plausibilität, indem Störungen korrigiert werden, bis ein gangbarer Weg und ein subjektiv befriedigendes Verstehen und Handeln möglich ist. Dieses "egomorphe" Verhalten des Anpassens verläuft zum Teil unbewusst, aber auch sprachlich, da wir all unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und insbesondere auch vor anderen "logisch" rechtfertigen müssen. Durch diesen Zwang zur sprachlichen Rechtfertigung vor uns selbst und unseren Mitmenschen neigen wir zu abenteuerlichen Interpretationen und Adaptionen bis hin zur Ausblendung des Offensichtlichen. "Die Sprache wurde erfunden", konstatiert Daniel Dennett, "damit die Menschen ihre Gedanken voreinander" - und auch vor sich selbst - "verbergen können". Wir sind "Post-Subjekte", die im Nachhinein das, was unsere Umwelt - und damit wiederum wir selbst - als unser Selbst wahrnimmt, zurechtrücken. Deswegen erfinden wir unentwegt und obsessiv Geschichten und müssen konfabulieren.

Aber entspringt nicht gerade der Tatsache, dass Menschen auf kein einheitliches Selbst reduziert werden können und sie ihre Identität aus einer Fülle von Eigenschaften "samplen", das emergente Prinzip einer uns selbst (und die anderen) überraschenden Subjektivität? Findet sich nicht genau hier die Möglichkeit, dem zompiehaften Determinismus des Mit-sich-selbst-ident-Seins zu entrinnen und über das Ich als epiphänomenales Produkt unbewusster Hirnprozesse hinauszugehen? Wenn das Ich ein Zuschreibungskonzept darstellt, um Erfahrungen, Wirklichkeiten und Erlebniswelten zu korrelieren und für Plausibilität zu sorgen, sollte dann dieses Ich nicht Vehikel schaffen, die der aktiven Verdrängung eine aktive Performierung entgegensetzen? Wäre Kunst das geeignete Vehikel einer produktiven Konfabulation, die zwischen Fakten und Fiktionen interveniert und uns über konzeptuelle Narrationen aus den (fundamentalistischen) Narrativen der (kulturellen) Verdrängung befreit?

Das Selbst als Vehikel

In Zeiten, in denen die Identität des Subjekts ungesichert erscheint, braucht es Übergangssubjekte. In Anlehnung an das Übergangsobjekt (Winnicott), mittels dessen das Kind sein Selbst aus der amorphen Welt schält und die Grenze zwischen System und Umwelt konstruiert, spricht August Ruhs vom Übergangssubjekt, das eine Stellung zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Teddybär und Mensch einnimmt. Engel, Götter, Avatare, Geister, Androide, Intelligente Agenten sind derartige Vehikel, die dem Menschen seine Ichhaftigkeit im Double spiegeln. Da Doppelgänger uns gleichzeitig repräsentieren und entfremden, verknüpft sie Freud mit Narzissmus und dem Phänomen des Unheimlichen. Darauf aufbauend liegt für Lacan die Natur der Subjektivität in einem grundsätzlichen Entfremdungsaspekt, im Schrecken der Erkenntnis, dass wir eingebildet sind. Und zur Einbildung des Selbst benötigen wir das "Imaginäre" beziehungsweise Medien, weshalb soziale Identitätsbildungen im Rahmen von Individualisierung und Mediatisierung verlaufen.

Während das cartesianische, tautologische Subjekt mit einer Immobilie vergleichbar war (Ich und Seele wohnen in Subjektehe im gemeinsamen Geist), ist das Selbst nun ein Mobile oder Vehikel, das sich zwischen zahlreichen Wechselwirkungen vermittelnd zu einer Struktur der Selbstbeziehung herausbildet. Wir begreifen uns zunehmend selbst als Übergangssubjekte, die historisch zwischen Tradition und Moderne, medizinisch zwischen Mensch und Cyborg, intellektuell zwischen Ideologie und Wahnsinn angesiedelt sind. Glaubte die Kritische Theorie an die Möglichkeit von Subjektivität als Selbstkontrolle, die dem Subjekt der Moderne als aufgerüstete Selbstoptimierungs- und Selbstenthemmungs-Maschine Einhalt zu gebieten habe, können wir uns dem Eindruck nicht entziehen, dass Subjektivität längst zum Objekt des demiurgischen Begehrens nach Hervorbringung des Selbst jenseits der natürlich verfassten Ordnung geworden ist. Sowohl auf psychischer als auch auf der realen Ebene des Biologisch-Technischen verwischen die Grenzen zwischen Teddybär, Tamagotchi und der wilden Entität aus Fleisch und Blut. Aus diesen Identitätsverwischungen führt kein Ausweg und hilft keine noch so engagierte Selbstsuche. Es bleibt nur die Selbsterfindung und "Verbrüderung" mit den Übergangssubjekten sowie die spekulative Erwartung, dass, nachdem wir uns als Subjekte abgeschrieben haben, Subjektivität zwischen uns, den Singularitäten auftaucht. Darin schlummert die romantische Vorstellung der Deutschen Idealisten von der "transzendentalen Spontaneität", aus der eine Emergenz des Subjektiven hervorbricht, die uns ein freies und autonomes Handeln - zumindest als Übergangs- oder "Zwischensubjekte" - gewährt.

Was der Kunst bleibt, ist die Schaffung von Übergängen, Vehikeln und Schnittstellen. Eine Kunst, die sich ständig selbst erfinden muss, unterliegt wie alles andere einem kontinuierlichen Wandel. Sie befindet sich in einem "uferlosen" Übergang zu sich selbst, aber auch zu parallelen Systemen. Über die wechselwirkende Einbeziehung und Unterwanderung kunstexterner Gebiete wird Kunst zu einem Diskurs-, Symbol- und Material-Attraktor, der auf Übergänge und Mischungen, auf Import und Export setzt.

Was dem Künstler bleibt, ist die Schaffung von "Übergangssubjekten", die zwischen den symbolischen Ordnungen operieren, etwa im Übergang zum Journalismus, zur Soziologie oder zu den Naturwissenschaften. Im Mittelpunkt dieser Übergänge stehen abseits narzisstischer und hedonistischer Kategorien Fragen des Selbstbefindens beziehungsweise Fragen der Befindlichkeit des Menschen in seinen Systemen. Subjektivität ereignet sich in diesem Sinn zwischen den Systemen und den individuellen Interessen und zielt im Gegensatz zu einer dandyhaften Egozentrik und individuellen Weltflucht auf das Gemeinsame. Subjektivität wird zu einem politischen Begriff: Das Selbst mündet im Politischen, im Übergang zur Polis der Menschen, der Dinge und Ideen, oder es ist für sich selbst verloren.

Erstabdruck: Thomas Feuerstein, "Me, Myself and I: Das Selbst als Server", in: Kunstforum International, Bd. 181/2006: Die Kunst der Selbstdarstellung, S. 80-87.

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